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von Mia Nägeli, 22.10.2015

"Der Film hat mich Dankbarkeit gelehrt"

"Der Film ist ziemlich realitätsnah gehalten, und kann so andere Perspektiven vermitteln. Und wenn man lernt, Menschen zu verstehen, kann man ihnen anders begegnen." | © zVg/ filmstill

Die Mutter des 20-jährigen Filmemachers Jann Kessler leidet seit fünfzehn Jahren an multipler Sklerose (MS). Nach dem er die Auseinandersetzung mit der Krankheit lange vermieden hat, versuchte er im Rahmen eines Dokumentarfilmes seine Erfahrungen zu verarbeiten. Aus der ursprünglichen Maturaarbeit ist nun ein Kinofilm geworden – thurgaukultur.ch hat mit dem jungen Filmemacher über den Prozess gesprochen.

David Nägeli

 

Der Trailer zu "Multiple Schicksale" (Quelle: YouTube)

 

Jann, am Donnerstag feiert dein Film «Multiple Schicksale» Premiere im Cinema Luna. Wie sieht deine Woche aus?


Ich gebe viele Interviews und momentan bin ich nachts noch bis um 3 Uhr vor dem Computer und beantworte E-Mails. Und was man unter "rollstuhlgängig" versteht, heisst nicht bei allen Kinos dasselbe – teilweise gehe ich selbst vorbei und sehe nach, dass alles gut funktioniert. Ich schlafe nicht viel diese Tage.

Du hast für den Film keinen Produzenten gesucht, sondern sehr viel in Eigenregie gearbeitet.


Ich finde es sehr spannend, an allen Facetten des Films beteiligt zu sein und auch diese Ebenen näher kennenzulernen. Wenn man vieles selbst in der Hand hat, ist das einerseits eine Riesenchance, andererseits setzt mich das auch ein wenig unter Druck.

Hat das funktioniert?


Ich würde es heute nicht anders machen, höchstens einzelne, kleine Arbeiten abgeben. Und vielleicht etwas mehr Schlafen. Wenn ich an einem Projekt arbeite, will ich es perfekt machen, und das kostet viel Arbeit. Da muss dann auch das Sozialleben ein wenig leiden.

«Multiple Schicksale» war ursprünglich deine Maturaarbeit. Wie kam's zur Entscheidung, daraus einen Kino-Film zu entwickeln?


Ambitionen, aus dem Film mehr als die Maturaarbeit zu machen, hatte ich vor der Präsentation der Arbeit im Cinema Luna keine. Diese hatte mich vollkommen überwältigt: An dem Abend im letzten November standen rund 150 Menschen vor dem Kino.

Jann Kessler mit einer Protagonistin des Films. (Bild: zVg)

 

Also waren die Rückmeldungen fürs Weitermachen verantwortlich?


Ja, sicher. Irgendwann fehlt einem die Distanz, um das eigene Schaffen zu beurteilen, da hat das Feedback geholfen. So habe ich bemerkt, dass der Film tatsächlich eine Chance hat, Menschen zu berühren und ihnen helfen kann, anders über MS nachzudenken.

Wie schafft das der Film?


Der Film ist ziemlich realitätsnah gehalten, und kann so andere Perspektiven vermitteln. Und wenn man lernt, Menschen zu verstehen, kann man ihnen anders begegnen. Auch wenn ich mir nicht anmassen würde, das vom Film zu behaupten.

Hat die Arbeit auch deinen Umgang mit der Krankheit verändert?


Damals stand für mich das Suchen meiner Geschichte und einem guten Umgang mit meiner Mama im Vordergrund – auch jugendliches Selbstfinden vielleicht.

Was hast du auf dieser Suche gefunden?


Der Umgang mit Mama und ihrer Situation war heftig für mich. MS wirkt sich bei allen Menschen vollkommen verschieden aus, aber gerade Persönlichkeitsveränderungen sind etwas vom schwierigsten für das Umfeld. Ich konnte damit nicht gut umgehen und habe selbst einige Mauern zwischen uns aufgebaut. Mit Hilfe der Arbeit am Film konnte ich die Dankbarkeit ihr und sehr vielem anderen gegenüber wieder neu entdecken.

