Seite vorlesen

von Jürg Schoop, 13.05.2020

«Jazz ist die beste Form der Demokratie»

«Jazz ist die beste Form der Demokratie»
Andi Reinhard und Nicole Johänntgen bei einer Jam-Session im vergangenen Jahr im Eisenwerk Frauenfeld. | © Jürg Schoop

Andi Reinhard, Frauenfelder Urgestein und begnadeter Saxofonist, lebt seit Jahren in Thailand. Als er im vergangenen Jahr mal wieder im Thurgau war, traf ihn unser Korrespondent Jürg W. Schoop auf ein Gespräch.

Andi, du bist ursprünglich kein Thurgauer, wo und wie bist du denn aufgewachsen?

Ich bin auf dem Land im Kanton Zürich aufgewachsen, machte zuerst was Solides, eine Lehre als Chemielaborant. In jungen Jahren trat ich in die Stadtjugendmusik Zürich ein, wo ich mich anfänglich für die Klarinette entschied. Das hat mir sehr gut gefallen, habe den Plausch dabei gehabt, Benny Goodman spielte da eine Rolle, bin dann aber sehr schnell auf  Alt-Saxophon umgestiegen. Nach der Lehre ging ich dann als begeisterter Jazzfan an die Jazzschule in Zürich.

Warum wähltest du gerade dieses Instrument?

Alle Musik, die ich damals in mich aufsog, war stark vom Saxophon geprägt. Das Instrument faszinierte mich von Anfang an.

Hattest du ein Vorbild?

Ich hatte zu Beginn eher traditionelle Vorbilder wie Sidney Bechet oder Louis Armstrong, mein Vater war ja auch Dixieland-Schlagzeuger in einer Amateur-Band. Ich glaube, 1968 hörte ich im «Weissen Wind» in Zürich ein Konzert mit Stan Getz, das mich sehr beeindruckte und mir den Weg zur neueren Musik wies, insbesondere auch zu Charlie Parker, von dem ich meine erste Schallplatte kaufte. Ein wirklicher Be-Bopper bin ich aber nicht geworden.

 

 

«Das Saxophon faszinierte mich von Anfang an.»

Andi Reinhard, Jazzmusiker

Welche Art Musik stand für dich im Vordergrund?

Ich war in den wilden 70-er Jahren in Zürich in der Szene. Der Einfluss von Rock-Jazz und Fusion-Musik war natürlich gross. Ich war ein grosser Fan von Klaus Doldinger, später kamen neben unzähligen anderen das Mahavishnu-Orchestra, Weather Report und Miles Davis dazu. Die 70-er-Jahre waren musikalisch verrückt und wahnsinnig spannend.

In welchen Kreisen verkehrtest du, als du mitte der 80-er Jahre in den Thurgau kamst, gab es  eine Thurgauer Jazz-Szene?

Anfänglich bildete ich mit Werner Oberhänsli, Hanspeter Hugentobler und Markus Schär in Weinfelden eine Band. Nach dem Ausstieg von Oberhänsli schloss sich uns der Trompeter Thomas Banholzer aus Konstanz an. So begann ich auch, zusammen mit Konstanzer Musikern zu spielen. Er blieb dann auch 30 Jahre lang mein musikalischer Bruder.  Ende der 80-er Jahre zog er nach München. Ich wohnte zwar im Thurgau folgte ihm aber wie auch andere Musiker aus dem süddeutschen Raum und aus dem Thurgau. Wir haben damals viele Projekte zusammen gemacht, hatten auch eine grosse Blues-Big-Band.

Ich nehme an, dass man als Jazzmusiker in den Anfängen einem Brotberuf nachgehen muss.

Jazzmusiker führen nie ein leichtes Leben, das ist richtig. Ich arbeitete auch als Obstverwerter und Schnapsbrenner in der Mosterei Oberaach und als Chemielaborant im Migros Zentrallabor in Zürich. Eine Zeitlang werkte ich in der Instrumentenbau-Werkstatt von Fred Bühler in Weinfelden, die ich dann in der Folge 1986 übernahm. Ich hatte ja auch noch eine Lehre als Instrumentenbauer gemacht.

«Jazzmusiker führen nie ein leichtes Leben.»

Andi Reinhard, Jazzmusiker (Das Foto zeigt ihn mit einer Combo in Bangkok)

Kannst du dich an deinen ersten Band-Auftritt erinnern?

