von Judith Schuck, 12.09.2022
Die Aussenseiter im Spiegel
Das Kunstmuseums Thurgau beauftragte einen international bekannten Regisseur einen Film zum Thema Aussenseiterkunst zu realisieren. Ergebnis ist „Das Narrenschiff“ von Javier Téllez. (Lesezeit:ca. 5 Min.)
Zwischen Romanshorn und Friedrichshafen, dort, wo der Bodensee am breitesten ist und manchmal Meer zu sein scheint, fährt das Narrenschiff. Auf der mittelalterlichen Lädine, einem Lastensegler, reisen 13 Personen in Narrenkostümen oder mittelalterlicher Kleidung sowie ein Lautenspieler. Es ist vollkommen ruhig, die Wasseroberfläche grau und glatt, die Stimmung von mystischer Melancholie. Wir befinden uns am Anfang von Javier Téllez Film „Das Narrenschiff“, einer vom Kunstmuseum Thurgau in Auftrag gegebenen Produktion, die am 4. September in Ittingen Vernissage feierte.
Die mittelalterlichen Narren sind ausgestattet mit Spiegeln und Masken. Durch das Tragen der Maske, lateinisch Persona, wirst du jemand anderes. Der Spiegel konfrontiert dich mit dir selbst oder deinen vielen Ichs, mit deinen Rollen, die du als Mitglied einer Gesellschaft spielst. Die Texte, die die Schauspieler:innen auf dem Boot verlesen, stammen von ihnen selbst. Sie alle weisen Psychiatrieerfahrung auf, ein Auswahlkriterium für das Mitwirken am Film. Während sie lesen, filmt die Kamera über ihre Schulter ihr Spiegelbild.
Gesichter, Masken, Persona
Für die aufwendigen Wachsmasken lud der Regisseur die Schwyzer Maskenbildnerin Verena Steiger ein. Unter ihrer Anleitung gestalteten die Schauspieler:innen jeweils ihre eigenen Masken. Mit der Vielschichtigkeit der Persönlichkeit beschäftigt sich der Film noch an anderer Stelle: beim Schachspiel mit und ohne Maske. Das Pokerface, das den Gegenüber zu täuschen sucht. Lautenspieler Johannes Ötzbrugger begleitete das Gesprochene und Gesungene.
Zur Crew stiess der Thurgauer Filmemacher Till Schneider, der mit düsteren, mystischen Stimmungen bestens vertraut ist, wirkte er doch erst im Sommer bei Micha Stuhlmanns Mysterienspiel Chronik eines Aussterbens mit.
Während der Luftaufnahmen von der mit Menschen beladenen Lädine werden Textstellen von Michel Foucaults „Narrenschiff“ aus seinem Buch „Wahnsinn und Gesellschaft“ gelesen. In dem 1961 erschienen Band untersucht er die Geschichte der Psychiatrie vom Mittelalter bis in die Moderne. Das Narrenschiff widmet sich dem Blick auf das Aussensseitertum. „Jeder ist auf dem Wasser seinem eigenen Schicksal anvertraut, möglicherweise ist es die letzte Fahrt. Die Reise des Irren ist eine rigorose Trennung, eingeschlossen im Boot, aus dem es kein Entrinnen gibt. Der Passagier par excellence.“ Die Paradoxie totaler Freiheit und vollkommenen Gefangenseins zugleich.
"Die Reise des Irren ist eine rigorose Trennung, eingeschlossen im Boot, aus dem es kein Entrinnen gibt."
Michel Foucault
Kuratorin Stefanie Hoch erklärt das Phänomen bei einer Pressekonferenz im Kunstmuseum Thurgau. Mit Hilfe der sogenannten Narrenschiffe hätten die mittelalterlichen Städte wohl versucht, ihre Irren loszuwerden. 1494 erschien das Buch „Das Narrenschiff“ des Baslers Sebastian Brant, eine Moralsatire. „In Brants Buch sind verschiedene Typen von Narren dargestellt“, sagt Hoch, „dumme, kluge oder Menschen, die nicht der Moral entsprechen.“ Es sind die Aussenseiter, die die Gesellschaftsnormen stören und darum weggeschafft werden sollen.
