von Inka Grabowsky, 06.03.2023
Guter Anfang für den grenzenlosen Humor
Den ersten Abend des Festivals «Kabarett in Kreuzlingen» teilten sich zwei Frauen: Christine Prayon und Uta Köbernick. Beide sind nicht gut auf die freie Marktwirtschaft zu sprechen und reden von Kommunismus und Klassenfragen, aber eine ist böser als die andere. (Lesedauer: ca. 2 Minuten)
Ganz unprätentiös fängt es an: Kurz vor 20 Uhr betritt Christine Prayon die Bühne, richtet ihr Mikrophon ein, vertieft sich in ihr Manuskript, macht ein paar Lockerungsübungen für die Gesichtsmuskulatur und wartet still die Begrüssung durch den Programmleiter Micky Altdorf ab.
Dann aber legt sie los mit einer szenischen Lesung, bei der die Sprache für Action sorgt. Sie liest aus ihrem Buch «Abschiedstour» das Kapitel «Radio Diarrhoe» und beweist dabei, wie wandlungsfähig eine Stimme sein kann.
Was für eine schauspielerische Leistung!
Sie ist fieser Moderator einer Spielshow, kreuzdummer Kandidat, aalglatte Werbebotschafterin, sachliche Nachrichtensprecherin und fröhliche Station-Voice. Die schauspielerische Leistung kann man nur bewundern.
Nur das Lachen bleibt den Zuschauern in Kreuzlingen im Halse stecken, denn Prayon gibt in dieser Nummer «Unterhaltung unterster Haltung», denunziert Denunzianten und deutet das harmlose Weihnachtslied «Jingle Bells» völkisch um, bis es zum Nazi-Marsch wird.
Video: Christine Prayon auf der Bühne
Poetry Slam zur Erholung
Prayon ist sich ihrer Wirkung selbstverständlich bewusst – und sie macht sich selbst darüber lustig. In einem Poetry-Slam schildert sie, wie sie aufhört als ernsthafte Kabarettistin vor zwanzig Leuten in der Provinz die «Hampelfrau» zu geben, um politisch etwas zu bewirken. Stattdessen will sie nun an Emotionen appellieren und als Slammerin Millionen Klicks im Internet generieren. Sie erntet dafür den ersten Szenenapplaus.
Auf weniger Verständnis stossen ihre Bemerkungen zur deutschen Politik. «Bundeskanzlerin Weidel», «Innenminister Palmer» oder das Stichwort «bedingungsloses Grundeinkommen» lösen bei den Schweizer Zuschauer:innen keine Reaktionen aus.
Auch dass sie die zweite Hälfte eines Bühnenprogramms präsentiert, in der Figuren vorkommen, die in der ungespielten ersten Hälfte eingeführt worden wären, führt zu etwas Unverständnis.
Improvisationskunst auf hohem Niveau
Als «Vorband» für Uta Köbernick hatte sich Christine Prayon in ihrer Verabschiedung mit Understatement bezeichnet. Und die Zürcherin mit Ostberliner Wurzeln tat nach der Pause alles, um als «Hauptband» gelten zu dürfen.
Im Stil einer Stand-up-Comedienne mischt sie Gesang, Geige, Gitarre und Ukulele mit gelesenen Passagen. Im Pyjama gibt sie die verpeilte Künstlerin. Statt des angekündigten Programms «Ich bin noch nicht fertig», das sie bis zum vergangenen Jahr gespielt hatte, lässt sie das Publikum per Zufall entscheiden, welches der 86 Lieder aus ihrem Repertoire sie vorträgt.
Mangelhaftes Eingehen auf die lokalen Gegebenheiten kann man ihr also bestimmt nicht vorwerfen, zumal sie sogar unter Beweis stellt, dass sie Mundart singen kann. Man könne das als Anbiederung oder kulturelle Aneignung betrachten, sagt sie. «Für mich zeigt es die gelungene Integration einer Deutschen in die Schweiz.»
Der Kabarettabend in der Aula endet so transparent wie er bei Christine Prayon angefangen hatte. «Er tröpfelt aus», wie Uta Köbernick sagt. Sie beginnt schlicht, die Bühne aufzuräumen und verkauft dann ihre signierten Bücher mit Aphorismen und komischer Lyrik.
Video: Uta Köbernick bei SRF Deville
Der Zulauf könnte grösser sein
Etwa 120 Zuschauer hatten sich für den Doppelabend in der Kreuzlinger Campus-Aula eingefunden. «Bei so renommierten Künstlerinnen hätte ich gedacht, dass noch mehr kommen», sagt Programmleiter Micky Altdorf, «aber es ist eben schwer, nach der Pandemie-Pause das Kleinkunst-Publikum wieder in die Säle zu bekommen.»
Der nächsten Chancen dafür hat das KIK im Mai. Am 16. 5. kommt Michael Elsener in den Dreispitz und zeigt die Polit-Comedy-Show zur Lage der Nation «Alles wird gut». Am 17. Mai kommt Josef Hader mit «Hader on Ice». Eintrittskarten für rund 40 bis 45 Franken gibt es über See-Tickets.
Von Inka Grabowsky
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