Wie sah der Umgang mit den anderen Darstellern aus?


Mit vielen ist eine enge Freundschaft entstanden. Ich bin auch ihnen sehr dankbar für das grosse Vertrauen und ihre Ehrlichkeit. Sie haben sich getraut über Dinge zu sprechen, über die sie mit ihren Familien vorhin noch nicht gesprochen haben. Die ganze Arbeit am Film hat vielen Beteiligten beim Bewältigen der Krankheit geholfen.

Spürt das der Zuseher?


Das spiegelt sich sicher im Film. Viele Werke, die mich in Bann ziehen, basieren auf Selbstreflexion. Nur wenn du dich von etwas betroffen fühlen kannst, kannst du es auch künstlerisch verarbeiten. Im Film findet man neben der Geschichte der Protagonisten und meiner Mama auch mein Suchen und mein Reisen – und auch die Geschichte von Hesses «Siddharta», den ich meiner Mutter vorgelesen habe.

Hat sich im Schnitt von der Maturaarbeit zum Kinofilm noch einiges verändert?


Wir haben alles nochmals gesichtet und frisch geschnitten. Viele etwas lose Handlungsfäden wurden zusammengesponnen. Der Film verlangt dem Zuschauer immer noch einiges ab, aber ich glaube, wir haben es geschafft, ihn etwas zugänglicher zu machen.

 

Für die Überarbeitung der Maturaarbeit zum fertigen Film hast du auch mit erfahrenen Dok-Filmern zusammengearbeitet.


Dieter Fahrer, ein Berner Filmemacher, hat mich bei der Arbeit unterstützt. Ihm liegt es sehr am Herzen, dass man ein enges Vertrauen zu den Akteuren aufbaut. Seine sensible und präzise Art der Dokumentation habe ich auch bei meiner Arbeit bedacht. Und Martin Witz ein Zürcher Dramaturge, der sich auf Dokumentation spezialisiert hat, hat mich beim Schnitt beraten. Und natürlich haben mich meine Freunde von Revolta unterstützt.

Du bist mit Revolta Teil eines Musik- und Film-Kollektivs – was genau tut ihr da?


Wir sind einige Freunde, die gemeinsam unsere Ausrüstung zusammengelegt haben, um Musik und Film zu produzieren. Wir verstehen uns aber mehr als Künstlerkollektiv, denn als Produktionsstudio, und wollen hauptsächlich mit jungen Künstlerinnen und Künstlern zusammenarbeiten. Momentan steckt alles noch in unseren Kellern. Aber wer weiss, vielleicht kann man mit anderen Kulturschaffenden zusammenarbeiten und etwas grösseres in der freiwerdenden Kaserne planen?

Und wie steht es um dein weiteres Filmschaffen – bestehen bereits Pläne?


Ich will abwarten, wie der Filmstart abläuft und erst danach weitersehen. Ich habe bemerkt, dass ich mit dem Medium Film am besten und intensivsten mitteilen kann. Aber ich will auch versuchen mich weiterzuentwickeln. Vielleicht werde ich nächstes Jahr aber auch Elektro-Technik studieren, das steht alles noch offen.

 

Das Cinema Luna zeigt «Multiple Schicksale» wie folgt:

 

Fr, 23.10. 17:30 Uhr: Vorstellung
Fr, 23.10. 20:00 Uhr: Vorstellung

Sa, 24.10. 15:30 Uhr: Vorstellung
Sa, 24.10. 17:30 Uhr: Vorstellung
Sa, 24.10. 20:00 Uhr: Vorstellung

So, 25.10. 15:30 Uhr: Vorstellung
So, 25.10. 17:30 Uhr: Vorstellung
So, 25.10. 20:00 Uhr: Vorstellung

Mo, 26.10. 20:00 Uhr: Vorstellung
Di, 27.10. 20:00 Uhr: Vorstellung
Mi, 28.10. 20:00 Uhr: Vorstellung

 

 

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