von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter, 08.06.2018
Die Berührungskünstlerin
Sie ist Malerin, Fotografin und Twitter-Königin: Rahel Müller ist eine der vielseitigsten Künstlerinnen der Ostschweiz. Eine Begegnung
Pfyn also. Hierher, in die kleine Stadt mit der langen Römergeschichte, muss man fahren, um eine der vielseitigsten Künstlerinnen der Ostschweiz zu treffen. Fabrikstrasse 9, ein altes Industrieareal, im früheren Pförnterhäuschen hat Rahel Müller ihre kreative Heimat gefunden. Hier arbeitet sie, denkt nach, grübelt, schreibt und hinterfragt die Welt. Mit ganz verschiedenen künstlerischen Mitteln. Malerei und Fotografie stehen im Zentrum ihres Werkes, aber von ihr stammen auch Performances, Installationen, Kunst-am-Bau-Projekte und Texte. „Mir gefällt, dass ich nicht so festgelegt bin. Mein inneres Gefühl entscheidet darüber, mit welchem Material ich an einem Thema arbeite“, erklärt die Künstlerin ihre Vielseitigkeit.
Geboren 1964 in St. Gallen wusste die junge Rahel schon früh, dass sie was mit Kunst machen will. Sie ist 13 Jahre alt als sie das Bild eines Transvestiten malt. „Das war wahnsinnig hässlich und zugleich tief beeindruckend“, blickt Müller zurück, „in diesem Bild habe ich etwas gesehen, mein Weg war für mich danach klar.“ Linear verlief er allerdings nicht. Ihre erste grosse Einzelausstellung hat sie im Alter von 18 Jahren, sie entscheidet sich Kunstgeschichte, Philosophie und Psychologie an der Universität Zürich zu studieren. Das mit der Kunstgeschichte lässt sie dann aber schnell wieder bleiben: „Es hat meine eigene Kreativität extrem gestört. Dieses Pendeln zwischen Kunstvermittlung und Kunst-Selbermachen hat mich gelähmt“, sagt die Künstlerin. Ihre Konsequenz: Sie bricht das Kunstgeschichts-Studium ab, will lieber selbst künstlerisch schaffen. Dafür nimmt sie einige Jahre in Kauf, „in denen ich mich immer irgendwie durchgewurstelt habe“. Geht ins Ausland und arbeitet teilweise aus Italien, Portugal oder den USA. Ab 1990, so vermerkt es ihre Vita, ist sie dann auch offiziell als freiberufliche Künstlerin tätig. Arbeiten von ihr sind seit 1993 auch Teil der Sammlung des Kunstmuseum Thurgau.
Diese Arbeiten sind auch in der aktuellen Ausstellung der Galerie Adrian Bleisch zu sehen. Bild: PD
Sie interessiert sich für das Dahinter und das Dazwischen
An einem Dienstag im Mai ist Rahel Müller aufgeräumter Stimmung. Sie bereitet gerade ihre aktuelle Ausstellung „Im inneren Garten“ in der Galerie Adrian Bleisch in Arbon vor. „Dort zeige ich die Essenz meiner Arbeit der vergangene Jahre. Ich freue mich sehr darauf“, sagt sie. Die Botschaft ihrer Punkte-Bilder, die sie dort zeigt, ist etwas verkürzt zusammengefasst diese: Schaut nicht immer nach aussen, schaut auch mal nach innen. Wer jetzt vermutet die Künstlerin habe sich damit von der Wahrnehmung der äusseren Welt verabschiedet, liegt aber auch falsch. Das merkt man schnell, wenn man sich mal länger mit Rahel Müller unterhält. Wem dieses Glück vergönnt ist, der erlebt eine Frau, die sehr schnell zu den wesentlichen Themen unserer Zeit kommt: Reizüberflutung, das schwindelerregende Tempo unserer Zeit, der Jugendwahn und die Spaltungen in der Gesellschaft. „Alle wollen die Aufmerksamkeit haben, aber keiner gibt sie einem anderen mehr“, beschreibt Müller präzise den Zustand der Welt. Ihr Gegenmodell ist keine Abkehr von der Welt, aber doch ein Besinnen auf sich selbst, auf mehr Präsenz im Hier und Jetzt. „Viele Menschen verlieren sich im Verarbeiten von Vergangenem oder Planen von Kommendem. Da kann man die Gegenwart schon mal aus den Augen verlieren“, findet die Künstlerin.
