24.06.2020
Raus aus dem Club der weissen Männer
Denkt man an bekannte Menschen, die Musik komponieren, fallen einem vor allem Männernamen ein. Warum ist das so? Die Pianistin Simone Keller über Frauen in einer Männerdomäne und warum wir dringend mehr Vielfalt brauchen.
Seit 30 Jahren spiele ich Klavier und habe ein klassisches Studium mit einem starken Fokus auf dem Repertoire der Wiener Klassik und Romantik absolviert. Daneben habe ich Hammerflügel und Orgelunterricht genommen und mich auch in Barockmusik vertieft. Vollkommen selbstverständlich hat mich immer auch die moderne und zeitgenössische Musik nicht nur interessiert, sondern in all ihren Facetten fasziniert. Es gibt also einen ungefähr die letzten 400 Jahre umfassenden Musikkosmos, in den ich mich mit Haut und Haaren vertieft habe und der die Grundlage meines Berufes als Musikerin bildet.
Wer nun denkt, dass sich da eine grosse Vielfalt auftut, liegt einerseits richtig, andererseits ganz falsch. Man könnte meinen, dass in den letzten 400 Jahren auch viele Frauen als Musikerinnen, Dirigentinnen und Komponistinnen in Erscheinung getreten sind und ist ernüchtert, wenn man genauer hinschaut. Der Kanon der klassischen Musik war bis ins späte 20. Jahrhundert ein Club für weisse Männer und auch danach hat sich nicht viel daran geändert.
Der Kanon der klassischen Musik ist männlich dominiert
Wenn ich meinen eigenen Konzertkalender zur Hand nehme und in meinem Archiv nachschaue, was ich vor genau 10 Jahren gespielt habe, sieht meine persönliche Statistik im Kalenderjahr 2010 folgendermassen aus: In all meinen Konzertprogrammen in diesem Jahr habe ich Stücke von 56 Komponisten gespielt, davon 12 Uraufführungen. Über das gesamte Jahr verteilt habe ich lediglich von 3 Komponistinnen Werke gespielt, davon 2 Uraufführungen, die ich selber in Auftrag gegeben und selber finanziert hatte.
Was meine Mitmusizierenden angeht, sah es etwas weniger verheerend aus: insgesamt stand ich mit 31 männlichen Kollegen auf der Bühne und mit 22 Musikerinnen. Dass sämtliche hier erfassten KomponistInnen und MusikerInnen mit einer kleinen Ausnahme weiss und aus Mitteleuropa waren, muss wahrscheinlich nicht extra erwähnt werden.
Nur langsam verschaffen sich Frauen mehr Gehör
Heute, 10 Jahre später, sieht es zumindest in meinem Umfeld etwas anders aus. Ich arbeite gerade an zwei Uraufführungen für Soloklavierstücke mit den Komponistinnen Jessie Marino und Lara Stanić, nehme ein Video mit einem Klavierstück von Julia Amanda Perry für die Wiener Festwochen auf, bereite das Klavierkonzert von Sofia Gubaidulina vor, habe die Klaviermusik von Galina Ustwolskaja auf CD aufgenommen, stelle mit der Sängerin Maya Boog ein Programm für das Festival frauenkomponiert zusammen… und hätte Corona uns nicht daran gehindert, wären die kolumbianische Pianistin Teresita Gómez und ich gemeinsam im Thurgau bei einem Konzert aufgetreten, bei dem ich Musik von fünf jungen Komponistinnen aus dem Balkan gespielt hätte…
Der klassische Musikbetrieb wird nach wie vor von weissen Männern dominiert, auch wenn sich je länger je mehr Frauen Gehör verschaffen. Die äusserst beachtlichen Werke von Komponistinnen wie Julia Amanda Perry (1924–1979), die sich als Frau, als Afro-Amerikanerin und nach mehreren Hirnschlägen als Person mit körperlichen Beeinträchtigungen in einer „triple marginalized position“ befand, pflegt heute niemand mehr.
Video: Simone Keller spielt Julia Amanda Perry
Männer übernehmen Ideen und feiern Erfolge damit
Die musikalischen Neuerungen in den visionären Kompositionen von Ruth Crawford Seeger (1901–1953), die sich vor ihrer Heirat mit einem konservativen Mann im Kreise der amerikanischen „Ultramodernisten“ bewegte, wurden nach ihrem Tod von männlichen Kollegen übernommen, die als deren Erfinder damit in die Musikgeschichte eingingen. Der Name Ruth Crawford Seeger ist auch in Insider-Kreisen nahezu unbekannt geblieben.
