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von Bettina Schnerr, 04.07.2022

Jägerin des verborgenen Schatzes

Jägerin des verborgenen Schatzes
Expertin für Glasmalereien in der Schweiz: Sarah Keller leitete die Forschungsarbeiten im Thurgau für das Vitrocentre Romont. In weiteren Projekten hebt sie die gläsernen Schätze der Kantone Bern und Basel. | © Bild: Enrique Muñoz García

Geschichten aus Glas: Ein mehrjähriges Forschungsprojekt und ein neues Buch dokumentieren und erklären die interessantesten Glasmalereien aus dem Thurgau. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)

Man kann reich an Schätzen sein und es nicht einmal ahnen. Unter den Kunstschätzen zählen historische Glasmalereien zu solchem Reichtum. Im Gegensatz zur Malerei sind ihr Charme und ihre Geschichte bislang eher Sache für Experten, weniger für die breite Bevölkerung. Das könnte sich in diesem Jahr ändern.

Pünktlich zum „Jahr des Glases“, das die UNO ausgerufen hat, konnte eine Forschungsgruppe des Vitrocentre Romont eine detaillierte Forschungsarbeit zur Glasmalerei im Thurgau abschliessen. „Solche Scheiben hatten Tradition als Schenkung, mit denen sich vor allem verschiedene Machtinhaber, Zünfte, aber auch wohlhabende Familien in Szene setzten,“ erzählt Sarah Keller, die das Romonter Forschungsprojekt leitete.

 

1876 entstand das farbenprächtige Lamm, das in der katholischen Kirche St. Sebastian in Herdern bewundert werden kann. Die 325 Franken Herstellungskosten bezahlten der damalige Pfarrrer und dessen Schwester aus der eingenen Tasche. Röttinger, Johann Jakob, Lamm Gottes-Fenster, 1876, Standort: Katholische Kirche St. Sebastian, Herdern Link auf vitrosearch: https://vitrosearch.ch/de/objects/2686915 Bild: Vitrocentre Romont (Hans Fischer, Belgien)

 

Internationales Jahr des Glases

Vor allem im 15. und 16. Jahrhundert waren solche Scheiben Mode und profitiert haben sowohl Kirchen und Klöster als auch Rathäuser und Zunfthäuser. „Vor allem bei älteren Schenkungen kam sicher die Überlegung hinzu, sich damit Seelenheit zu erkaufen.“

Dank dem Fokus auf kirchliche Einrichtungen mit gründlicher Buchführung und oft gut erhaltenen Archiven, hatte Keller viel Material für ihre Recherchen. Mehr als 50 Kirchenarchive besuchte das Team. Zu den gängigen Unterlagen gehören Briefwechsel mit Bitten um solche Glasspenden, Abrechnungen mit Handwerkern oder gar Aufzeichnungen über Trinkgelder, die die Transporteure solcher Scheiben erhielten — alles mit dem Ziel, Herkunft und Motive zu entschlüsseln.

Eine langwierige Arbeit: „Der Impuls zur Forschungsarbeit kam von der Denkmalpflege und bis 2015 wurde zunächst ein Vorinventar erstellt,“ erzählt Keller. „Es gab viele bislang weitgehend unbekannte Scheiben zu entdecken.“

 

Farbenpracht seit 1558: Die Gedenkscheibe gehörte ursprünglich in den Kreuzgang des ehemaligen Zisterzienserinnenklosters in Tänikon und kam nach ihrem Ausbau (etwa 1832) über zwei Privatsammler in den Besitz des Historischen Museums Thurgau. Die Scheibe erinnert an den Klostergründer und ist eine der wenigen Scheiben, die einer Stifterin zugeordnet werden können, der Äbtissin Sophia von Grüth. Bluntschli, Niklaus, Bildscheibe zum Gedenken an Eberhard von Bichelsee mit Muttergottes und dem Amplexus, 1558, Standort: Historisches Museum Thurgau (Schloss Frauenfeld), Frauenfeld, Inv.- Nr. T 6454 Link auf vitrosearch: https://vitrosearch.ch/de/objects/2655658 Bild: Historisches Museum Thurgau

 

Aufwändige Vorarbeiten

Neben der eigentlichen Erfassung von Scheiben legten Keller und das Team gleich noch den Grundstein für künftige Publikationen zur Glasmalerei. „Erstmals in einem Projekt des Corpus Vitrearum Schweiz sind Werke ab dem 19. Jahrhundert erfasst,“ sagt Keller.

