11.06.2013
„Kulturförderung wichtiger denn je“
Sechs besondere künstlerische Begabungen sind im Kulturforum Amriswil mit den Förderbeiträgen des Kantons Thurgau ausgezeichnet worden. Die Beiträge sind mit je 25‘000 Franken dotiert. Regierungsrätin Monika Knill plädierte in ihrer Rede für die Kulturförderung auch als Mittel der Identifikation mit der Heimat.
Dieses Jahr wurden die sechs Förderbeiträge an Künstlerinnen und Künstler aus den Sparten Musik, Theater, Tanz, Literatur und Bildende Kunst vergeben. Sie sollen eine Weiterentwicklung des künstlerischen Schaffens ermöglichen. Die Fachjury hat aus 34 Bewerbungen die folgenden sechs Thurgauer Künstlerinnen und Künstler ausgewählt:
✗ Fabian Alder, Regisseur, Berlin;
✗ Gabriel Estarellas Pascual, Musiker, Amriswil;
✗ Cécile Hummel, bildende Künstlerin, Basel;
✗ Andri Stadler, bildender Künstler, Luzern;
✗ Michaela Stuhlmann, Performerin, Müllheim;
✗ Bettina Wohlfender, Autorin, Sirnach
Die Feier in Amriswil war festlich wie immer. Umrahmt wurde sie von Raphael Jost und seiner Band. Zum letzten Mal dabei war der Thurgauer Kulturamtchef René Munz, der im Herbst nach Zürich wechselt. Er zeigte ein von ihm gedrehtes Video über den Künstler Herbert Kopainig und interviewte die Amriswiler Sängerin Alexa Vogel, die beide schon früher einen Förderbeitrag erhalten hatten.
Regierungsrätin Monika Knill zitierte in ihrer Rede Zahlen zur thurgauischen Bevölkerungsstatistik. Sie zeigten, dass das Bildungsniveau und damit auch das Bedürfnis nach Kulturangeboten deutlich steige. „Gut ausgebildete Personen wollen qualitativ gute Kulturangebote in ihrem Lebensumfeld. Deswegen ist Kulturförderung heute wichtiger denn je, weil sie auch die Attraktivität eines Standortes fördert. Zudem leistet das Kulturschaffen einen wichtigen Beitrag dazu, sich mit einem Ort und Personen zu identifizieren, Kulturschaffen setzt sich damit im Kern mit Heimat und Zugehörigkeit auseinander.“ In der heutigen Gesellschaft seien stabile Sozialräume und eine feste Ortsbindung nicht nur wichtig, sondern gar Vorassetzung für Mobilität und Weloffenheit, so Monika Knill. Doch für alle sechs Förderbeitragsempfängerinnen und -empfänger sei das wichtigste wohl nicht der Ort, „wo man ist und arbeitet, sondern wie flexibel der Geist ist und mit welchen Gefühlen sie an ihre Heimat denken“, gab die Thurgauer Kulturministerin zu bedenken. (red)
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LAUDATIONES
Paul Steinmann, Autor und Regisseur, zu Fabian Alder
Wie weiss man, wohin man gehen soll? Wie weiss man, ob man überhaupt gehen soll? Wie soll man wissen - so als junger Mensch - welchen Wegweisern man folgen soll? Welche Abzweigung man keineswegs verpassen darf? Welche Schritte nötig sind um irgendwo anzukommen?
