von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter, 03.05.2021
Most raus, Kultur rein
2022 wird die Mosterei Egnach weitgehend abgerissen. Bevor die Bagger kommen soll Abschied gefeiert werden mit einem ambitionierten Kulturfestival. Teil 1 unserer Serie über die Finalisten des Wettbewerbs „Ratartouille“ der Kulturstiftung des Kantons. (Lesedauer: ca. 3 Minuten)
Mehr als 100 Jahre prägte die Mosterei das Ortsbild von Egnach. Mitten im Dorf gelegen, wehte von hier aus jeden Herbst der süsse Duft von frisch gepressten Äpfeln durch die Gemeinde. Lastwagen voller Äpfel und Birnen liessen ihre Ladung in einen tiefen Schacht purzeln und abends kam man auf zwei Gläser Saft im Sternen, der Beiz nebenan, zum jassen, politisieren und Spass haben zusammen. Bis 2014. Dann war Schluss damit. Damals gab die Thurella AG ihr Geschäft auf, lediglich das Produktionsgebäude blieb zurück. Das steht inzwischen allerdings weitgehend leer.
Im kommenden Jahr werden auch grosse Teile des Industriebaus verschwinden: Das gesamte Areal wird überbaut, ein neues Quartier mit 150 Wohnungen und ruhigen Gewerbebetrieben soll auf 20’000 Quadratmetern entstehen. Nur das denkmalgeschütze Hauptgebäude der Fabrik bleibt erhalten.
Die Idee: Dorffest mit hohem künstlerischem Anspruch
Doch bevor die Bagger anrollen, soll der Ort noch einmal zum Leben erweckt werden: Die Kultur will als Zwischenmieter in die traditionsreiche Immobilie einziehen. Unter dem Titel „Kultur im Tanklager der Mosterei Egnach“ plant der eigens dafür gegründete Verein „Kerngehäuse“ ein ambitioniertes Kultur- und Begegnungsfestival.
Mit dem Konzept hat sich der Verein auch am Wettbewerb „Ratartouille“ der Kulturstiftung des Kantons beteiligt und es bis ins Finale geschafft: Am 2. Juli entscheidet sich, wer der drei verbliebenen Finalisten die ausgeschriebenen 100’000 Franken der Stiftung tatsächlich erhält.
Die Pläne in Egnach sind schon gut gereift: Von März bis Ende Mai 2022 soll es jeweils von Donnerstag bis Sonntag Auftrittmöglichkeiten für lokale Bands, Kleinkunst und familienfreundliche Unterhaltung ebenso geben wie Installationen, Performances, Lesungen und Konzerte internationaler KünstlerInnen.
Auch ein Ziel: Identität stiften nach innen
Etwas vereinfacht gesagt soll es ein Dorffest mit hohem künstlerischem Anspruch werden. Etwas, das einerseits Identität stiftet für die Menschen vor Ort, mit einem Programm, das aber andererseits so attraktiv ist, dass es auch Publikum von aussen anlockt. Keine ganz leichte Aufgabe, beides zusammenzubringen.
Aber es nicht zu versuchen wäre auch keine Lösung, finden die Veranstalter. „Wir wollen diesen traditionsreichen Ort für ein paar Monate wieder beleben, auch um den Menschen vor Ort die Gelegenheit zu geben Abschied zu nehmen von diesem sehr besonderen Ort. Und dazu braucht es eben auch ein besonderes Programm mit Strahlkraft“, sagt Pascal Leuthold, Projektleiter beim „Tankkeller“. Die Zusage für die Zwischennutzung haben sie bereits vom Immobilien-Eigentümer.
Bilderstrecke: Im Keller der Mosterei Egnach (Fotos: Philipp Schubiger)
Spektakuläre Räume im Keller, die nach Kunst schreien
Der Name Tankkeller ist dabei durchaus wörtlich zu verstehen, denn ein Grossteil des Programms soll in eben jenen Kellerräumen mit den riesigen Tanks und den verwinkelten engen Gängen stattfinden. Wobei: Kellerräume trifft es nicht ganz, eigentlich sind es eher unterirdische Hallen. Wer diese Räume einmal gesehen hat, der spürt sofort, dass das eine ziemlich gute Idee ist.
Aussergewöhnliche Akustik, hallenhohe Decken, fast schon futuristisches Ambiente, dieser Ort schreit geradezu danach, dass hier Kultur stattfindet. „Hier darf es wummern, wuchern, es darf schaurig und finster sein, aber auch mal wohlig, mal befreiend, mal klein und fein, mal unaufdringlich, mal gigantisch und erhaben“, sagt der Musiker Andrin Uetz, der sich beim Projekt um das Veranstaltungsprogramm kümmert und auch Autor bei thurgaukultur.ch ist.