Fokussierung, Konzentration, Verdichtung, das liegt auch in ihren neuen Arbeiten. Linien und Punkte haben sie schon immer interessiert, nicht aus einer geometrischen Neigung, sondern als thematische Setzung. Für sie ist das auch eine Form von Reduktion auf das Wesentliche. „Früher war ich expressiver in meinen Arbeiten, heute versuche ich mich immer mehr zurückzunehmen. Noch mehr Einfachheit zuzulassen“, sagt die 54-Jährige. Vielschichtig bleiben die Werke trotzdem. Je nach Licht, je nach Bewegung des Betrachters verändern sie sich. Das ist auch ein Wesen der Kunst von Rahel Müller, sie will Blickwechsel ermöglichen, Perspektiven aufbrechen. Sie interessiert sich für das Durchlässige, das Zerbrechliche, das Dahinter und das Dazwischen: „Nichts ist nur so, sondern immer auch so und so“, erklärt die Künstlerin dieses Prinzip. Eindeutigkeiten verschwinden, Gewissheiten gibt es nicht, man muss schon selber denken, um die Welt wirklich zu verstehen: Vielleicht ist das die aufrüttelndste Botschaft in Müllers Werk.
„Ich muss so leben, dass es für mich stimmt"
Sie passt jedenfalls zu einer Künstlerin, die immer ihren eigenen Weg gegangen ist. „Als Frau bin ich vielleicht harmoniebedürftiger, als Künstlerin reagiere ich viel kompromissloser“, hat Müller 2007 in einem Gespräch für das Heft „Facetten“ von der Kulturstiftung des Kantons Thurgau Martin Preisser anvertraut. Etwas anders formuliert sie es im Gespräch mit thurgaukultur.ch: „Ich muss so leben, dass es für mich stimmt, dass es sich für mich richtig anfühlt.“ Wäre sie ein Popstar, würde man wohl ihre Authentizität rühmen.
Gut möglich, dass diese Eigenschaft auch dafür verantwortlich ist, dass Rahel Müller recht erfolgreich auf Twitter ist. Mehr als 3600 Menschen folgen ihr dort. Einsilbig heisst ihr Account und hier setzt die 54-Jährige das um, was sie auch in der Malerei versucht - Reduktion auf das Wesentliche. „Ich wollte poetisch schreiben, aber sehr straff. Twitter mit seiner Zeichenbeschränkung bot da die perfekte Übungsfläche“, erklärt Müller. Lesen kann man dort zum Beispiel solche Tweets „in aller stille öffnet die nacht ihre juwelenaugen in mein herz hinein“ oder „du bist nicht der äussere schein, sondern die innere wirklichkeit“. Die Texte changieren zwischen leichter Kalenderspruchhaftigkeit und tiefer Poesie, sie eint aber eine sehr persönliche Perspektive.
Auch auf Twitter ist Rahel Müller alias einsilbig sehr aktiv
Wie viel Rahel Müller steckt wirklich darin? „Die Texte sind schon sehr persönlich, aber es ist nie 1:1 mein Leben, das ist es bei schriftlicher Kommunikation aber nie“, meint die Künstlerin. Ihre Tweets entstehen aus dem Moment, sind meistens skizzenhaft, manchmal rätselhaft, aber fast immer so, dass sie einen auf die eine oder andere Weise berühren. Genau das ist es auch, was die verschiedenen Arbeiten, die verschiedenen Talente von Rahel Müller verbindet: Sie vermögen zu berühren. Nicht das Schlechteste, was man über eine Künstlerin in diesen aufgeregten Zeiten sagen kann.
Termine: Die Ausstellung „Im inneren Garten“ ist noch bis zum 30. Juni in der Galerie Adrian Bleisch in Arbon (Grabenstrasse 2) zu sehen. Die Öffnungszeiten: Mi bis Fr 14-18 Uhr, Sa 11-16 Uhr oder nach Vereinbarung. Am Sonntag, 17. Juni, 11 Uhr, gibt es einen Rundgang mit Rahel Müller durch die Ausstellung.
Werk von Rahel Müller "Mondinnen" aus dem Jahr 2018. Pigmente, Graphit und Lack / Leinwand, 90cm x 120cm
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