von Brigitte Elsner-Heller, 31.10.2022
Mit einer gewissen Bestürzung
Geppetto hat Pinocchio geschnitzt, Geppetto tritt nun aus dem Off der Geschichte auf die Bühne. Als Koproduktion der Theaterwerkstatt Gleis 5 mit der Compagnia Dimitri/Canessa. Ein Seelen-Abenteuer für Erwachsene. (Lesedauer: ca. 3 Minuten)
Es war einmal – kein König, keine Prinzessin, nicht einmal ein armer Bauernsohn (obwohl dies der Geschichte schon näher käme). Nein, es war einmal ein Holzscheit. Und aus diesem schnitzte Giuseppe, der im Dorf nur den Spitznamen Geppetto trug, eine Holzpuppe.
Die wiederum wurde zu einem Schlingel, der in die Welt hinaus zog, allerhand Unsinn anstellte und seinen „Vater“ Geppetto zu einem Vater machte, der die Holzpuppe mit der langen Nase so innig liebte, dass er sie suchte und suchte. Um am Ende in Pinocchio doch noch einen „richtigen“ Sohn zu bekommen.
So jedenfalls in «Le avventure di Pinocchio», einer Fortsetzungsgeschichte für Kinder, die Carlo Collodi von 1878 an zunächst in einer Zeitschrift veröffentlichte.
Wer ist Geppetto?
Auch wenn das frühe Kinderbuch als Entwicklungsgeschichte nicht frei von erzieherischen Ansätzen ist, so ist seine Pädagogik nicht so schwarz wie etwa die deutschen Werke von Wilhelm Busch und Konsorten in Struwwelpeter, Max und Moritz oder Ähnlichem. Kinder durch die Schrotmühle zu drehen: Da eröffnen sich Abgründe.
Was die Theaterwerkstatt Gleis 5 als Koproduktion mit der Compagnia Dimitri/Canessa (Livorno) jetzt auf die Bühne bringt, ist – unter anderen Vorzeichen! – ebenfalls nicht das, was man sich unter einer Kindergeschichte mit bunter Holzpuppe mit langer Nase vorstellt.
Denn „Geppetto“ orientiert sich am Roman «Mastro Geppetto» von Fabio Stassi (2019) und erzählt, wie der Titel unschwer erkennen lässt, die oder doch eine mögliche Geschichte über einen Mann ohne Familie, der im Dorf als Spinner angesehen wird, und der seine Liebe zum Leben, seinen Traum eines würdigen Lebens, als Fantasie mit einer Holzpuppe auslebt.
Eine Geschichte für Erwachsene, zu gross noch für (hoffentlich gut aufgehobene) Kinder, zu vielschichtig auch. Ist Geppetto einfach nur verrückt? Was verstehen wir von ihm?
Auf der Bühne
Es war einmal – eine Guckkastenbühne. Oder sogar zwei. Denn ein offenes Metallgestell spannt in der Frauenfelder Inszenierung einen Kubus als „Bühne auf der Bühne“ auf. Gerade so, wie in der Kunst das „Bild im Bild“ bekannt ist, ein Phänomen, über das eine weitere Reflexionsebene ins Spiel gebracht wird.
Begleitet vom harmlos fröhlichen Dreivierteltakt eines Walzers (Originalmusik: Morten Qvenild) betreten Federico Dimitri und Noce Noseda die Spielarena, greifen zu Puderschminke, um das Signal zu setzen, dass es nun um Schauspieler und ihre Rollen geht. Wer dann was „sein“ wird, hat mit den unterschiedlichen Spielebenen zu tun, mit denen atemberaubend zu jonglieren sein wird.
Der allergrösste Clown der Welt
Im Grundton ist alles grau gehalten, doch schon finden sich Geppetto (Federico Dimitri) und der Zirkusdirektor, mit dem es Geppetto dereinst zu tun bekommen wird (Noce Noseda) in einem Zirkusvarieté wieder. Geppetto ist nicht mehr als „der allergrösste Clown der Welt“. Doch ist er das?
Die Lichtfarbe schwenkt ins Warme (Lichtdesign: Marco Oliani), Geppetto befindet sich nun im inneren Bühnenraum, in diesem Metallkäfig, der ihn begrenzt, seine Fantasie aber nicht beschränken kann. Ist es schon der Bauch des Hais, in dem Geppetto und Pinocchio sich nach Carlo Collodi endlich wieder finden? Pulsierende Klänge leiten alle Empfindungen nach innen, so wie ein Wehenschreiber von einem Leben zeugt, das gerade nicht für alle sichtbar ist.
Wo sind wir?