Fabian Alder ist in Weinfelden aufgewachsen und schon als Bub mit dem Theater und der Musik heftig in Berührung gekommen. Aus dem Bornhauser-Festspiel 1991, bei dem er als 10-Jähriger mitmachte, hat er eine Mütze eines seiner Lieblings-Schauspieler gerettet. Und die Mütze ist immer noch bei jedem Umzug mitgekommen. Ich weiss nicht, ob Fabian Alder heute die Mütze dabei hat, aber diese kleine Geschichte zeigt doch: der junge Regisseur hat schon früh geahnt, dass ihn seine Schritte in Richtung Theater und Richtung Musik lenken werden. Dass er nun in Berlin gelandet ist, dass er nun in Augsburg, in Frauenfeld, in Halle inszeniert und gearbeitet hat, das konnte er damals nicht wissen, als er auch fleissig Gitarre übte und mit seiner Band erfolgreich auftrat. Aber er wusste, wie er herausfinden konnte, ob das Theater und die Musik für ihn mehr sein würden als ein hübscher, anregender Zeitvertreib. Er begann – neben verschiedenen Amateur- und Jugendtheater-Einsätzen - bei den Profis zu hospitieren. Das ist keine lukrative Geschichte, man verdient nichts, aber man gewinnt unter Umständen viel. Fabian Alder hat so erfahren, wie andere Theater machen, wie andere, teilweise sehr arrivierte Regie-Personen, eine Inszenierung angehen, mit den Schauspielerinnen und Schauspielern arbeiten, mit dem Theater-Apparat umgehen.
Es ging so weit, dass Fabian Alder beschloss, das Regiehandwerk von Grund auf zu er- lernen. Dass er dabei von seiner ganz praktischen Erfahrung als Spieler, Musiker und Hospitant profitierte, liegt für mich auf der Hand. Theater kann und muss man zuweilen auch theoretisch abhandeln, intellektuell diskutieren, konzeptionell denken – geschehen muss Theater aber immer praktisch, als Vorgang vor einem Publikum.
Fabian Alder hat sich in seiner jungen Karriere als Regisseur schon einige Meriten ge- holt. Und obwohl er im ‚grossen Kanton’ ausgebildet wurde vor allem dort auch arbeitet, hat er den Bezug zur Schweiz und zum Thurgau nicht verloren. Im Gegenteil. Er spricht davon, dass er mehr und mehr von einem eigenartigen Heimweh gepackt werde. Viel- leicht ist auch das der Grund, warum er mit Dürrenmatts ‚Alter Dame’ und eben mit Schneiders ‚Sennentuntschi’ kürzlich zwei Schweizer Stücke auf die Bühne gebracht hat. Fabian Alder ist also im Regiefach angekommen und er hat Projekte, Aufträge, Anfragen. Seine Diplominszenierung an der ‚Ernst-Busch’ in Berlin ist durch.
Wie geht es weiter? Was sind die nächsten Schritte? Soll sich der junge Regisseur auf die Reise durch die Stadttheater begeben oder in der Freien Szene sein Auskommen suchen? Fabian Alder hat sich an die Musik erinnert, an seine Gitarre, an seine damaligen Mit- streiter in den Bands. Natürlich hat die Musik in all seinen Inszenierungen immer eine wichtige Rolle gespielt, aber Fabian Alder möchte nun herausfinden, ob er der Verbin- dung dieser beiden Kunstformen – ganz allgemein gesagt: dem Musiktheater - noch mehr Beachtung schenken sollte.
Nur: wie will er das herausfinden? Indem er bei den Grossen der Zunft hospitiert. Hat sich ja bewährt. Aber wenn man in den Proben sitzt und den – teils sehr bekannten - Leuten beim Arbeiten zuschaut, kann man nicht auch noch einen Lohn erwarten. Für diese Hospitanzen, diese Weiterbildungen und für Kurse bei Musik-Theater-Menschen hat Fabian Alder um Förderung gebeten. Wir denken, dieses Geld ist bei ihm, dem Heimweh-Thurgauer und Jung-Regisseur bestens investiert. Und wir freuen uns, seine Arbeiten im Musik-Theater dereinst auch auf einer unserer Bühnen in der Ostschweiz zu sehen und zu geniessen.
Wie weiss man, ob man überhaupt gehen soll? Wie soll man wissen, so als junger Mensch, welchen Wegweisern man folgen soll? Welche Abzweigung man keineswegs verpassen darf? Welche Schritte nötig sind um irgendwo anzukommen? Darauf gibt es keine schlüssigen Antworten. Aber es ist schön und gut, wenn ein Kanton mit seinen Unterstützung Künstlerinnen und Künstlern bei der Entscheidungsfindung hilft.
