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Ein Anker in unruhigen Zeiten

Ein Anker in unruhigen Zeiten
«Die Bibliothek ist nicht mehr nur Ort des Wissens, sondern auch Ort des Austausches geworden.» Bernhard Bertelmann, Leiter der Kantonsbibliothek Thurgau | © Michael Lünstroth

Das digitale Angebot ausbauen und trotzdem im echten Leben präsent bleiben: Bibliotheken stehen im 21. Jahrhundert vor grossen Aufgaben. Die Kantonsbibliothek Thurgau zeigt, wie dieser Spagat gelingen kann.

Es gab mal eine Zeit, da passte der gesamte Bestand der Thurgauer Kantonsbibliothek in einen einzigen Schrank. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts, die „Thurgauische Cantons-Bibliothek“ war gerade gegründet, umfasst sie eine Sammlung von Gesetzesbüchern, die als Handbibliothek für Ratsmitglieder und die obersten Gerichtsstellen gedacht waren. Johannes Morell, der erste Kantonsbibliothekar des Thurgau, bewahrte sie in seinem Schrank auf

Heute kann man sich keinen noch so grossen Schrank vorstellen, in denen all die über zwei Jahrhunderte gewachsenen Bestände der Kantonsbibliothek passen könnten. 316 000 Medien umfasst sie mittlerweile. Rund 60 000 im Freihandbestand, der Rest befindet sich im Magazin. Selbst in dem grossen Gebäude an der Frauenfelder Promenade, dem heutigen Sitz der Kantonsbibliothek, wird es angesichts dieser Zahlen manchmal eng. Richtig ideal ist das Gebäude, eine ehemalige Kantonsschule mit teilweise sehr langen Fluren, für eine moderne Bibliothek ohnehin nicht. Bernhard Bertelmann und sein Team haben gelernt, das Beste daraus zu machen. Seit sieben Jahren leitet Bertelmann die Thurgauer Kantonsbibliothek. Fragt man ihn nach der Bedeutung von Bibliotheken im 21. Jahrhundert, sagt er: „Wir ermöglichen den Zugang zu Wissen, damit die Menschen an der Gesellschaft teilhaben können.“

Versechsfachung der Ausleihzahlen elektronischer Medien innert 6 Jahren

Ein Satz, den wahrscheinlich all seine Vorgänger bis ins Jahr 1805 zurück unterschreiben würden und doch hat er heute wahrscheinlich besonderes Gewicht. In einer zunehmend verunsicherten Gesellschaft könnten Bibliotheken feste Anker sein, weil sie fundiertes Wissen zusammentragen. Und das heute längst nicht mehr nur messbar in Regalmeterlänge, sondern auch in digitalen Beständen. „Wir haben ein enormes Wachstum im digitalen Bereich. Die Zahl der Ausleihen elektronischer Medien hat sich von 2012 bis 2018 versechsfacht“, erklärt Bernhard Bertelmann. Die Kantonsbibliothek hat sich darauf eingestellt und ihr Programm entsprechend erweitert. Mit dem Bibliotheks-Ausweis bekommt man heute nicht mehr nur Zugang zu schriftlichen Quellen, sondern auch zu Film- und Musikstreamingdiensten wie Filmfriend und Freegal. Wenn es thematisch und zeitlich passt, dann bietet die Kantonsbibliothek auch ein regional angebundenes Angebot: Rund um die Ittinger Pfingstkonzerte in diesem Jahr wurde beispielsweise eine zum Festival-Programm passende Playlist bereit gestellt auf Freegal.

Das grosse digitale Angebot der Kantonsbibliothek spiegelt auch eine andere Besonderheit der Frauenfelder Einrichtung wider: Seit dem Ankauf der Stadtbibliothek Frauenfeld 1864 ist sie eben nicht nur Kantons-, sondern auch öffentliche Bibliothek für Frauenfeld und Umgebung. „Populäres und Wissenschaftliches - wir müssen beides bedienen“, bringt es Bernhard Bertelmann auf den Punkt. Deshalb gibt es digitale Angebote wie Filmfriend und Freegal, aber eben auch Zugänge zu Tageszeitungen, Magazinen und Fach- und Personenlexika.

Blick in den Eingangsbereich der Kantonsbibliothek Thurgau. Bild: Michael Lünstroth

 

Bibliotheken als Rückzugsorte einer durchkommerzialisierten Gesellschaft

Bei aller Hinwendung zum Digitalen dürfen Bibliotheken aber eines nicht vergessen: Dass sie auch  Orte für Begegnungen, Austausch und gemeinsames Lernen im analogen Leben bleiben. Bibliotheken kommt da in Städten eine ähnliche Rolle zu wie Museen: Sie sind Rückzugsorte in einer durchkommerzialisierten Gesellschaft. Hier kann man sich treffen und gemeinsam lernen, ohne den Zwang konsumieren zu müssen. „Wir sind offen und freuen uns über jeden Besucher, der zu uns kommt“, sagt Bernhard Bertelmann. In den nächsten Jahren sollen in der Kantonsbibliothek weitere Orte für gemeinsames Lernen geschaffen werden. Der Millionen-Nachlass von Walter Enggist erleichtert solche Investitionen.

Dass sie in Frauenfeld bereits heute ihre soziale Funktion in der Gesellschaft ernst nehmen, zeigen zwei andere Beispiele: Seit April 2018 ist die Bibliothek der Kulturen integriert. Das heisst, es gibt dort Bücher, CDs, Spielfilme, e-Books und Sprachkurse in vielen Sprachen. Viele der Veranstaltungen des Vereins Bibliothek der Kulturen  - von Sprachkursen über Lesungen zu Spielnachmittagen für Kinder - finden in der Kantonsbibliothek statt und ermöglichen so die Begegnung zwischen Zugezogenen und Einheimischen. 

Die Digitalisierung hat die Bibliotheken nicht überflüssig gemacht. Im Gegenteil.

Und in Zeiten von Fake-News ebenfalls wichtig: Man kann in der Kantonsbibliothek auch den richtigen Umgang mit Quellen lernen. Die Volkshochschule Frauenfeld bietet regelmässig Kurse zur kritischen Prüfung von Quellen in den Räumen der Kantonsbibliothek an. 

Insgesamt hat Bernhard Bertelmann das Gefühl, dass die Bedeutung von Bibliotheken in den letzten Jahren wieder gewachsen ist: „Das Bewusstsein dafür, dass man das pflegen muss ist grösser geworden. Die Befürchtung, dass die Digitalisierung Bibliotheken überflüssig machen könnte, hat sich nicht bestätigt. Eher anders herum: Ich glaube, wir haben heute mehr Aufgaben denn je“, sagt Bernhard Bertelmann.

 

 

 

 

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