14.06.2017
Die Faszination des Unperfekten
Seit Februar lebt und arbeitet die Thurgauer Künstlerin Sarah Hugentobler in Belgrad. Das Atelierstipendium der Kulturstiftung ermöglicht ihr das. Jetzt schreibt sie über ihre Erlebnisse. Für thurgaukultur.ch berichtet sie in den kommenden Wochen regelmässig aus Serbien
Von Sarah Hugentobler
Die Halbzeit ist schon rum, ich bin nun knapp vier Monate hier in Belgrad. Meine Freunde fragen mich; und wie ist es denn so?
Noch fehlt mir der Abstand, ich bin einfach da und es ist wie es ist. Das Reflektieren wird später kommen, wenn ich zurück bin. Wahrscheinlich reflektiert man in der Fremde über sein Leben in der Heimat und in der Heimat über das Leben in der Fremde. Aber das Vergleichen geschieht automatisch.
Ich sage nicht, wie hoch mein Stipendium ist
Das Unfertige und Improvisierte fällt mir ins Auge. Die Leute gehen locker damit um, wenn das Tram mal irgendwo auf einem Nebengleis nicht mehr weiterfährt. Der Bus-Chauffeur hält mal eben kurz am Strassenrand, um sich eine Cola zu kaufen. Man teilt sich das Trottoir mit vielen Handwerkern, die überall Fassaden renovieren. Für mich ist alles sehr günstig, aber die Leute müssen schauen, wie sie über die Runden kommen. Ich leiste mir Coiffeur und Restaurantbesuche und sage nicht, wie hoch mein Stipendium ist.
Mich fasziniert das Unperfekte, während die Leute den Schweizer Standard rühmen. Wir Schweizer seien so altmodisch, meinte jemand, als ich stolz eine Plastiktischdecke mit Blumenmuster zeigte, die ich als Videohintergrund benutzen möchte. Ich kann nicht viel essen und trinken, wie ich auf der „Rakijada", der Schnapsolympiade in Pranjani, Zentralserbien erfahren musste. Die Reise dorthin war sicher mein intensivster Ausflug in die serbische Kultur. Ich durfte Nikola Ilic, einen serbisch-schweizerischen Regisseur, begleiten, der über das Dorf und ihre Rakijada einen Dokumentarfilm gedreht hat. An der diesjährigen Olympiade präsentierte er erstmals den Dorfbewohnern seinen Film und ich konnte die Protagonisten, mir schon aus dem Film bekannt, kennenlernen. Und musste als Schweizer Gast im Team der letztjährigen Champions das Wetttrinken antreten...
Einblicke in eine serbische Schnapsolymiade
In Belgrad beobachte ich auf Streifzügen durch die Strassen den Alltag. Ich habe viel Raum zum Lesen, Arbeiten, Denken und Planen von neuen Projekten. Ich geniesse die Zeit sehr, die ich hier zur Verfügung habe. Der Abstand zu meinem Leben in der Schweiz tut mir gut und beschert mir neue Blickwinkel. Es ist ein Privileg, eine solche Auszeit zu bekommen und ich bin sehr dankbar dafür!
Weiterlesen:
Sarah Hugentobler wird in den nächsten Wochen regelmässig für thurgaukultur.ch in einem eigenen Foto-Blog über ihre Zeit in Belgrad berichten
"Auf dem Weg nach oben": Ein Porträt über Sarah Hugentobler können Sie hier lesen: http://www.thurgaukultur.ch/magazin/2972/
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