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Katharina Ammann, Konservatorin Bündner Kunstmuseum Chur, zu Cécile Hummel
„Streiflichter“, „Abtauchen und Auftauchen“, „Flüchtige Orte“, „vom Fokussieren und Schweifenlassen des Blicks“. Bereits in diesen vier Ausstellungstiteln lässt sich herauslesen, womit sich Cecile Hummel in ihrer Kunst befasst. Es geht ihr um die Auseinandersetzung mit Wahrnehmung, insbesondere mit räumlicher Wahrnehmung. Diese erstreckt sich sowohl auf architektonische als auch auf zeitliche Räume. Hummel, die in Gottlieben aufgewachsen ist, zehn Jahre in Rom verbrachte und seit 2001 in Basel lebt, kommt von der Zeichnung her. Sie zeichnet eigentlich immer, insbesondere in den Städten, in denen sie sich für längere Zeit aufhält: San Francisco, Berlin, Paris, Rom, Neapel, Palermo, Basel und kürzlich Kairo, wo sie gerade dank eines fünfmonatigen Stipendiums der Pro Helvetia war. „In einer fremden Stadt gibt es zwei Formen von Wahrnehmung: Entweder ich treibe im Fluss der Stadt oder ich halte an und beobachte diesen Fluss.“
Das Zeichnen erlaubt der Künstlerin innezuhalten und einzutauchen. Bereits in Rom, wo sie von 1990 bis 2000 lebte, begann Hummel dafür auch die Fotografie einzusetzen, da auch dieses Medium das zu Beginn erwähnte „Fokussieren und Schweifenlassen des Blicks“ beinhaltet. Durch die Arbeit mit fotografischen Bildern erlangten Hummels Zeichnungen eine grössere Freiheit bezüglich der Abbild- haftigkeit der Motive. So ist nicht immer gleich erkennbar, um was es sich in ihren Zeichnungen handelt, obwohl sie sich immer auf etwas Gesehenes und Erinnertes beziehen.
Ihre Blätter bezeichnet Hummel häufig mit lasierender Gouache in differenzierten Grau- tönen. Architekturen, Objekte oder Möbel schieben sich in räumlichen Konstellationen über- und ineinander. Sie wirken vage familiär, wecken Reminiszenzen und thematisieren in ihrer Unschärfe, wie unsere Wahrnehmung funktioniert. Dieses Fokussieren und Schweifenlassen des Blicks auf dem Blatt entspricht dem mentalen Auf- und Abtauchen beim Stadtspaziergang. Inmitten des vielteiligen Umgebenden fesselt plötzlich ein Detail unsere Aufmerksamkeit; bei Hummel ist es ein Schattenwurf in Montréal oder ein orangefarbenes Ornament in einem Schaufenster in Neapel. Die menschliche Wahrnehmung wechselt fortwährend zwischen Unschärfe und Fokus, zwischen Unbestimmtheit und Identifizierung hin und her. Übertragen auf die Mechanismen des Sehens, teilt die Neurobiologie die visuelle Informationsverarbeitung in zwei Phasen, die so eng miteinander verknüpft sind, dass keine bewusste Unterscheidung geschieht. Der Wahrnehmung des Einzelnen geht die Wahrnehmung des Gesamten voraus. In blitzschnellen, sakkadischen Bewegungen fokussiert das Auge, schweift weiter und fokussiert wieder.
