von Judith Schuck, 01.03.2023
Vom Kultobjekt zur Industrieware
300 Wildarten und rund 500 Zuchtformen weltweit. Das Naturmuseum Thurgau arbeitet mit der Ausstellung «Hühner – unterschätztes Federvieh» eine Kulturgeschichte des vielgenutzten Tieres auf. (Lesezeit: ca. 3 Min.)
Wer die Ausstellung im Obergeschoss des Naturmuseums besucht, sieht sich gleich schon vor ein Rätsel gestellt: Was war am Anfang, das Ei oder das Huhn? Eine Installation aus überdimensionertem Ei, einigen Hühnern und einer eingerollten Gummischlange verweist auf die Lösung: biologisch gesehen natürlich das Ei, denn Eier legende Lebewesen gab es schon lange vor dem Huhn. Dinosaurier gelten als die direkten Vorfahren von Vögeln.
Verwandt mit den Dinos
«Wir können das heute noch an den schuppigen Füssen der Hühner erkennen», erklärt Hannes Geisser, Biologe und Leiter des Naturmuseums Thurgau. Die Federn wiederum hätten sich aus den Schuppen der Reptilien gebildet, ergänzt Catherine Schmidt, Zoologin und Museumspädagogin. Darum die Gummischlange, als Pars pro Toto der Urahnen und Reptilien.
Zu sehen ist eine Auswahl aus der Welt der grossen Hühnervielfalt, darunter Wildarten wie Fasan oder Alpenschneehuhn. Präsentiert werden die Präparate auf eidottergelben Holzkonstruktionen, die an Hühnerställe und dazugehörige Leitern und Gehege erinnern sollen. Die Ausstellung ist Nagel um Nagel für das Haus selbst konstruiert worden. Der Inhalt stammt allerdings aus dem Museum zu Allerheiligen Schaffhausen. Lediglich ein Huhn kommt aus der Sammlung des Thurgauer Naturmuseums, die übrigen Präparate sind aus Schaffhausen oder dem Naturmuseum Bern entlehnt.
Ringo Starr, der gestruppte Paduaner
Geisser betont beim Rundgang, wie schwierig es sei, an die ausgestopften Hühner zu kommen; einige bedürften eines besonderen Schutzes und werden hinter Glas gezeigt. Neben einem sehr stattlichen Hahn mit weissen Federschuhen oder «Ringo Starr», wie der Museumsleiter sein hellbraunes Lieblingshühnchen mit Beatles-Frisur nennt, dessen richtiger Name gestruppter Paduaner ist, sind die wahrscheinlichen Urahnen unseres heutigen Haushuhns zu sehen.
Das Haushuhn stammt aus dem asiatischen Urwald, wurde nach neuesten Erkenntnissen erst vor 3500 Jahren domestiziert und stammt vom Bankivahuhn sowie dem indischen Sonnerathuhn ab. Zum biologischen Wissen gesellt sich eine kulturgeschichtliche Spurensuche. Während wir heute in der Schweiz pro Kopf und Jahr durchschnittlich 15 Kilogramm Pouletfleisch und rund 200 Eier verzehren, liegt der Ursprung der Domestizierung weniger im Nahrungsmittel «Huhn», sondern eher in der Kulturpraktik des Hahnenkampfes.
Animation zur Kulturgeschichte
Bevor das Huhn den Stellenwert als eines der wichtigesten Nutztiere erlangte, war es zunächst Kultobjekt und wurde verehrt, ehe es verzehrt wurde. Dies vermittelt die Animation «verehrt und verzehrt» von Urs Weibel, stellvertretender Direktor des Museums Allerheiligen Schaffhausen, das die Ausstellung konzipierte, und Johannes Stieger, in aller Kürze und anschaulich im Nebenraum. Bei den Persern galt das Huhn als heilig, beim Orakel der Griechen hatte es eine wichtige Funktion inne, auch die Römer gaben dem Federvieh Kultstatus, begannen es aber nebenbei schon für den Kochtopf zu züchten.