Video: So klingt ein Werk von Ruth Crawford Seeger
Die venezolanische Komponistin Teresa Carreño (1853–1917) war zu Lebzeiten weltberühmt und galt als bedeutendste Pianistin der Gegenwart. Man bezeichnete sie als „Kaiserin des Pianos“ und „Walküre des Pianos“. 1983 wurde in Caracas der Complejo Cultural Teresa Carreño nach ihr benannt, eines der grössten Konzert- und Schauspielhäuser Lateinamerikas. Dennoch findet man heute kaum klassische MusikerInnen, die ihren Namen kennen, geschweige denn, jemals ein Stück von ihr gehört oder selber gespielt haben.
Wie Offenheit und Vielfalt den Horizont weiten
In meiner künstlerischen Arbeit spielt die Vielfalt oder, um das aktuelle Schlagwort zu verwenden, „Diversity“ eine grosse Rolle. Ich habe immer wieder ganz bewusst die Zusammenarbeit mit Menschen gesucht, die in der Öffentlichkeit zu wenig oder lediglich stereotypisierend wahrgenommen werden und habe versucht, Raum zu schaffen für Menschen, die gesellschaftlich ausgegrenzt werden. Im gemeinsamen Musizieren mit Menschen mit körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen, mit Geflüchteten oder mit jugendlichen Straftätern durfte ich unendlich viel Schönes entdecken und erlernen, was zuvor jenseits meines Horizontes lag.
Ich habe nicht in einem paternalistischen Sinne eine Minderheit gefördert, sondern durfte auf Augenhöhe einen Austausch erleben und Neues erfahren, was auch für meine Entwicklung förderlich war. In diesem Sinne möchte ich dazu einladen, sich öfters auf etwas Neues und Ungewohntes einzulassen, sei es auch nur, sich Musik anzuhören von Komponistinnen, die man noch nicht kennt und sich von der ungeahnten Schönheit überraschen zu lassen.
„Die Werke von Komponistinnen aller Zeiten und aller Hautfarben müssen sicht- und hörbar gemacht werden.“
Simone Keller, Pianistin
„Ich fühle mich wie der Salat in einem Burger: der ist da, aber man schmeckt ihn nicht.“ sagte die Komponistin Olga Neuwirth 2016 in einem Interview mit Stefan Drees im VAN-Magazin. Frauenmusik-Festivals versuchen, gezielt zu fördern und müssen sich in der Folge mit der Problematik der Ghettoisierung auseinandersetzen. Im Konserthuset in Stockholm gibt es seit noch nicht allzu langer Zeit die Reihe „LvB – Ladies versus Beethoven“: jeder Beethovensinfonie wird eine grosse Sinfonie einer Komponistin aus dem 19. Jahrhundert gegenübergestellt.
Die erste uns heute noch bekannte Komponistin war Kassia im 8. Jahrhundert im Oströmischen Reich. Etwa zur gleichen Zeit war es auch in den Kalifaten im maurischen Spanien üblich, dass Frauen musizierten und komponierten, sie haben aber ihre Werke nicht notiert. Die Werke von Komponistinnen aller Zeiten und aller Hautfarben müssen sicht- und hörbar gemacht werden. Die Diskriminierungsmechanismen sind komplex und der Weg noch weit, bis wir eine breite Wahrnehmung und Wertschätzung erreicht haben.
Video: Die Komponistin Teresa Carreño
Termin: Am Donnerstag, 25. Juni, 21 Uhr, ist Simone Keller zu Gast in unserer Reihe #deinebühne. Mit Thurgaukultur-Redaktionsleiter Michael Lünstroth spricht sie dann über ihre Arbeit, Lehren aus Corona und zu Unrecht vergessene Komponistinnen. Sie wird dann auch drei Werke der im Text angesprochenen Komponistinnen spielen. Das Gespräch streamen wir über unsere Facebook-Seite. Alle Infos dazu findet ihr hier: https://www.thurgaukultur.ch/magazin/gegen-das-vergessen-4513
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