Im Rahmen des Themenschwerpunkts „Aussenseiterkunst“ lud Museumsdirektor Markus Landert den international renommierten Regisseur Javier Téllez ein, einen Film im Thurgau zu realisieren. Téllez wuchs in einer Psychiaterfamilie in Venezuela auf. Er sagt, als Kind habe er beim Karneval einmal gesehen, wie die Patienten die Uniformen der Ärzte trugen. Dieser Rollentausch der verkehrten Welt, der dem Karneval innewohnt, habe ihn von da ab beschäftigt. „Warum hat die Gesellschaft diese Rollen fixiert? Ich denke, der Karneval ist ein Werkzeug, diese Fixierungen zu lösen.“ Mit dem Thema Narrenschiff setzte er sich bereits früher auseinander. 1997 zum Beispiel in einer Ausstellung in Caracas mit dem Titel "La nave de los locos".
Foucault und Binswanger in Münsterlingen
1954 besuchte der Französische Philosoph Michel Foucault den Psychiater Ludwig Binswanger in der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen, um ihm beim Vorwort seines Aufsatzes „Traum und Existenz“ behilflich zu sein. Dabei erlebte Foucault den hiesigen Fasnachtsbrauch mit, der ihn nachhaltig beeindruckte.
In Auseinandersetzung mit Brants „Das Narrenschiff“ sowie dem wahrscheinlich darauf basierenden gleichnamigen Werk des niederländischen Künstlers Hieronymus Bosch, das zwischen 1490 und 1510 entstand und im Louvre ausgestellt ist, beschäftigte Foucault sich mit Masken und dem Thema des Narrenschiffs. Dass er mit Foucaults Besuch in Münsterlingen den Thurgauer Bezug zum Narrenschiff entdeckte, inspirierte Téllez für den Film.
Für Javier Téllez ist Foucaults Begegung mit Binswanger nicht nur historisch, sondern auch persönlich spannend, da seine Eltern sich stark mit Binswangers Daseinsanalyse beschäftigten. Sein Film nimmt Foucaults Spurensuche zum Narrenschiff auf und setzt die Texte Brants und Foucaults dem Bild von Bosch gegenüber. Darum auch Kostüme und Masken als Bezüge zu Karneval und historische Quellen.
In seinem Schaffen arbeitet Javier Téllez, der heute in New York und Berlin lebt, ausschliesslich mit Menschen mit Psychiatrieerfahrung als Schauspieler:innen. Diese Tatsache und seine Frage danach, was normal und was un-normal ist, machten ihn für Markus Landert interessant. Téllez sagt über seine künstlerische Intention: „Ich möchte die Wahrnehmung für psychische Erkrankungen öffentlicher machen.“
Verfremdung verweist auf die Fiktion
Sein Film, der vor allem im Mai 2022 auf dem Bodensee entstand, ist ein 19-minütiges poetisches Werk, das von nun bis zum 17. Dezember 2023 an im Kunstmuseum Thurgau zu sehen sein wird. Die Schauspieler:innen traf Téllez in Zusammenarbeit mit Lenka Roth vom Offenen Atelier Kreuzlingen, das zur Stiftung Mansio gehört.
„Ich möchte die Wahrnehmung für psychische Erkrankungen öffentlicher machen.“
Javier Téllez
Die Narren besteigen über den Bootssteg in Romanshorn ihr Schiff, alle in einer Reihe. Die Enge des Stegs und das umegebende Wasser lässt kein Entkommen, kein Zurück zu. Elemente wie den Steg, aber teils auch die Brillen der Schauspieler:innen liess Téllez bewusst als Zeugnisse der Moderne stehen. Durch diese Verfremdungselemente werde klarer, dass es sich beim Film um Fiktion handele, nicht um eine historisches Dokument.