„Dafür mussten zunächst neue Kriterien für die wissenschaftliche Datenbank Vitrosearch erstellt werden.“ Dies betraf zum Beispiel einfacher dekorierte Fenster aus dem Historismus, zusammengesetzt aus vielen, aber dafür immer gleichen Glaselementen. Erfasst man sie alle oder nur einzelne davon?

Recherche dauerte fünf Jahre

Die eigentliche Recherche zu den Thurgauer Glasmalereien zog sich über fünf Jahre. „Als wir anfingen, waren etwa 310 vor 1800 entstandene Scheiben bekannt,“ erzählt die Expertin. Allesamt wurden sie mit Fotos in die Datenbank aufgenommen und Stück für Stück mit detaillierten Daten ergänzt – soweit das Team ihnen auf die Spur kommen konnte.

Mitunter tauchen Wappen auf, die heute nicht mehr zugeordnet werden können. Aber meist findet die Expertin eine Lösung: „Es gibt schwierig lesbare Bildthemen,“ sagt sie. „Oft helfen mir aber Erfahrungen mit dem Grundrepertoire typischer Motive weiter. Manchmal gibt es sogar Bildlegenden.“

Und so, wie Keller die alten Handschriften in Klöstern nach Schlagwörtern wie „Wappen“ durchforstet, erledigt sie das auch online: „Selten, dass ich nicht fündig werde.“ Es gibt zum Beispiel Heiligenlexika oder Bilddatenbanken, in denen sich alte Drucke finden, aus denen Motive übernommen wurden. Eine früher gängige „Kopierpraxis“, die heute die Aufarbeitung erleichtert.

 

Viel Detektivarbeit: Die vier Medaillons der Heiligen Augustinus, Franz von Paula, Ignatius von Loyola und Benedikt stecken in einer grösseren Scheibe aus dem 19. Jahrhundert (Standort: Historisches Museum Frauenfeld). Sie zierten zuvor vermutlich Butzenscheiben einer Studierstube. Die Datierung auf die Zeit um 1650 war möglich, weil das Forscherteam die Vorlagen für die Portraits entdeckt hat: Kupferstiche aus den Niederlanden. Künstler unbekannt, Vier Medaillons mit den Heiligen Augustinus, Benedikt, Franz von Paula und Ignatius von Loyola, um 1650, Standort: Historisches Museum Thurgau (Schloss Frauenfeld), Frauenfeld, Inv.-Nr. T 59 Link auf vitrosearch: https://vitrosearch.ch/de/objects/2659526 Bild: Vitrocentre Romont (Yves Eigenmann, Francesco Ragusa)

 

Unbeliebt und in Ungnade gefallen

Dass von den vielen Wappenscheiben heute nicht mehr allzu viele erhalten sind, hat unterschiedliche Gründe. Wurden Gebäude zerstört, gingen freilich auch die Scheiben zu Bruch. Von einigen Scheiben trennten sich die Besitzer wegen ihrer Herkunft auch ganz bewusst und nicht zuletzt veränderten sich die Moden. Dieses Phänomen zieht sich bin ins Heute.

Zwar erlebte die Glasmalerei im 19. Jahrhundert ein Revival, doch sehr nachhaltig war es nicht. „Bis in die 1950er Jahre wurden zahlreiche Fenster ausgebaut, weil man die ‚alten Sachen‘ nicht mehr in der Moderne haben wollte,“ weiss die Kunsthistorikern. „Die Scheiben wurden entsorgt oder landeten auf Dachböden und in Lagern.“

Zum Beispiel Frauenfeld

Ein bekanntes Beispiel sind die Fenster der Frauenfelder St. Nikolaus-Kirche. Sie wurden etwa 60 Jahre nach ihrem Einbau auf Drängen des damaligen Denkmalpflegers schon wieder ausgebaut, weil der in den Scheiben eine „katastrophale Unterqualität“ ausgemacht haben wollte. Die Scheiben landeten im Kirchenestrich und erhalten sind nur noch Fragmente.