In gewissem Sinn lässt sich dasselbe Modell vom Sehen auf das Erinnern übertragen. Das Vergangene spielt bei Cécile Hummel eine wichtige Rolle, und nicht erst seit sie mit Fotografie arbeitet. Aber Fotografie ist das Medium, das wie kein anderes vermittelt, ei- nen Augenblick für die Zukunft bewahren zu können und das gerade deshalb auf seine Vergangenheit hinweist. Seit einiger Zeit arbeitet Hummel nicht mehr nur mit selber gemachten Aufnahmen, sondern auch mit historischem Bildmaterial. In ihren Präsentationen hängt sie Fotografien und Zeichnungen unterschiedslos und in freier Anordnung an die Wand. So gibt es keine Leserichtung, keine vorgegebene Reihenfolge oder Hie- rarchie. Die Betrachterin ist eingeladen, ihren Blick schweifen zu lassen und bei dem einen oder anderen Detail hängen zu bleiben. Der Blick wechselt zwischen Bewegung, Fixierung, Bewegung und zwar ebenso innerhalb eines Bildes wie zwischen den einzelnen Bildern. Im Grund spiegelt diese Präsentationsweise sowohl den menschlichen Wahrnehmungsprozess als auch den Vorgang des Erinnerns wider. Und obwohl Hummel aus ihrem eigenen Bildergedächtnis und -fundus schöpft, so kann doch jeder von uns wieder eigene Bezüge dazu schaffen. Denn was wir sehen, klingt an unser kollektives Bildgedächtnis, so wie die beiläufige Alltäglichkeit des Abgebildeten persönliche Erinnerungen wachruft.
Nun ist Cécile Hummel zurück aus Kairo voller Erinnerungen, die auf ihre Übersetzungen in Zeichnungen warten. Mit einem Haufen Fotografien, die ausgewählt und den Zeichnungen dialogisch gegenübergestellt werden wollen. Jetzt beginnt die eigentliche Arbeit, das Sichten und Ordnen, das Nachdenken über das eigene Sehen und die Transformation in jene unverwechselbaren künstlerischen Bildräume, die das Werk von Hummel auszeichnen. Für diesen nächsten Schritt innerhalb ihres kontinuierlichen und erfolgreichen Schaffens möchte die Jury Cécile Hummel den Förderbeitrag des Kantons Thurgau zusprechen.
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Martin Preisser, Pianist und Jounalist, zu Gabriel Estarellas Pascual
"Ein Streichquartett von besonderer Güte war an diesem Abend zu Gast. Debussys Streichquartett wurde vom Garcia Abril-Quartett derart kompromisslos aufgegriffen, dass daraus die beglückendsten wie bestürzendsten Momente resultierten." Diese Zeilen stammen von Anja Bühnemann, ehemals Konzertkritikerin beim Winterthurer "Landboten" und als externe Expertin beim Kulturamt Thurgau meine Kollegin im Team und somit mitverantwortlich für die Jurierung im Bereich Musik. Nicht etwa das Garcia Abril-Quartett bekommt jetzt einen Förderbeitrag, sondern ihr Primarius, Gabriel Estarellas Pascual. Und nicht fürs wunderbare Geigenspiel, sondern für seinen Wunsch, intensiv dirigieren zu lernen, um dann im Thurgau aus dem Jugendorchester Oberthurgau ein Symphonieorchester zu formen.
Ich kenne Gabriel Estarellas Pascual als ehemaligen Musiklehrerkollegen. Was man bei ihm sofort spürte, war seine leidenschaftliche Art, an Musikunterricht heranzugehen. Streng, klar und zu hohen Leistungen motivierend – das ist sein Credo beim Unterrichten. "Die Jööh, ist das herzig"-Pädagogik, die man leider an Musikschulen bisweilen an- trifft, ist nicht seine Sache. Er fordert Hingabe ans Musizieren, so wie er selbst glutvoll und kompromisslos musiziert. "Die Jööh, ist das herzig"-Pädagogik gibt es bei Gabriel auch nicht in der Orchesterarbeit mit Jugendlichen. 2008 hat er das Jugendorchester Oberthurgau von Martin Sigrist übernommen. Nicht unbedingt ein leichtes Erbe, war das Orchester damals doch eng von Martin Sigrist Persönlichkeit geprägt. Gabriel ist kein zweiter Martin Sigrist geworden, sondern hat in den letzten vier Jahren dem immer schon erfolgreichen Jugendorchester seinen ganz eigenen Stempel aufgedrückt. Es musiziert noch genauer, griffiger, direkter – kurz: faszinierend.
