von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter, 04.03.2019
Lass uns spielen
Das Spielen zählt zu den ältesten Kulturtechniken der Welt. Eine neue Ausstellung im Shed im Frauenfelder Eisenwerk geht jetzt dem Spielerischen in der zeitgenössischen Kunst auf den Grund.
Der Mensch spielt, seit es ihn gibt. In allen Kulturen und in allen Zeiten finden sich dafür Belege. Da unterscheidet sich der Grossstadtmensch vom Dschungelbewohner kaum. Archäologen haben gezeigt, dass überall und zu so gut wie jeder Zeit Spiele erfunden und gespielt wurden. So ist es kein Wunder, dass es in den vergangenen Jahren immer wieder Ausstellungen rund um das Spielen gab (zuletzt unter anderem im Stadtmuseum Aarau). Jetzt geht eine neue Ausstellung im Shed im Frauenfelder Eisenwerk dem spielerischen Aspekt in der zeitgenössischen Kunst nach. „Let’s play“ heisst die von Rebekka Ray kuratierte Ausstellung, in der klassische Trägermedien von Kunst - Bilder an der Wand - auf neue, digitale Trägermedien - Computerspiele - treffen. Zu sehen sind Arbeiten von Olga Titus, Valentin Magaro, Michael Frei und Mario von Rickenbach.
Wie viel Spielerisches steckt also in der zeitgenössischen Kunst? Liest man Studien von Entwicklungspsychologen zum Spielen an sich, entdeckt man schnell Ähnlichkeiten. Spielen hilft dabei, die eigenen Potenziale zu entfalten. Spielen verleitet dazu, Neues auszuprobieren, es bringt das kreative Denken in Schwung. Wer würde das alles nicht auch für die Kunst unterschreiben? Mihály Csíkszentmihályi, emeritierter Professor für Psychologie, geht noch ein Stück weiter, wenn er das über das „Flow“-Erlebnis beim Spielen schreibt: „So kommt es beim Spielen zur Verschmelzung von Handlung und Bewusstsein, sodass der Spielende sich zwar der Handlung, aber nicht mehr seiner selbst bewusst ist. Er geht vollkommen im Spiel auf, lenkt seine Aufmerksamkeit nur darauf und gerät in einen Zustand der Selbstvergessenheit.“ Wenn Künstlerinnen und Künstler über ihre Arbeit sprechen, dann klingt das oft ganz genauso.
Versuch und Irrtum als Triebfeder von Kunst und Spiel
Die Praxis zu dieser Theorie lässt sich nun in der Frauenfelder Ausstellung „Let’s play“ erleben. In der von Rebekka Ray klug kuratierten Schau sind unterschiedliche Ausprägungen des Spieltriebs im Kunstprozess (und darüber hinaus) zu beobachten. Valentin Magaros Zeichnungen seiner Band "Sugarpuffs" sind quasi spielerische Erörterungen auf dem Weg zum stimmigen Gesamtbild. In einzelnen Studien fängt er die Momente ein und fügt sie über einen längeren Prozess zu einem grossen Ganzen zusammen. Das für das Spielerische typische Prinzip „Versuch und Irrtum“ ist hier, wie bei fast jeder Kunst, wesentlicher Treiber des Auswahlprozesses. Konsequenterweise zeigt die Ausstellung nicht nur das fertige Grossformat, sondern auch die Vorstudien. So eröffnet Magaro auch dem Betrachter noch ein Spiel: Er kann die einzelnen Entwürfe vergleichen und danach suchen, ob und wenn ja, wie sie sich im Hauptwerk wieder finden.
Die in diesem Jahr sehr gefragte Olga Titus (Ausstellungen in Kreuzlingen, New York City, St. Gallen, Konstanz sind unter anderem geplant) ist mit mehreren Arbeiten vertreten. Am augenfälligsten sind dabei ihre sehr bunten, sehr grossformatigen und sehr wandlungsfähigen Pailettenarbeiten. Fährt man mit dem Finger über die Pailletten, verändert sich das Bild sofort, der Betrachter kann seine eigenen Spuren hinterlassen. Spielen hatte schon immer auch etwas sehr handwerkliches. Mindestens ebenso spielerisch ist Titus’ Ansatz des Sammelns, Collagierens und Vermischens unterschiedlichster Materialien, Themen und Formen. Dass die im vergangenen Jahr mit einem Förderbeitrag des Kantons Thurgau ausgezeichnete Künstlerin keine Angst vor grellen Farben und schrillen Tönen hat, kann man auch in dieser Ausstellung sehen.
Ein psychologisches Spiel über die Gruppe und den Einzelnen
Zu den beiden bildenden Künstlern gesellt sich das Duo Michael Frei und Mario von Rickenbach. Vor drei Jahren haben sie bei der Werkschau Thurgau ihr Spiel „Plug and Play“ gezeigt, jetzt haben sie mit „Kids“ etwas Neues entwickelt: „Ein experimentelles Projekt über die Psychologie der Gruppe und den Einfluss auf den Einzelnen“, umschreiben sie das eindrückliche und anschauliche Werk. Eine Arbeit wie gemacht für unsere Zeit, in der zwischen Schwarmintelligenz und Herdendummheit oft nicht viel liegt. Neben einem Kurzfilm (der an der Berlinale erstmals gezeigt wurde) und einer Installation ist auch wieder ein Spiel entstanden, bei dem sich jeder selbst dem Thema nähern kann. Noch in diesem Frühjahr soll das Spiel auch als App fürs Smartphone auf den Markt kommen.
Allen drei Künstlerinnen und Künstler gemeinsam ist, dass der Betrachter stets zum Mit-Spieler wird. Was sie freilich unterscheidet ist der Grad des Mitspielens. Ist es bei Magaro und Titus ein eher theoretisches, gedankliches Spiel, laden Frei und von Rickenbach zum tatsächlichen Mitspielen ein. Das Spiel „Kids“ ist in der Ausstellung vorhanden und darf ausprobiert werden.
KIDS Teaser from Michael Frei on Vimeo.
Insgesamt liefert „Let’s play“ einen ersten Einblick in ein riesiges Thema. Mehr ist auf dem begrenzten Raum im Shed kaum möglich. Aus dem Thema liesse sich wohl, nun ja, spielend eine eigene Ausstellungsreihe konzipieren, um all den Facetten dieses Urthemas des Menschen noch näher zu kommen. Dann könnte man dem Untertitel der Ausstellung „Eine Aufforderung zum Mit-Spielen“ vielleicht auch gerechter werden. Die Neugier wird jedenfalls durch die Ausstellung geweckt. Möge eine Fortsetzung folgen.
Termine: Die Ausstellung ist noch bis 4. April im Shed im Eisenwerk zu sehen. Am Donnerstag, 14. März, 18.30 Uhr, führt Kuratorin Rebekka Ray durch die Ausstellung.
Bilderstrecke: Szenen von der Vernissage am 1. März 2019
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