von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter, 20.12.2021
Ausgeträumt
Florian Rexers Neuinterpretation des Peter-Pan-Stoffes fehlt der konsequente Mut für die Zwischentöne. Am Ende obsiegt bei «P. Pan» der Klamauk. (Lesedauer: ca. 3 Minuten)
Ganz ehrlich: Wer würde gerade nicht nach Nimmerland fliehen wollen? Raus aus dieser Pandemie-Tristesse-Dauerschleife, rauf auf dieses zauberhafte Eiland, wo Feen und Naturgeister leben, wo alles möglich ist und an jeder Ecke Abenteuer warten, die natürlich immer gut ausgehen. Insofern war es eine kluge wie weitsichtige Wahl von Regisseur Florian Rexer und Programmleiter Andreas Müller diesen Peter-Pan-Stoff inmitten des zweiten Corona-Winters anzusetzen.
«P. Pan» heisst die Geschichte in ihrer Version. Das klingt erstmal schön offen, schliesslich spielt es keine Rolle, ob diese magische wie mutige Figur Peter oder Petra heisst - starke Persönlichkeiten können Mädchen genauso wie Jungen sein. Die Inszenierung von Florian Rexer legt sich da nicht richtig fest.
Zwar spielt die Schauspielerin Melanie Schütz die Rolle des P.Pan, aber sie legt die Figur so wandlungsfähig und androgyn an, dass eine Ausdeutung in beide Richtungen möglich wäre. Vielleicht, so könnte man eine Aussage dieser Inszenierung lesen, ist die Geschlechterfrage in dieser Geschichte einfach vollkommen irrelevant.
Worum es eigentlich geht
Autor James Matthew Barrie hatte seinen Peter Pan zu Anfang des 20. Jahrhunderts erdacht, kein Wunder also, dass Regisseur Florian Rexer für die Premiere im Kulturforum Amriswil zwar das Grundgerüst des Stoffes beibehielt, ansonsten aber frei in der Gestaltung waltete.
Kurz zur Erinnerung die Ausgangslage des Stücks: Reiche, materiell verwöhnte und gleichzeitig seelisch vernachlässigte Kinder (sie werden von Bediensteten unterhalten und zu Bett gebracht, dürfen aber nicht draussen spielen) sehnen sich nach Abenteuern. Mit der Kraft des Traumes und der Magie reisen sie in Pans Nimmerland, überstehen Gefahren und entwickeln erstmals so etwas wie ein echtes Selbstbewusstsein.
Aktualisiert wird, was der Unterhaltung dient
Rexer reduziert das Stück auf das Wesentliche. Er aktualisiert vor allem die Sprache, gibt Pans Schatten eine grössere Bedeutung als im Originalstück, baut zeitgenössische popkulturelle Elemente wie einen Talentebattle ein (ein Stilmittel, das der Regisseur offenbar mag: bei Rexers «Oli Twist» vor zwei Jahren wurde um die Wette getanzt, nun duellieren sich die Kinder im Witze erzählen) und schickt schliesslich nicht Wendy, Michael und John Darling auf die Reise nach Nimmerland, sondern Wendy, Michael und Moira Darling.
Und dann macht der Regisseur auch noch aus dem 2016er-Hit „Lost boy“ der kanadischen Sängerin Ruth B kurzerhand ein „Lost girl“ (wenn es live gesungen war, dann war es grossartig interpretiert von Lena Pallmann). Der Song erzählt die Geschichte von Peter Pan und den verlorenen Kindern auf seine Weise. Aktualisiert wird bei Florian Rexer eben alles, was der Unterhaltung dient. Der Rest bleibt bisweilen in einem Setting aus dem Jahr 1904 stecken.
Die zwei schönsten Momente des Stücks
Trotz dieser Unentschiedenheit in der Regie gibt es zwei sehr schöne Momente in der Inszenierung. Der erste zeigt den Flug der Darlings mit Pan nach Nimmerland. Das einfache, aber sehr flexible und rollbare Bühnenbild (Natalie Péclard) aus mehrere Meter hohen Gerüstteilen ermöglicht die Illusion des Fliegens und trifft eigentlich genau den Kern der Geschichte - mit Fantasie ist alles möglich.
Die zweite bemerkenswerte Szene schneidet einen Monolog von Käptn Hook (Falk Döhler) und einen Dialog von Pan (Melanie Schütz) und seiner/ihrer Feenfreundin Tinker Bell (herrlich selbstironisch: Sarah Herrmann) gegeneinander. Während Hook von seiner Kindheit träumt, erwägt Pan, der/die doch eigentlich niemals erwachsen werden wollte, aus Nimmerland zu verschwinden und bei den Darlings zu bleiben, um ein echtes Leben zu führen.
Auf einmal scheint alles möglich
Es bleibt die einzige Szene, in der Regisseur Rexer Risse in den klassischen Figuren aufscheinen lässt und andeutet, dass alles auch ganz anders sein könnte. Das eröffnet für einen Moment ganz neue Räume. Von hier an könnte man den Stoff wirklich neu denken. Und ernsthaft in die Gegenwart holen.
Leider verlässt den Regisseur der Mut zu solchen Zwischentönen allzu bald wieder und er kleistert die aufgezeigten Risse mit Klamauk und Säbelgerassel wieder zu.
Und dann wirkt Nimmerland doch abgebrannt
Vor allem Falk Döhler kann einem ein bisschen leid tun, dass er in seiner Rolle als Hook nicht mehr Zwiespältigkeit ausspielen darf und in seinem johnnydepphaften Jack-Sparrows-Gehabe stecken bleiben muss. Er teilt dieses Schicksal mit seiner gesamten Piratencrew: Smee (Mischa Löwenberg), Rockbock (Jeremia Wick), Brezel (Jeanine Amacher) und Kitchen (Andreas Müller) bleiben in ihren Charakteren so flach, wie es der gewollte Klamauk eben zulässt.
Das bringt zwar Lacher, ist aber letztlich ein Verrat an James Matthew Barries Geschichte - da ging es doch gerade um die Kraft der Fantasie und von Fantasie ist in diesen Momenten der Rexer-Adaption wenig zu spüren. Nimmerland scheint abgebrannt.
Hat die Pandemie die Magie gekillt?
Als Zuschauer:in fragt man sich irgendwann, warum aus den vielversprechenden Ansätzen nicht mehr wurde. Vielleicht fehlten nach anstrengenden Proben unter Pandemiebedingungen Wille und Kraft für eine wirkliche Neuinterpretation des Stoffes. Am Ensemble liegt es am wenigsten: Die Mischung aus Profis und Laien steigert sich nach anfänglicher Premierennervosität im Laufe des Abends und trägt am Ende die Inszenierung.
Und wer weiss schon? Die Reise von «P. Pan» hat gerade erst begonnen. Es folgen weitere Aufführungen in Amriswil (27.bis 30.12.), Frauenfeld (14. bis 16. Januar), Bottighofen (11. bis 13. Februar) und Weinfelden (17. bis 19. Februar). Vielleicht wächst der Inszenierung dann das Paar Flügel, das ihr bei der Premiere noch fehlte.
Tickets
Tickets für die weiteren Aufführungen gibt es über die Website: https://theaterrexer.ch/ppan-tickets
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