2012 hob das JOT, wie es abgekürzt auch heisst, ein Auftragswerk des Zürcher Komponist Daniel Fueter aus der Taufe. "Ich wollte einige Türen zur Neuen Musik aufstossen. Ich konnte nicht sicher sein, welchen Weg die Einstudierung nehmen würde", schreibt der ehemaliger Direktor der Zürcher Hochschule. Fueter weiter: "Ich habe erlebt, mit welch grosser Sorgfalt und Präzision, mit welch rhythmischem Verve und feinem Gespür für Klangnuancen Gabriel Estarellas Pascual meine Noten zum Leben erweckte. Er vermag seine grosse musikalische Erfahrung als Geiger unmittelbar in sein Dirigieren einzubringen." Eine sehr treffende Einschätzung, wie ich finde. Gabriel ist sicher einer der ersten Förderpreisträger, der von der Ferieninsel Mallorca kommt. 1977 wurde er dort geboren. Aber sein Thurgau-Bezug ist sicher genauso stark, wie bei jenen geförderten, die im Thurgau aufgewachsen sind. Gabriel lebt und arbeitet im Thurgau und engagiert sich für die Jugendorchesterarbeit auf hohem Niveau. So wurde das Jugendorchester Oberthurgau nächsten Monat nach Spanien zu einem internationalen Festival eingeladen. Der Thurgau geht in die alte Heimat des Dirigenten...eine schöne Geschichte. Auch eine kleine persönliche Anekdote möchte ich nicht unerwähnt lassen: Gabriels Frau, Lea Heinzer, heute eine hervorragende Bratschistin und ebenfalls im Garcia Abril Quartett, hat als Mädchen ihre ersten Orchestererfahrungen im Judgendorchester Oberthurgau gemacht.
Die Jury freut sich sehr, einem ausgezeichneten Geiger und einem begeisternden Orchesterleiter dabei zu helfen, sich zum professionellen Dirigenten auszubilden. Gabriel Estarellas Pascuals Vorgänger Martin Sigrist anerkannte den "ausgewogenen, warmen und differenzierten Klang des Jugendorchesters Oberthurgau". Wir würden uns freuen, wenn Gabriel einen Wunsch verwirklichen könnte: Das Jugendorchester, das bisher ein Streicherensemble war, zu einem symphonischen Klangkörper auszubauen, um es dann ebenfalls "ausgewogen, warm und differenziert" musizieren zu lassen. Dieser Förderbeitrag, das ist ohne Zweifel, bleibt für einmal ganz sicher im Thurgau und wird sich in wunderschöne klangliche Resultate junger Musizierender verwandeln. Mir fällt jetzt ein Titel über einer möglichen zukünftigen Konzertbesprechung ein: "Die jungen Schweizer spielen feurig wie die Spanier" Wenn wir das lesen, wissen wir, was wir jetzt schon wissen: Dieser Förderbeitrag ist perfekt eingesetzt.
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Ursula Badrutt, Leiterin Kulturförderung Kanton St.Gallen, zu Andri Stadler
Das Dunkle umfängt uns. Sind wir noch wach oder schlafen wir schon? Was sehen wir, wenn wir nichts sehen? Wie kann ich eine Stimmung ablösen vom Objekt, von der realen Situation. Wie kann ich den Übergang von der realen in die irreale Welt sichtbar machen? Und das mit fotografischen Mitteln? Solchen nicht ganz einfachen Fragen geht Andri Stadler nach. Er ist auf der Suche nach dem Punktum, wie Roland Barthes es in seiner Schrift „Die helle Kammer“ umschreibt. Dieses Besondere, das ein an sich schon interessantes Bild auszeichnet. Es ist jenes Zufällige an einer Fotografie, das besticht, verwundert, trifft. Vielleicht weil es diesen Übergang festhält, den Andri Stadler interessiert.