Ja, da kann ich mich sehr gut erinnern. Da habe ich in der Vorgruppe einer Walliseller Rockgrösse gespielt. Wir spielten diese an die Wand, unsere Fans tobten! Dort habe ich auch meine erste Frau kennengelernt (lacht), wir heirateten und hatten gemeinsam eine Tochter und einen Sohn… Jetzt bin ich mit Nicha, meiner thailändischen Frau verheiratet und inzwischen über die Kontinente hinweg siebenfacher Grossvater geworden.

Was trieb dich dazu an, nach Thailand auszuwandern?

Als ich mich Ende der 70-er Jahre in Südost-Asien aufhielt, fühlte ich mich sofort daheim. Dieses Gefühl wiederholte sich auch später wieder, immer wenn ich meinen Fuss auf asiatischen Boden setzte. Es stand schon lange in meinem Kopf, meinen Lebensabend dort verbringen zu wollen. Dann lebte auch meine Mutter, die ich regelmässig besuchte, seit 1991 in Thailand. 2004 hatte ich einen kleinen Hirnschlag, der eine schwierige Zeit nach sich zog, ich litt längere Zeit an einem Burnout, arbeitete aber noch acht Jahre in der Schweiz, bis es mir über den Kopf wuchs. Ich beschloss dann 2010 auszuwandern, 2012 war es dann soweit. Es hätte nicht unbedingt Thailand sein müssen,  – meine Mutter war inzwischen gestorben –, es bot sich auch Indien an. Aber die bessere Infrastruktur in Thailand und das mir genehmere Klima gewannen den Vorzug.

Jetzt lebst du schon seit acht Jahren in Thailand. Was empfindest du heute als Heimat?

Dort wo ich bin ist Heimat. Ich lebe jetzt seit sieben Jahren in Thailand, in einem kleinen Weiler, würde man hier sagen, und dort fühle ich mich happy. Jetzt bin ich seit 5 Wochen in der Schweiz auf Besuch zusammen mit meiner Frau, und es gefällt ihr auch hier sehr gut. Ich bin auch noch sehr stark verbunden mit dem Thurgau, habe gerne hier gelebt, habe auch 1999 von der Kulturstiftung ein Stipendium erhalten für meine Ausbildung als Arrangeur am Konservatorium Schaffhausen (Dick Grove School of Music). Ich arbeite gerne mit Big-Bands, das hatte mich immer fasziniert.

«Ich betrachte mich als einen Aktivisten oder intellektuellen Anarchisten mit Schwerpunkt Umwelt und Menschheitsentwicklung.»

Andi Reinhard, Jazzmusiker

Du bist mit einer thailändischen Frau verheiratet. Gibt es da Übereinstimmungen im Musikverständnis?

Es gibt absolut keine Übereinstimmungen. Europa und Thailand sind zwei kulturell ganz unterschiedliche Welten, das kann sehr faszinierend sein. Nicha hört natürlich traditionelle thailändische Musik, sie fängt jetzt langsam an, meine Musik zu verstehen. Zum Teil gefällt ihr das was ich mache, anderes weniger. Als Musiker faszinieren mich selbstverständlich gewisse Aspekte der thailändischen Musik. Wir versuchen aber nicht, eine Übereinstimmung herzustellen, wir respektieren gegenseitig unsere Kulturen.

Andi Reinhard uns seine Frau Nicha. Bild: zVg
Wie war dein Verhältnis zur musikalischen Avantgarde und wie könnte man heute deine Auffassung von Jazz charakterisieren?

Die 70-er waren voll mit den neuen Stilrichtungen, sind absolut faszinierend gewesen. Wir haben nächtelang in Kellern experimentiert,  – das war die Free-Jazz-Phase – wir haben auch Bands gehabt die den neuen Ideen Ausdruck verliehen. Jazz ist für mich der individuelle Umgang mit einer wahnsinnig interessanten Musik, die viele Einflüsse in sich aufgenommen hat. Wie wir mit dem Songmaterial umgehen können und dürfen, das interessiert mich. Eines meiner nächsten Projekte, Isaan Blues, betrifft die Verbindung von asiatischer und europäischer Musik und Musikern via Internet. Meine kürzliche Teilnahme an einem CD-Projekt mit Jazz- und Blues-Kompositionen des Thailändischen Königs Bhumibol wirkt dagegen eher klassisch.

