von Inka Grabowsky, 19.01.2022
Ein Helm als Mahnmal
#Lieblingsstücke, Teil 22: Zwischen Karosserien in Hochglanzlack und mit poliertem Chrom steht im Romanshorner Auto-Museum ein demolierter Rennfahrerhelm, der wie ein jahrhundertealtes Vanitas-Stillleben an die Sterblichkeit erinnert. (Lesedauer: ca. 2 Minuten)
Autorennen sind eigentlich nicht meine Sache. Es erscheint mir ökologisch wie ökonomisch sinnlos, eine Strecke nur um des Sportes willen zurückzulegen, nicht um von A nach B zu kommen. Gleichzeitig sehe ich ein, dass man das auch anders sehen kann. Wenn Freunde mich im Thurgau besuchen und sich für Motorsport interessieren, dann begleite ich sie in den Autobau, das private Museum in Romanshorn, das Fredy Lienhard vor 15 Jahren aufgebaut hat.
Lienhart war nicht nur Chef der „Office Group“, einem Büromöbelhersteller, sondern auch Autorennfahrer. Und er hatte Zeit seines Lebens genug Geld, um seiner Passion für schöne Fahrzeuge zu frönen. Heute mit Mitte siebzig hat er die unternehmerische Verantwortung abgegeben und freut sich an der Autosammlung, die er über Jahrzehnte aufgebaut hat. Seit April 2009 lässt er sonntags auch Besucher an seiner Schatzkammer teilhaben.
„Auf dem Areal wird die Leidenschaft fürs Automobil lebendig“, sagt Geschäftsführerin Yvonne Stütz. 118 perfekt gepflegte und fahrbereite Exemplare gibt es zu bewundern, vom Brezel-Käfer bis zum Ferrari. Sogar einen DeLorean DMC-12 gibt es – wenn auch ohne Fluxkompensator, so dass man nicht zurück in die Zukunft fahren kann.
Geglückte Industriekonversion
Die Rennwagenabteilung sorgt üblicherweise für besonders viele „Ohhs“. Im Oktogon, einem umgebauten Stahltank, in dem zwischen 1800 und 1996 die Eidgenössische Alkoholverwaltung bis zu 2,4 Millionen Liter Industriealkohol lagerte, stehen nun neben Rallyeautos 14 Formel1-, Formel2- und Formel V-Wagen von Ferrari, Mercedes, Renault und Sauber aus drei Jahrzehnten.
Doch mein Lieblingsstück steht direkt vor dem Eingang zum spektakulären Rundbau in der sogenannten „Lista Racing Box“. Hier werden mit einem Augenzwinkern Fredy Lienharts erste Fahrzeuge ausgestellt: der Kinderwagen, die Seifenkiste und das selbstgebaute Formal V-Auto auf Basis eines VW-Käfers.
Ein schwerer Unfall
Mit diesem Wagen verunglückte Fredy Lienhard 1971 beim ersten Training zum Bergrennen von St. Petersberg nach Hemberg. „Er war damals noch Student“, erzählt Fahrzeugbetreuer Adriano Zinnà. „Wie er selbst sagt, war er wohl unkonzentriert. In einer Kurve war er zu schnell und konnte die Spur nicht halten. Das Auto fiel einen Steilhang hinab und hat sich dabei mehrmals überschlagen.“ Der Rennwagen landete kopfüber.
Der 22-jährige Lienhard überlebte mit viel Glück. Er kam mit einer Rippenprellung und Wirbelsäulenverstauchung davon. Dem Formel V-Auto, mit dem der Unfall passierte, sieht man nach einer Reparatur nichts mehr an. Es glänzt wieder, als sei nie etwas geschehen. Doch der Helm und das Lenkrad sind in ihrem zerbeulten und beschädigten Zustand erhalten.
Fallen und Aufstehen
Der beschädigte Helm erzählt nun die Geschichte von einem, der sich durch Nichts aufhalten liess. Zwei Wochen nach dem Unfall habe Lienhard wieder im Rennauto gesessen, heisst es.
Die im Herbst 2021 eröffnete Ausstellung zu Clay Regazzoni in der neuen Halle gegenüber des Oktogons steuert ein zweites Kapitel zu dieser Geschichte bei. Der Schweizer Regazzoni war seit 1970 Formel1-Pilot und brachte es bis zum Vize-Weltmeister.
Bedenke die Risiken!
Nach einem Unfall 1980 war er querschnittsgelähmt. Im Autobau kann man nun unter anderem seinen Wagen mit Handgas-Vorrichtung sehen, mit dem er trotzdem an Rallyes und Rennen teilgenommen hat.
Lienhards Schutzhelm ist an Stelle des Schädelknochen des Fahrers gebrochen. Man sieht weisse Glasfasern unter der abgeplatzten blauen Kunststoffschicht. Roter Unterlack und schwarze Schleifspuren akzentuieren die Bruchkante: Ein Maler könnte ein solches Vanitas-Motiv mit Ölfarbe auf einer Leinwand schaffen. Wie der „Momento Mori“-Spruch beim Triumphzug im antiken Rom gemahnt der Helm den später siegreichen Fahrer, an die Risiken seines Sportlerlebens zu denken.
Die Serie #Lieblingsstücke und wie Du mitmachen kannst
In unserer Serie #Lieblingsstücke schreiben Thurgaukultur-KorrespondentInnen über besondere Kunstwerke im Kanton. Das ist der Start für ein grosses Archiv der beliebtesten Kulturschätze im Thurgau. Denn: Wir wollen auch wissen, welches ist Dein Lieblings-Kunststück aus der Region?
Skulpturen, Gemälde, historische oder technische Exponate, Installationen, Romane, Filme, Theaterstücke, Musik, Fotografie - diese #Lieblingsstücke können ganz verschiedene Formen annehmen. Einige der vorgestellten Werke stehen im öffentlichen Raum, manche sind in Museen zu finden, andere wiederum sind vielleicht nur digital erlebbar. Die Serie soll bewusst offen sein und möglichst viel Vielfalt zulassen.
Schickt uns eure Texte (maximal 3000 Zeichen), Fotos, Audiodateien oder auch Videos von euch mit euren Lieblingswerken und erzählt uns, was dieses Werk für euch zum #Lieblingsstück macht. Kleinere Dateien gerne per Mail an redaktion@thurgaukultur.ch , bei grösseren Dateien empfehlen wir Transport via WeTransfer.
Oder ihr schreibt einen Kommentar am Ende dieses Textes oder zum entsprechenden Post auf unserer Facebook-Seite. Ganz wie ihr mögt: Unsere Kanäle sind offen für euch!
Mehr #Lieblingsstücke im Dossier: Alle Beiträge sammeln wir und veröffentlichen wir sukzessive im Rahmen der Serie. Bereits erschienene Teile der Serie sind gebündelt im Themendossier #lieblingsstücke zu finden.
Von Inka Grabowsky
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