Um diesen Übergang zu erforschen, macht er sich auf den Weg; er ist unterwegs im wörtlichen wie übertragenen Sinn. Unterwegs entlang dieser unsichtbaren Grenze, mal dies- mal jenseitig, der Grenze nach, die zum Beispiel jene zwischen Tag und Nacht ist und Dämmerung heisst. Dabei sucht er jenen Moment, wo es gerade noch nicht NUR dunkel ist, oder gerade nicht mehr nur dunkel. Wie wenig Licht braucht es, um etwas zu sehen? Und zu fotografieren? Andri Stadler bewegt sich auch an der Grenze, an den Rändern der fotografischen und darstellerischen Möglichkeiten.
Das gilt auch für das Format: Ausgewählte Fotografien können schon mal fast zwei auf drei Meter messen. Für Fotografie ist dies ungewöhnlich. Und dann haben sie auch noch eine glänzende Oberfläche. Das heisst, die reale Welt spiegelt sich im annähernd schwarzen Bild, das in minimalen Strukturen und Farbunterschieden zum Beispiel eine Uferböschung zeig, einen Lichtkringel, der sich durch die Dunkelheit zwängt, ein Schat- tenspiel von Zweigen. Oder ein Stück Sonne hinter Wolken in mehreren Sequenzen, weil Andri Stadler sich samt der Kamera beim Abdrücken bewegte. Oder ein Stück Sternenhimmel im Unterengadin. Oder ein Stück Weg zwischen Luzern und Paris. Nur langsam erkennen wir, was ist. Denn die Bilder von Andri Stadler brauchen Zeit, bis sie entdeckt, gesehen werden. Bis sich die Augen an sie gewöhnt haben wie an die Dun- kelheit. Bis wir in ihr Innenleben vorgestossen sind.
Die Bilder, die wir hier sehen, sind zum grossen Teil aus der Ausstellung „Membran“ von 2012 in der Alpineum Produzentengalerie in Luzern. Hier übergab er sich seiner neu aufblühenden Experimentierlust und überliess eines der Bilder der Künstlerin Anna Sabina Zürrer. In einem performativen Akt hat diese das Bild an der hinteren Wand, das mit den Gräsern, zum Verschwinden gebracht, nämlich mit Javel besprayt und wegfliessen lassen. Unwiederbringlich.
Es geht bei diesem Förderbeitrag um diese Experimentierlust, auch um den Mut, sich auf den Weg mit unbestimmtem Ausgang zu machen. Andri Stadler möchte seine Wahrnehmungs-Recherchen vorantreiben. Mit anderen fotografischen und drucktechni- schen Verfahren, anderen Papieren, Oberflächen, mit Textilem, Transparentem, er möchte ausprobieren, den Weg abtasten, scheitern, erneut probieren. Lithographische Techniken für die Fotografie anwenden zum Beispiel. Sich bewegen. Unterwegssein. Er möchte in die Tiefe gehen. Aber auch an der Oberfläche forschen. An dieser un- sichtbaren Membran, die das Tatsächliche vom Fiktiven, oder auch einfach das Traditi- onelle und Innovative und Visionäre voneinander trennt. Dort setzt er an, dort will er weiter machen. Dort ist ein Förderbeitrag gut eingesetzt.
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Astrid Künzler-Büchter, Tänzerin, Choreografin, zu Micha Stuhlmann
Micha Stuhlmann schloss 1983 die Fachschule für Solzialpädagogik ab und studierte sechs Jahre an der Hochschule der Darstellenden Kunst und Musik „Mozarteum“ in Salzburg. Das ist insofern relevant, als dass das genaue Beobachten von körperlichen Veränderungen und der präzise Blick für menschliches Verhalten und deren Bewe- gungsabläufe die Arbeit von Micha Stuhlmann auszeichnet.
Micha Stuhlmann bewegt sich transdisziplinär in den Künsten. Installation und Performance, Bild und Text, Video und Sounds mixt sie in ihren Arbeiten zu einem Gesamt- kunstwerk. Starke Symbole stehen scheinbar profanen Handlungen gegenüber, Fotokopien werden zu Masken und Fratzen und emotionale Leidenschaft erfährt sachliche Abkühlung in ihren komplexen und durchkomponierten Performance-Werken. Die Stücke schaffen Assoziationen, die auf Zuschauende gleichermassen anregend wie ab- stossend wirken können, die faszinieren und irritieren und die - in jedem Fall – berühren weil sie etwas Urtypisches ansprechen und somit zur Auseinandersetzung drängen.