Und wer kennt sie nicht, die berühmte Heilkraft der Hühnersuppe, der eine antibiotische Wirkung gegen Infekte nachgesagt wird? In Klöstern begann schliesslich eine zielgerichtete Zucht auf Eier- und Fleischgewinn.
Kulturspezifisches Verhalten beim Hahnenkampf
Doch zurück zum Hahnenkampf, der in Asien vor Jahrtausenden am Anfang der Hühnerhaltung gestanden haben soll: Der Anthropologe Clifford Geertz wohnte 1958 mit seiner Frau bei einer Forschungsreise auf Bali den traditionellen Hahnenkämpfen bei. In seinem bekannten Aufsatz «Deep Play – Notes of the Balinese Cockfight» zeigt er den kultursemiotischen Gehalt dieses Stellvertreterkampfes auf, in dem die jeweiligen Hähne für ihre Halter in den Ring gehen und diesen repräsentieren. Das Ritual des Hahnenkampfes deutete Geertz als kulturelle Performance, mit deren Hilfe sich die balinesische Kultur beschreiben lässt.
«Ihre Haltung findet heute hinter verschlossenen Türen statt.»
Hannes Geisser, Museumsleiter
Auch in unserer westlichen Kultur gehörten die Hühner lange Zeit zum Alltag. «Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts war das Huhn omnipräsent», sagt Hannes Geisser. Zumindest im ländlichen Raum seien die meisten am Abend mit Hühnerdreck an den Schuhen heimgekehrt, hatte doch bald jede Familie ein paar Hühner. Obwohl es heute deutlich mehr Hühner gibt, sind sie aus unserer Wahrnehmung verschwunden.
Leistung, Ertrag, Produktion und Gewinn
«Ihre Haltung findet heute hinter verschlossenen Türen statt», gibt Geisser zu Bedenken, die vergleichsweise «glücklichen» Hühner, die auf dem Hof nach Würmern scharrten, seien zum technischen Business verkommen. Heute dreht sich alles um Leistung, Ertrag, Produktion und Gewinn. Eindrucksvolle Zahlen belegen, wie das Wachstum beim Masthuhn und die Legeleistung bei der Legehenne seit den 1950er Jahren hochgefahren, respektive hochgezüchtet wurden.
«Diese Hybridarten müssen gezüchtet werden, das läuft nicht genetisch ab», gibt Catherine Schmidt zu bedenken. Die Züchtung sei sehr aufwendig und werde weltweit von drei Grosskonzernen dominiert. Immerhin konnte sich das Poulet-Land Schweiz 1992 einen Erfolg als Vorreiterin verbuchen, indem sie die Käfighaltung bei den Legehennen abschaffte.
Wissensvermittlung ohne Belehrung
Informativ und aus unterschiedlichen Blickwinkeln nähert sich «Hühner – unterschätztes Federvieh» an die weitverbreitetste Vogelart an und ist bis zum 11. Februar 2024 in Naturmuseum zu sehen. Der Museumsleiter nimmt sich für diese lange Ausstellungszeit heraus, auch auf aktuelle Geschehnisse wie eine mögliche Ausbreitung der Vogelgrippe zu reagieren, und dieses Thema bei Bedarf aufzunehmen.
Ausserdem wird die Ausstellung durch ein vielfältiges Rahmenprogramm ergänzt. Bewusst wird auf Belehrung und Bilder aus der Massentierhaltung verzichtet. Die Ausstellung soll Wissen vermitteln, die Besucher:innen können anhand dessen selbst ihr Verhalten reflektieren oder die Fakten schlicht zur Kenntnis nehmen.
«Hühner – unterschätztes Federvieh»
Eröffnung:
2. März, 18 Uhr. Begrüssung durch Dr. Hannes Geisser, Leiter Naturmuseum Thurgau,
und Dr. Urs Weibel, Stv. Direktor Museum zu Allerheiligen Schaffhausen.
Öffnungszeiten:
Dienstag bis Freitag 14–17 Uhr
Samstag und Sonntag 13–17 Uhr
Montag geschlossen
Weitere Veranstaltungen: naturmuseum.tg.ch
Von Judith Schuck
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