Oft aber geht bei eingelagerten Funden das Wissen um den Ursprung verloren. Selbst bei eingebauten Fenstern kann das passieren, denn wer Scheiben für den Bau brauchte, bediente sich früher gerne aus Resten anderer Gebäude. „Dass wir für den Katalog 40 Wappenscheiben auftreiben konnten, die zuvor nicht bekannt waren, liegt an einer sehr gründlichen Recherche,“ sagt Keller. „Manchmal erhalten wir aber tatsächlich Anfragen von Leuten, die Zufallsfunde auf dem Dachboden gemacht habe und mehr dazu wissen möchten.“

Die runde Allianzwappenscheibe entstand um 1724 (Standort: Reformierte Kirche Egelshofen, Kreuzlingen). Die Scheibe, gestiftet vom Ehepaar Hans Jakob Olbrecht und Anna Maria Meyer, ist zwar noch in der originalen Kirche, wurde im Lauf der Zeit aber sicher zwei Mal umplatziert. Spengler, Johann Georg (zugeschr.), Runde Allianzwappenscheibe Hans Jakob Olbrecht und Anna Maria Meyer, um 1724, Standort: Reformierte Kirche Egelshofen, Kreuzlingen Link auf vitrosearch: https://vitrosearch.ch/de/objects/2657949 Bild: Vitrocentre Romont

 

Internationaler Scheibenhandel

Interessant ist, welche Wege jene Scheiben genommen haben, die den Ausbau überstanden haben. Mit ihnen entwickelte sich ein reger Handel, denn gefragt waren sie im Thurgau ja nicht mehr. Sammler aber gab es schon früh und oft waren sie nicht einmal spezialisiert. Gesammelt wurde, was dekorativ war.

Noch dazu waren die Thurgauer Wappenscheiben recht klein und damit gut zu transportieren. „Etwa 600 Schweizer Scheiben wissen wir etwa in einer Kirche Großbritannien,“ sagt Sarah Keller. „Manche davon sind eingebaut worden, aber ohne auf ihren Inhalt zu achten. Sie stehen zum Beispiel auf dem Kopf.“

Datenbank und Begleitband ergänzen einander

Während sich die Datenbank ausschliesslich auf Glasmalereien beschränkt, die sich noch im Thurgau befinden, ergänzt der Begleitband die Arbeit von Sarah Keller mit Hintergründen zum Stiftungswesen. Auch Scheiben, die nicht mehr im Thurgau sind, ziehen die Autorinnen Keller und Katrin Kaufmann heran, um Motive, Werkstätten oder religiöse Strömungen beleuchten zu können.

Da hier lange Kirchen für beide Konfessionen geöffnet waren, boten die Fenster bei jedem Bau oder Umbau Gelegenheit, sich neu zu profilieren. Sämtliche Glasscheiben sind bei Licht betrachtet nicht nur strahlend schön und farbig, sie sind auch Zeugnis eines facettenreichen Kunsthandwerks und seiner Hintergrundgeschichte im Thurgau.

 

Eine Besonderheit mit „weltweit höchstem Seltenheitswert“ ist das St. Laurentiusfenster in Frauenfeld-Oberkirch. Die älteste erhaltene Glasmalerei im Kanton (aus dem 2. Viertel des 14. Jahrhunderts) hat noch nahezu vollständige die originale Verbleiung und den originalen Glasbestand. Künstler unbekannt, St. Laurentiusfenster, 2. Viertel des 14. Jahrhunderts, Standort: Paritätische Kirche St. Laurentius, Frauenfeld Link auf vitrosearch: https://www.vitrosearch.ch/de/objects/2660478 Bild: Amt für Denkmalpflege des Kantons
Thurgau (Foto: Christoph Gysin)

 

 

Das Forschungsinstitut Vitrocentre Romont

Das Vitrocentre Romont forscht auf dem Gebiet der Glasmalerei, der Hinterglasmalerei und des Glases. Es ist dem internationalen Forschungsunternehmen Corpus Vitrearum angeschlossen, das sich die Inventarisierung und systematische Veröffentlichung von Werken und Quellen zur Aufgabe gemacht hat. Das zugehörige Vitromusée Romont sammelt und zeigt historische und zeitgenössische Objekte, die Geschichte der Glaskunst. Die Online-Datenbank Vitrosearch dokumentiert die Arbeiten des Instituts und macht sie Forschung und Publikum zugänglich.

 

Das Buch

Die Glasmalereien vom Mittelalter bis 1930 im Kanton Thurgau

Corpus Vitrearum Schweiz, Reihe Neuzeit, Band 8
De Gruyter 2022

Sarah Keller und Katrin Kaufmann

Herausgegeben von: Vitrocentre Romont

ISBN (gebunden): 978-3-110751031

Ebook: Open access

 

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