Mit den künstlerischen Ansätzen, denen Micha Stuhlmann nachforscht, knüpft sie an eine lange Tradition des deutschen und japanischen Ausdruckstanzes, Butoh genannt, an. Dabei bleibt sie aber nicht in einer Nachkriegswelt stehen, sondern schafft es, diese im Butoh begriffene „Entdeckungsreise ins Unbewusste, als Reich der Vorstellung und Schatten“ und das Untersuchen der Vor-Geschichte der Menschheit in ein Hier und Jetzt zu transferieren und ihre eigene Bewegungs- und Performancesprache mit modernen und postmodernen Mitteln zu entwickeln. Arbeiten wie: „Pauline war allein zu Haus“ zeigen das.
Seit 2012 geht sie ihren künstlerischen Weg alleine und zeichnet sich als Solokünstlerin auch auf internationalen Bühnen aus. Dies ist ein grosser Schritt. Das System Micha Stuhlmann, wie sie es nennt, braucht jetzt Raum und Zeit. Freiraum, indem neue Kontakte geknüpft und Arbeitsgebiete erweitert werden können. Freiraum, der Figur „Pauline“ in einer weiteren Entwicklung Aufmerksamkeit zu schenken und um in ihrem Atelier über neuen Arbeiten wie „Breathing Creatures an Vibrating Landscapes“ zu brüten.
Diese künstlerische Eigenständigkeit und Weiterentwicklung möchte die Jury fördern. Wir glauben, dass der Zeitpunkt gegeben ist, der Entwicklung von Micha Stuhlmann als Performance-Künstlerin Nachdruck zu verleihen. Massgebend für die Entscheidung wa- ren dabei sowohl die konkreten Schaffensvorhaben als auch die bereichernde Eigenwil- ligkeit, die nun konstant weiter getrieben werden soll.
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Elisabeth Tschiemer, Verlegerin, zu Bettina Wohlfender
Wir richten heute den Fokus auf eine Sprachzweiflerin, die mit den Mitteln der Sprache versucht, ihre Leser zu überzeugen, dass Sprache nicht ausreicht, um eine Geschichte zu erzählen. Bettina Wohlfender stellt Fragen: an sich, an die Umwelt, an ihre Texte, ihre Bilder. Sie oszilliert zwischen bildender Kunst und literarischem Schreiben, experimentiert mit Worten und Klängen und vertieft sich in die unterschiedlichen Ebenen von Sprachen. Wie verhalten sie sich zueinander, wo laufen sie parallel, wo verbinden sie sich und wo brechen die gemeinsamen Muster ab? Was lässt sich besser durch Laut- und Zeichenketten ausdrücken, was eher mit Bleistift, Draht, Acryl, Linol?
Bettina Wohlfender hat an der Universität Freiburg studiert. An einer Sprachgrenze. Neben der Sozialpolitik und der Sozialarbeit hat sie sich dort den vergleichenden Religionswissenschaften zugewandt. Einer Disziplin, die Überlieferungen interpretiert und sich mit den sinnstiftenden Konstruktionen unserer Welt beschäftigt. Dabei geht es in dieser Disziplin nicht ums Bewerten oder Aufspüren von Wahrheit, nicht um Urteile, nicht um Wahr oder Falsch. Sondern um das Deuten und Verstehen von Bildern und Sprache im Kontext kultureller und sozialer Handlungen.
Haben die Seminare und Vorlesungen im kulturellen Grenzland zwischen der deutschen und der französischen Schweiz das Interesse für Schnittstellen und Grenzen geweckt? Oder hatte die Studentin Wohlfender die grenzüberschreitende Sicht aus dem Thurgau mit ins Üechtland genommen? – Wir wissen es nicht –, aber es sei während eines Studienaufenthaltes in Neapel gewesen, dass sich die künstlerische Sicht vor die wissenschaftliche gedrängt habe. Weckten seismische Wellen und Schwefeldämpfe das künstlerische Potenzial der Studentin? Oder waren es die Begegnungen mit anderen Künstlern, die diese Facetten ihrer Produktivität an die Oberfläche holten?
