von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter, 14.03.2017
Die Netzwerkerin
Seit gut einem Jahr leitet Judit Viliger das Haus zur Glocke in Steckborn. Schon jetzt ist ihr dabei ein kleines Wunder geglückt - sie hat den Ort als aussergewöhnliche Heimat für zeitgenössische Kunst etabliert. Wir haben das Haus und die Initiatorin vorab besucht
Wer in Steckborn unterwegs ist und das Haus Nummer 91 in der Seestrasse sucht, der findet es schneller, wenn er den Blick Richtung Himmel richtet. In dem Moment, in dem man eine luftige Installation dort entdeckt, ist man richtig. Die Installation heisst "Luftraumbrücke" und steht durchaus beispielhaft für das, was in diesem Haus zur Glocke passiert. Verbindungen werden geschaffen, Netzwerke aufgebaut und Menschen kommen ins Gespräch. Im April 2016, also vor fast einem Jahr, hat die Künstlerin Judit Villiger das Haus zur Glocke wieder eröffnet - und es binnen weniger Monate zu einem Hotspot für die zeitgenössische Kunst im Thurgau gemacht.
"Manchmal bin ich selbst überrascht, wie viel schon gelaufen ist", sagt Judit Villiger bei einem Gespräch in ihrem Haus. "Die Idee war immer, ein Netz aus Bezügen aufzuspannen. Ein Fokus liegt dabei auf den gängigen Arbeitsformen in der Kunst. Mit Künstler-Kollektiven, mit Tandems und mit einzelnen Künstlerinnen und Künstlern soll das Denken und Arbeiten in der Kunst durch die Kunst befragt werden", erklärt Villiger ihren Ansatz. Sie arbeitet selbst auch als Künstlerin und ist zudem Dozentin für Kulturvermittlung an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK). Vielleicht auch wegen dieser Doppelrolle versucht sie immer, beide Welten zusammen zu bringen. Was sie besonders interessiert, ist eine Kunst, die gesellschaftliche Fragen aufwirft.
Ein Ziel: Miteinander ins Gespräch zu kommen über Kunst, Gesellschaft und Leben. So kann das aussehen bei den Performances im Haus zur Glocke. Bild: Samuel Schütz
Mit dem Haus zur Glocke hat sie sich jetzt eine eigene Spielfläche für ihre Ideen geschaffen. Und was für eine. Das Haus aus dem 14. Jahrhundert ist liebevoll und behutsam renvoviert worden. Ganz gleich, wo man hinschaut: in jeder Ecke des Hauses wimmelt es nur so von Geschichten. Und auch das ist ein Stück weit der Ansatz von Judit Villiger. In einem Haus mit Geschichte, Geschichten zu erzählen über und mit Hilfe des Mediums Kunst. "Wir wollten einen Raum schaffen, der das Gespräch über Kunst und Gesellschaft eröffnet", sagt die Hausherrin.
Judit Villiger wurde in Luzern geboren und ist in Stettfurt aufgewachsen. Sie kennt den Kanton also ziemlich gut. Nach Stationen in New York und Zürich ist sie für das Haus zur Glocke vor drei Jahren zurück in den Thurgau gekommen. Warum? "Ich habe das Gefühl, hier nochmal ganz anders wirken zu können als in einer Grossstadt", sagt sie. Ihre Idee ist nicht die eines elitären Kunsttempels, das Ziel ist vielmehr, Begegnungen zu schaffen. Möglichst unterschiedliche Menschen sollen ins Gespräch kommen - über Kunst, Gesellschaft und das Leben. Damit dies glückt, ist das Haus zur Glocke eben nicht nur Ausstellungs-, sondern auch Erlebnisort. Die Tradition, im ehemals halböffentlichen Haus zur Glocke für spezielle Anlässe ein Restaurant mit einfachen Gerichten zu betreiben, hat sie aufgegriffen und mit vielen Helfern zu neuem Leben erweckt. Mit bewusst niederschwelligen und lebensnahen Angeboten will sie die Mischung des Publikums möglichst vielfältig halten.
Kunst zum Anfassen und Staunen: Das Haus zur Glocke will seinen Besuchern Erlebnisse ermöglichen. Bild: Kasper Schweizer
Beispielhaft dafür steht ein aktuelles Projekt an dem Judit Villiger mit der Künstlerin Karen Geyer arbeitet. Unter dem Thema "Oral History" zu Kunst- und Hausgeschichte erzählen Steckbornerinnen und Steckborner aus ihren Erinnerungen an das Haus zur Glocke und welche Verbindungen sie mit dem Haus haben. Am Ende geht es auch darum, Geschichten aus der Vergangenheit mit den Mitteln der modernen Kunst zu erzählen. Und natürlich auch darum, die vielen persönlichen (Liebes-)Geschichten der Menschen zu bewahren. Eine Arbeit, die mitten ins Herz zielt. Wie könnte man Menschen leichter für Reflexion über Geschichte, Kunst, Gesellschaft und das Leben gewinnen als über das universale Gefühl der Liebe? Wenn alles gut läuft, dann könnte die fertige Arbeit 2018 im Haus zur Glocke gezeigt werden.
Daran erkennt man auch, was Judit Villiger bei der Auswahl der Kunstprojekte wichtig ist: "Die Arbeiten sollen nicht aus dem Atelier kommen und hier schlicht abgestellt werden. Sie müssen für den Ort angepasst werden und sich irgendwie damit auseinandersetzen", erklärt sie. Ausstellungsmöglichkeiten gibt es in dem Haus auf allen vier Geschossen - vom Salon im Eingangsbereich bis unters Dach auf dem Dachstuhl. Was die Räume eint ist, dass sie alle eigen sind. Irgendwie schief, schräg, verschroben und zudem voller Geschichte stecken. Damit muss man als Künstler auch erstmal klar kommen. Diesen wirkmächtigen Räumen etwas Ebenbürtiges entgegen zu stellen, ist für die meisten die grösste Herausforderung. Bislang ist es jedoch fast immer geglückt.
Starke Orte brauchen starke Kunst: Auch auf dem Dachboden des Hauses gibt es interessante Ausstellungsflächen. Bild: Samuel Schütz
Judit Villiger ist mit dem ersten Jahr des neuen Haus zur Glocke zufrieden. "Wir haben viel auf die Beine gestellt, so wollen wir weitermachen", sagt sie. Unter anderem will sie Kooperationen mit dem Phönixtheater und anderen Einrichtungen in der Region ausbauen. Finanziert wird das ganze Projekt zu rund ein Dritteln aus Eigenleistungen, die restlichen Mittel kommen aus öffentlichen Zuschüssen (Kulturstiftung des Kantons, Internationale Bodensee Konferenz, Stadt Steckborn und weitere) sowie von privaten Gönnern. Wer will, kann das Haus zudem für private oder geschäftliche Anlässe mieten.
Fünf Jahre will Judit Villiger das Haus jetzt erstmal führen. Erst danach sei es Zeit für eine Bilanz, ist sie überzeugt. Wer will, dass das Haus zur Glocke auch darüber hinaus so betrieben wird, wie es jetzt geschieht, der muss einfach immer wieder hingehen.
Video: Judit Viliger als Künstlerin. Beitrag von Art-TV.ch aus 2011
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