«Die 70-er waren voll mit den neuen Stilrichtungen, sind absolut faszinierend gewesen. Wir haben nächtelang in Kellern experimentiert.»

Andi Reinhard, Jazzmusiker

Muss und wie könnte ein Jazzmusiker auf das reagieren, was auch schon als evolutionäre, auch kulturelle Wende bezeichnet wurde? Ich denke an die weltweiten Klimaphänomene, auch Thailand ist ja betroffen, digitale Umwälzung, Zertrümmerung alter Werte- und Moralvorstellungen, den Kulturwandel insgesamt.

Jazz war für mich immer eine der vermutlich besten Formen der Demokratie. Ohne diese grundsätzlich-demokratischen Formen wie Hören, Rücksichtnahme, Respekt, Zurückstehen können, Kollektiv usw. wäre Jazz wohl kaum so innovativ wie er sich in seiner Geschichte immer wieder manifestierte.

Dass ich mit meinen demokratischen Ideen vermutlich richtig liege zeigt auch der Umstand, dass mit den meisten thailändischen Jazzmusikern kein Jazz zu spielen ist, sie kopieren allenfalls gut. Klingt vielleicht etwas hart, aber das Land war noch nie demokratisch, höchstens scheindemokratisch mit starker feudalistischer Prägung. 19 dieser Demokratieversuche wurden mit einem Putsch beendet, der letzte hält mit einer Militärdiktatur seit 2014 an. Die Wahlen letztes Jahr waren eher eine Farce. Was ich damit sagen will: Jawoll, wir müssen darauf reagieren, als Kunstschaffende, als Menschen mit kreativer Wahrnehmung!

Ich war immer ein politischer Mensch, obwohl ich mich niemals der Doktrin von politischen Parteien oder Ideologien unterworfen hätte und habe. Ich betrachte mich deshalb eher als einen Aktivisten oder intellektuellen Anarchisten mit Schwerpunkt Umwelt und Menschheitsentwicklung. Als Musiker zelebriere ich gerne die Freiheit der Gestaltung gegen die Zwänge die von aussen kommen, von der Natur, von verknöcherten gesellschaftlichen Hierarchien. Gebe der eigenen Verantwortung in einem aufeinander eingespielten, funktionierenden Kollektiv Ausdruck. Das scheint mir gerade heute immer noch eine wichtige Haltung zu sein.

Aber hier liegt die Krux, wir Kunstschaffende müssen auch essen und unsere Familien ernähren. Ein gewichtiger Grund «käuflich» zu sein und die Schnauze zu halten, wenn's denn nötig ist.

Wie gestalten sich Kontakte zu Schweizer-Kollegen? Facebook scheint für dich eine wichtige Rolle zu spielen….

Es ist so: wenn man aus der Schweiz weg ist, dann ist man schnell mal ganz weg. Ich habe noch lockeren Kontakt mit gewissen Kollegen über Facebook, ich schreibe Kolumnen für eine deutsche Zeitschrift in Thailand, die gerne gelesen werden. Eine engere Verbindung habe ich selbstverständlich mit Familienmitgliedern, so über Skype mit meiner Tochter.

Wenn ich mich anmelde und hieher auf Besuch komme – das ist ganz verrückt – kommen die alten Freunde sofort herbei, die Blue-Monkey-Bigband hat sogleich ein Konzert organisiert. Nach sieben Jahren Abwesenheit war ich richtig erstaunt und es hat mir auch riesig Freude bereitet.

Manche Kollegen, mit denen ich früher intensiv zusammengearbeitet habe, konnten nicht zur «Stubete», einer spontanen Reunion  im Eisenwerk kommen (siehe Video oben), weil sie sich um ihre Einkünfte als Musiker kümmern mussten, was verständlich ist in diesem harten Geschäft.

«Ich bin auch noch sehr stark verbunden mit dem Thurgau, ich habe gerne hier gelebt.»

Andi Reinhard, Jazzmusiker

 

Andi Reinhard und Jürg Schoop

Andi Reinhard, Saxophon-Spieler von Jazz und Blues, Arrangeur, Komponist und Lehrbeauftragter hat noch immer einen ausgezeichneten Ruf in der europäischen Jazzszene, besonders  im Raum Thurgau-Süddeutschland bis nach München. Er erhielt 1999 auch ein Stipendium des Kantons Thurgau. Später setzte er sich als Musiker auch für Benachteiligte ein wie Strafgefangene oder Menschen mit besonderen Bedürfnissen.