Ihr Buchprojekt «Das Observatorium» – angesiedelt am Fusse des Vesuvs – gibt darüber keine Auskunft. Es gibt aber Einblicke in ihr literarisches Schaffen und Experimentieren. Ein Experimentieren, das sie während ihres Zweitstudiums am Schweizer Literaturinstitut in Biel und am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig weiter verfolgt und professionalisiert hat. Als Grenzgängerin lotet sie ihre Ausdrucksmöglichkeiten aus: Was kann mit Worten, was mit Bildern ausgedrückt werden, wo ist Schweigen mehrsagend? Ihre Figuren sind auf der Suche nach Erkenntnissen, lassen sich aber nicht durch wissenschaftliche Messresultate blenden. Sie wissen um den Faktor Mensch, und um die Explosivität der Nähe. Wie wenig kann gesagt werden, damit eine Verständigung noch gelingen mag? Nicht als Spiel – sondern als Frage der Notwendigkeit. Das Reduzieren und Verdichten bringt ihre Texte zum Klingen, sie werden musikalisch, verweben Erzählstrang mit lyrischen Assoziationsketten – es könnten Bilder daraus werden, Collagen oder Videoclips.
Obwohl ... das schnelle Medium ist Bettina Wohlfender suspekt und der Literaturbetrieb sowieso – Einblicke ins Karussell der Eitelkeiten in Klagenfurt haben die Autorin erschreckt: Sie sucht lieber die Einsamkeit abgeschiedener Orte auf, nahe der Polkappen in Bergen beispielsweise oder in den kargen Vulkanlandschaften Islands. Dort kann sie sich auf die Sprache konzentrieren und bringt sie die Stärken und Schwächen der von ihr erschaffenen Figuren zum Klingen. Sie überprüft und befragt: Haben sie Bestand auch aus der Sicht der Malerin, der Objektkünstlerin, der Wissenschaftlerin? – Sind sie über- setzbar? Wären sie auch möglich in einer anderen Sprache? In Albanisch, Suaheli, Isländisch, Französisch oder Englisch – Sprachen mit denen die Autorin vertraut ist?
Ihre Skepsis gegenüber der vom Markt favorisierten Erzählform, dem Roman, lässt sie im Gespräch antönen. Den anhaltenden Trend autobiografischer oder historischer Romane kann und will sie nicht mitmachen. Die Chancen des Web 2.0 betrachtet sie zurückhaltend. Eine Nostalgikerin, verloren in der Gutenberggalaxis also? Kaum. Zu hintergründig ihre Protagonistinnen, zu pfiffig ihre Installationen, zu konzentriert ihre künstlerische Auseinandersetzung in einer Sprache, die den Leser mitnimmt auf eine sprachgewaltige Reise. Und ohne festzulegen, wohin das Abenteuer führt.
Keine seismologisch messbare, aber doch eine spürbare Welle der Anerkennung ihrer Arbeit schicken wir mit dem Förderbeitrag in ihre Richtung, damit ihr flirrendes – bereits auf 60 Seiten angewachsenes – Textfragment zum Buch wachsen kann, in der ihr eige- nen sprachlichen Qualität und Dichte. Ihr Resultat sähe Bettina Wohlfender am liebsten in Blei gesetzt, in einer Manufaktur gedruckt und handwerklich schön gebunden – doch vielleicht entwickelt es sich auch zum E-Book für den Reader. Denn, wie das von ihrer Protagonistin Birke gemalte Inferno, muss man Bilder manchmal auf den Kopf stellen – und kann ein künstlerisches Experiment in unerwarteten Erscheinungsformen aufgehen.
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Raphael Jost und Band
Raphael Jost – Vocals, Piano
Lukas Brügger – Tenor Sax)
Raphael Walser – Double Bass
Jonas Ruther – Drums
www.raphaeljost.ch
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