von Sascha Erni, 17.05.2021
Schöner scheitern
Jazz, Video und Spoken Word: Unter dem Titel «Absurd Laut Camus» zeigt das multi-art-Ensemble «pulp.noir» vom 21. bis 23. Mai in Frauenfeld seine aktuelle Produktion. (Lesedauer: ca. 2 Minuten)
Seit dem Jahr 2004 experimentiert das Ensemble pulp.noir an der Schnittstelle von Musik, Performance mit Schauspiel und Tanz sowie Videokunst. Julia Maria Morf (Video), Meret Hottinger (Spoken Word), Maja Luthiger und Lavdrim Dzemailji (Onscreen Performance), Simon Huber (Sounddesign), Thomas Fischer (Multi-Art-Komposition) sowie das Jazz-Trio mit Eric Hunziker, Luzius Schuler und Paul Amereller haben sich in der Produktion «Absurd Laut Camus» die Frage gestellt: Wie geht das, in verrückten Zeiten nicht verrückt zu werden, sondern entschlossen zu handeln?
Nun wird man das Ergebnis im Eisenwerk sehen können. Eigentlich hätte die Performance bereits im März stattfinden sollen, aber dann machte Corona dem Team einen Strich durch die Rechnung. Jetzt sieht es gut aus: pulp.noir wird am 21. und 22. Mai zum ersten Mal überhaupt auf einer Thurgauer Bühne stehen. Am 23. Mai folgt die zum Projekt gehörende Installation.
Umgang mit desillusionierter Lähmung
Im Gespräch muss Julia Morf lachen. «Nein, die Idee hatte nichts mit Corona zu tun, aber die Produktion passt nun noch besser in unsere Gegenwart als zuvor.» Entstanden war das Projekt 2019, da sei die Ausgangslage eine andere als heute gewesen. Das Ensemble beschäftigten damals neben persönlichen Rückschlägen politische Rückschritte, stark an Fahrt aufnehmende reaktionäre Tendenzen und der drohende Zerfall der EU.
«Es hatte zuvor so ausgesehen, als sei die Welt auf einem Trip der Gemeinsamkeiten, der Integration und Zusammenarbeit. Aber es gab immer häufiger Clashs, eine Verhärtung der Fronten.» Die geraubten Illusionen und der Umgang mit der daraus entstehenden Lähmung, darum dreht sich das Projekt. Eigentlich.
arttv.ch über die Produktion «Absurd Laut Camus»
Pandemie als unfreiwilliger Projekttreiber
Heute passe «Absurd Laut Camus» wie die Faust aufs Corona-Auge. Das halbe Land verharre in Lethargie, beobachtet Julia Morf. «Wenn es schon vorher schwierig war, als Kunstschaffende weiter zu machen, ist es nun praktisch unmöglich, da es kaum Perspektive gibt.» Man sei gezwungen, Aufführungen wie diejenige vom März in Frauenfeld kurzfristig abzusagen, nichts sei wirklich planbar. Und im Hinterkopf immer der Gedanke: Vielleicht macht man irgendwann gar nichts mehr? Und damit verbunden die Frage, wie man diese Lähmung überwinden könnte. «Ja, Corona hat das Projekt unfreiwillig auf eine neue Ebene gehoben.»
Interdisziplinärer Existenzialismus
Formell steht für pulp.noir die interdisziplinäre Arbeitsweise im Zentrum, sie ist dem Ensemble genau so wichtig wie der Inhalt des Projekts. Julia Morf schätzt die Verschränkung von Sprache, Musik, Video, Schauspiel und Raum sehr – ein Alleinstellungsmerkmal des pulp.noir-Ensembles.
Für das Projekt haben die Kunstschaffenden Zitate des französischen Schriftstellers und Philosophen Albert Camus gesammelt und überarbeitet. «Camus war quasi unsere Leitfigur, um gegen die Lähmung und Zwecklosigkeit anzukämpfen», erklärt Julia Morf. «Denn man soll gegen Zwecklosigkeit kämpfen, im Wissen, dass man ihr nicht entrinnen kann.»
Die Performance konzentriert sich auf den Moment, das Hier-und-Jetzt, wie es Julia Morf nennt. Denn wenn man sich besagter Zwecklosigkeit bewusst sei, dann zähle nicht das Ziel, sondern allein das Handeln eben in diesem Hier-und-Jetzt. «Und wenn dies das einzige ist, was wir mit Sicherheit haben, werden wir ohne Zögern jederzeit alles geben.»
Warum man scheitern, aber nicht aufgeben darf
Aufs Publikum warten im Eisenwerk viele Episoden, die immer positiv beginnen und sich dann ins Negative wenden. «Das Projekt ist ein einziger Reigen des Scheiterns», sagt Morf und lacht. Aber trotzdem möchte pulp.noir nicht nur Abgründe auftun und das Publikum darin versenken.
Denn bei all dem Scheitern auf der Bühne stehe immer ein trotziges Nicht-Aufgeben im Vordergrund. Die Künstlerinnen und Künstler wollen mit «Absurd Laut Camus» auch durchaus Lust vermitteln, ergänzt Julia Morf. «Und ich glaube, das tun wir auch.»
Termine: pulp.noir gastieren vom 21. bis 23. Mai im Eisenwerk. Der Eintritt ist frei. Die Platzzahl ist aber beschränkt. Die Gratis-Tickets gibt es hier.
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