Der Kontrast zwischen schöner Fassade oben (dort soll die familienfreundliche Unterhaltung stattfinden) und ungestümem Unterbau solle bewusst zelebriert werden, heisst es in dem Dossier, dass der Verein bei der Kulturstiftung eingereicht hat.
Platz für interdisziplinäre Experimente und Gespräche mit dem Publikum
Kulturschaffende aus verschiedenen Sparten sollen dazu eingeladen werden, die Räume zu bespielen. Namen zu KünstlerInnen wollen die Veranstalter noch nicht nennen, die Gespräche laufen noch. Mit im Boot dabei: Der Arboner Galerist Adrian Bleisch. Er soll mit seinen Kontakten und seiner Expertise dabei helfen, spannende KünstlerInnen für das Projekt zu gewinnen.
„Es soll vor Ort etwas ganz Eigenes entstehen, das auch Bezug auf den Ort nimmt“, erklärt Andrin Uetz. KünstlerInnen sollen auch die Chance bekommen zu experimentieren, Dinge über Spartengrenzen hinweg auszuprobieren und ins Gespräch mit dem Publikum zu kommen.
„Es ist ein Versuch“, sagt Andrin Uetz. Wenn er gelingt, dann könnte er durchaus Modellcharakter haben, findet Projektleiter Pascal Leuthold. „Wir zeigen, wie man spannende Ort neu nutzen kann. Das könnte wegweisend für etliche ähnliche Orte, die es im Kanton noch gibt“, sagt Leuthold.
Die Hoffnung auf die 100’000 Franken
Die Hoffnung auf die Gelder von der Kulturstiftung sind gross. Aber was wenn sich das Publikum bei der Entscheidung über die Förderung am Ende anders entscheidet? „Das Konzept steht. Wir wollen auf jeden Fall etwas davon umsetzen. Aber mit dem Geld der Kulturstiftung können wir es so realisieren, wie wir es uns vorstellen und wie es dem Ort angemessen wäre“, erklärt Pascal Leuthold.
Transparenz-Hinweis: Die Kulturstiftung des Kantons Thurgau ist einer von zwei AktionärInnen der Thurgau Kultur AG, die thurgaukultur.ch betreibt. In unserer Berichterstattung sind wir unabhängig, ein eigens verfasstes Redaktionsstatut sichert diese Unabhängigkeit ab.
Der Wettbewerb Ratartouille und die drei Finalisten
Mit der Ausschreibung des Wettbewerbs «Ratartouille» will die Kulturstiftung des Kantons Thurgau ein neues Festival initiieren.
Ziel des neuen Formats ist es unter anderem, verschiedene Sparten wie Kunst, Musik, Theater, Tanz, Literatur, Fotografie miteinander zu verbinden und Kulturschaffende im und aus dem Thurgau mit weiteren AkteurInnen zu vernetzen. Für Stefan Wagner, Beauftragter der Kulturstiftung, ist das Modell auch ein Versuch, neue Wege in der Kulturförderung zu gehen.
Denn: Erstmals wird auch das Publikum in den Entscheidungsprozess eingebunden. Nach einer Vorauswahl einer Fachjury soll das Publikum an einer Abendveranstaltung im Juli 2021 das letztliche Sieger-Projekt küren. „Mit diesem Ansatz wollen wir auch eine Diskussion über Kulturförderung insgesamt anstossen“, erklärt Stefan Wagner.
Nach einer ersten Vorauswahl hat sich die Jury im März für drei Projekte entschieden, die im Finale am 2. Juli gegeneinander antreten. Neben dem oben beschriebenen Vorhaben in Egnach sind dies:
Unter dem Titel „Promenaden“ haben Kunstraum-Kurator Richard Tisserand und der Künstler Reto Müller ihr Projekt eingereicht. Sie planen „in wechselnder Konstellation Formate, Veranstaltungen, Ausflüge und Besuche durch den kulturellen Thurgau für ein generationendurchmischtes Publikum“, beschreibt die Kulturstiftung diese Idee.
Dritter Finalist ist das Projekt „Thurgau 9’000 (AT)“. Dahinter verbirgt sich ein Festival von zehn Tagen im Thurgau. Verschiedene Akteure und Disziplinen – bekannte und unbekannte – sollen dabei über aktuelle gesellschaftliche Themen nachdenken. Initiiert und eingereicht wurde das Projekt von der im Thurgau aufgewachsene Künstlerin und Kunstvermittlerin Christine Müller-Stalder sowie dem Kulturwissenschaftler und Filmfestivalprogrammierer Thomas Studer.
Auch die beiden anderen Projekte werden wir auf thurgaukultur.ch in den nächsten Wochen ausführlich vorstellen.
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