„Aber: Wie kommt er zu diesem Punkt? Wie kommt Geppetto hierher?“ Eben noch selbst in der Rolle, in der Fantasiewelt des Schnitzers, tritt Federico Dimitri vor die Geschichte, tritt in Dialog mit Noce Noseda, der ebenfalls einen erzählenden und damit reflektierenden Part übernimmt.
Nun also zum Anfang, zum Beginn der Geschichte um Geppetto und die Puppe „mit dem schönen Lächeln auf dem Mund.“ Pantomime kommt ins Spiel, das Licht spielt freudig mit, während das Klavier sich klanglich zurückzieht und der süsslichen Melodie einer Spieluhr Platz macht.
Zeit fürs Erzählen
Pinocchio kommt alsbald auf der Arbeitsfläche eines Overheadprojektors als Figur aus Papierstücken sichtbar ins Leben. Eine Melange aus Puppen- und Schattenspiel versetzt die Geschichte in eine Welt, in der noch Zeit fürs Erzählen gewesen sein mag, in die Zeit der eigenen Kindheit.
Und während Noce Nosedas Spiel den Ablauf der gezeigten Geschichte strukturiert, wird Federico Dimitri immer mehr zu Geppetto. Die originale Pinocchio-Geschichte läuft im Hintergrund als Vorlage ab, während sich nun Geppetto auf der Suche nach Pinocchio im Wald wiederfindet.
Welche Geschichte wird eigentlich erzählt?
Cut. „Du hast aber schon verstanden, wie die Geschichte gelaufen ist?“ Der „rationale Erzähler“ (Noseda) ruft seinen Mitspieler zur Ordnung, in die – vermeintliche – Realität zurück. Das Wechselspiel der Ebenen wiederholt sich aber ein ums andere Mal, je nach Abenteuer, das Pinocchio erlebt hat.
Doch der träumende Geppetto-Erzähler setzt sich immer wieder durch, beharrt auf dieser Erzählung, auf seiner Realität. Und so wird der Darsteller Federico Dimitri mal zum sterbenden Geppetto, der keinesfalls tot sein will, der sich dann auch der These gegenüber taub stellt, Pinocchio sei am Galgen gestorben.
Auf das vehemente „Pinocchio gibt es nicht!“ seines Gegenübers reagiert er mit dem tobenden Ausbruch eines Wahnsinnigen. Begleitendes pulsierendes Dröhnen. Die Läuterung?
Die Vorstellung von einem guten Leben
„Du weisst nicht, wer ich bin! Ich bin Geppetto, der Vater von Pinocchio!“ Auch wenn beide Akteure aus dem inneren Zirkel des Spiels erneut herausgetreten sind und sich den Schauplatz quasi von aussen betrachten, verschwimmen die Ebenen, bleibt der Geppetto-Erzähler (Federico Dimitri) seiner Vision verhaftet.
Dem rationaleren „Erklärer“ bleibt nur der fassungslose, von leiser Bewunderung durchdrungene Einwurf: „Wie macht er das? Warum gibt er nicht auf?“
Die sensible Inszenierung von Elisa Canessa kommt zurück zum Ausgangspunkt der Aufführung, vielleicht zu Jona in den Bauch des Hais. Dann wieder in den Zirkus mit Geppetto als Clown. „Er sucht ihn, er sucht ihn, er findet ihn am Schluss.“
Geppetto malt sich unerschütterlich das gute Ende aus – auch wenn die Dinge „mit einer gewissen Bestürzung enden“, wie sein Gegenüber regulierend eingreifen will. Und er findet (in seiner Vision?) schliesslich ein echtes Kind. „Ich wusste, dass du die Geschichte nicht verstanden hast“, kommt als letzter Einwurf des Gegenparts. Aber auch der Satz: „Du gibst wirklich nie auf!“
„Geppetto erzählt uns von all jenen, die nach einem anderen Leben suchen und noch immer daran glauben, dass die Poesie in einer gewalttätigen und unsinnigen Welt überleben kann“, heisst es im Programmheft. Elisa Canessa, Federico Dimitri, Noce Noseda und Morten Qvenild glauben nicht nur an diese Kraft der Poesie, sie sind mit dieser Inszenierung selbst ein Teil davon geworden.
Die weiteren Aufführungstermine
Donnerstag, 10. November, 20 Uhr
Freitag, 11. November, 20 Uhr
Samstag, 12. November, 20 Uhr
Sonntag, 13. November, 17 Uhr
Donnerstag, 17. November, 20 Uhr
Freitag, 18. November, 20 Uhr
Samstag, 19. November, 20 Uhr
Sonntag, 20. November, 17 Uhr
Tickets gibt es hier.
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