 

Nach einem gesundheitlichen Desaster beschloss der knapp 60-jährige, für den Rest seines Lebens nach Thailand auszuwandern. Dort lebt er als Musiker, Kolumnist, Webversierter und Menschenfreund ein ihm gefälliges Leben. Zusammen mit Robert Spitzli setzt er sich für den Erhalt des thailändischen Regenwaldes ein.

 

Unser Korrespondent Jürg W. Schoop hat ein besonderes Verhältnis zu Andi Reinhard:

 

«Andi Reinhard war mir seit seinem Wiedereinzug in den Thurgau dem Namen nach bekannt. Praktisch habe ich ihn nie kennengelernt, da meine Interessen auf das Mutterland des Jazz in erster und dann nach Zürich in zweiter Linie ausgerichtet waren, als Andy kaum 20 Jahre alt war. Als Andis Name später immer wohlwollend genannt wieder auftauchte, beschloss ich (erneut im Thurgau daheim), wenn auch noch weit in die Jazz-Ferne blickend, eines seiner Konzerte zu besuchen.

 

Ich hätte mich wohl etwas sputen müssen, denn plötzlich hiess es, er sei nach Thailand ausgewandert. Der vorerst unerklärbare Vorfall gewann dann begreifbare Kontur, als ich den Saxophonisten inmitten einer Schar von fröhlichen Thailänderinnen auf Facebuch entdeckte.

 

Da mir auch sein musikalischer Geschmack gefiel, empfahl ich mich als Facebook-Freund, was immer auch das bedeuten mag. So waren wir ein paar Jahre  locker miteinander bekannt, bis ich meinen Account auflöste.

 

Nun konnte ich Andi Reinhard und seine Frau Nicha endlich anlässlich ihres jüngsten Besuches im Thurgau - Ende 2019 - verbunden mit einem von Andis Freunden ins Leben gerufenen ad-hoc-Konzert im Eisenwerk Frauenfeld, persönlich kennenlernen. Manchesmal staunt man schon, was das Leben auf queren Wegen überraschend immer wieder bereit hält. Andis frische, unkomplizierte Art, seine Vielseitigkeit und geistige Beweglichkeit kommt hoffentlich auch in diesem telefonisch geführten, von mir bearbeiteten Gespräch, das mir nach seinem Auftritt ein Anliegen war, zum  Ausdruck.»

 

Links zum Weiterlesen:

 

www.blue-monkey.ch/music/

https://blue-monkey.ch

https://www.regenwald-thailand.ch

facebook – Andi Reinhard

www.juerg-schoop.ch

 

Kommentare werden geladen...

Kommt vor in diesen Ressorts

  • Musik

Kommt vor in diesen Interessen

  • Interview
  • Jazz

Werbung

kklick Kulturvermittlung Ostschweiz

Ausschreibung Mandate der Kantone AR, GL, SG & TG (2024 bis 2027). Mehr dazu hier...

BAND X OST - Jetzt anmelden!

Der grösste und wichtigste Nachwuchsmusiker/innen-Contest der Ostschweiz und des Fürstentums Liechtenstein geht in die achtzehnte Runde. Anmeldung bis 3. September 2023.

Frauenfeld ROCKT - jetzt bewerben!

Anmeldeschluss: 24. Juni 2023

Ähnliche Beiträge

Musik

Das bittersüsse Gift der Liebe

Das Bodenseefestival gastierte mit jüdisch-sephardischer Kultur und Musik in der Alten Kirche Romanshorn. Das Publikum war bezirzt. mehr

Musik

Mit Schalk, Charme und gutem Gedächtnis

Seit zehn Jahren tourt UnglauBlech schon durch meist ausverkaufte Säle. Am Samstag 15. April lädt die Blechbläserformation zum kleinen Jubiläum ins Casino Frauenfeld ein. mehr

Musik

Von Algorithmen und anderen Göttern

„Modern Gods“ heisst das neue Album des Thurgauer Perkussionisten Fabian Ziegler. Es geht um die heutige Beziehung zwischen Mensch und Technik und zeigt die Vielseitigkeit der klassischen Perkussion. mehr