Dass das Wetter während der Dreharbeiten regnerisch-bedeckt war, sei zwar für die Crew nicht immer ganz einfach gewesen, da sie ständig das Regenradar im Blick hielt. Auch die Ruhe, welche im Film auf dem Narrenschiff herrscht, spiegele nicht die hektische Atmosphäre der Filmleute wider. Javier Téllez sieht die Grisaille der Wasser-Himmel-Kulisse dennoch als positiv: Melancholie sei häufig die Mutter der Kreativität.
Trennung von psychisch krank und gesund
Die Kreativität von Javier Téllez entspringt zudem aus seinem Miterleben der Trennung von psychisch kranken und gesunden Menschen, denn in dieser Trennung wuchs er auf und die Frage danach, was psychisch krank ist, beschäftigt den 1969 geborenen Venezolaner bis heute. Er möchte den Fokus auf diese wichtige Frage lenken, indem er Menschen mit Psychatrieerfahrungen zu Wort kommen lässt. Sie halten im Film nicht nur sich, sondern gleichzeitig uns den Spiegel vor und sprechen für uns.
In den vergangenen Jahrzehnten hat sich die Psychatrie allerdings geöffnet. Heutige psychiatrische Kliniken können nicht mehr mit den Narrenschiffen von Brant und Bosch verglichen werden, die separieren, nach Narragonien oder Utopien segeln.
Die westliche Psychatrie will eine Öffnung hin zur Gesellschaft. Die Grenzen zwischen Normalität und Wahnsinn verschwimmen. Foucault beginnt in seinem Werk „Wahnsinn und Gesellschaft“ zwar im Mittelalter mit Untersuchungen zur Fragestellung, ob der Wahnsinn kulturgemacht ist. Er fragt, ob es ihn schon immer gab oder er ein historisches vielleicht sozio-kulturelles Phänomen ist? Er bleibt aber nicht im Mittelalter, sondern bewegt sich auf die moderne Psychiatrie zu.
Moderne Psychiatrie will rein in die Gesellschaft
Michel Foucault ist ebenfalls Verfasser von „Die Geburt der Klinik“. Darin beschreibt er nicht nur die Geschichte der Klinik und modernen Medizin; mit der Institutionalisierung der Krankheiten, ihrer Kategorisierung, machte die Wissenschaft Fortschritte. Ende des 19. Jahrhunderts begann mit der Psychonanalyse eine neue Ära für die Untersuchung von Geisteskrankheiten. Die vormoderne Unterscheidung zwischen normal und unnormal greift nicht mehr so einfach.
„Das Narrenschiff“ Téllez beschäftigt sich zweifelsohne mit wichtigen Fagestellungen. Wir sehen wunderbare Bilder, im Sinne von Filmshots, aber auch auf allegorischer und metaphorischer Ebene. Aber warum segelt dieses mittealterliche Narrenschiff heute noch auf dem Bodensee? Sind wir nicht schon einen Schritt weiter, zumindest in unserem europäischen Kulturkreis? Oder soll uns die mystische Wasseroberfläche den Spiegel der Geschichte vorhalten?
Die Dreharbeiten beliefen sich letztlich teuerer als gedacht auf einen sechsstelligen Betrag, der vom Kunstmuseum getragen wird. Es gibt insgesamt 5 Kopien. 4 davon würde die Museumsdirektor Landert künftig gerne in anderen Museen sehen.
Rahmenprogramm:
Mittwoch, 7. September 2022, 17.15 bis 18.30 Uhr: Einführung für Lehrpersonen und Interessierte in die Ausstellung „ Javier Téllez – Das Narrenschiff“
Donnerstag, 26. Januar 2023, 19 Uhr: Im Maschinenraum der Kunst. Ein Making-of mit der Filmcrew des „Narrnschiffs“. Musik an Bord von Johannes Ötzbrugger.
Dienstag, 21. März 2023, 19 Uhr: Vom Spiel zwischen Kunst und Therapie. Vortrag von Kuratorin Stefanie Hoch.
Von Judith Schuck
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