von Inka Grabowsky, 04.04.2017
Rückbesinnung auf harte Zeiten
Gleich zwei Ostschweizer Jugend-Theatergruppen setzen sich derzeit mit der Geschichte ihrer Gross-, respektive Urgrosseltern auseinander. Das Junge Theater Thurgau in Frauenfeld versetzt sich in die Schweiz des Ersten Weltkriegs, das Momoll-Theater in Wil konzentriert sich auf den Zweiten Weltkrieg.
Von Inka Grabowsky
Aus einer Übung während des Improvisationskurses des Wiler Momoll-Theaters entstand die Idee zum neuen Stück. Die Teilnehmer bekamen die Aufgabe, ihre eigenen Grosseltern in ihrer Jugend zu verkörpern. „Dabei kristallisierte sich in der Vielzahl der dargestellten Anekdoten eine Gemeinsamkeit heraus", erzählt die Regisseurin und Produktionsleiterin Claudia Rüegsegger. „Der Krieg kam immer wieder vor, besonders bei Jugendlichen mit deutschen oder italienischen Wurzeln. Andere mussten feststellen, dass sie über die Zeit damals kaum etwas wussten." Um das zu ändern, wollten sie sich in einen historischen Stoff vertiefen. Es sei schliesslich das Tolle am Theater, dass man Seiten von sich zeigen könne, die man im wirklichen Leben nicht habe, hatte eine der Mitspielerinnen zur Begründung gesagt.
Während der Improvisationen im September war der Zürcher Theaterautor Paul Steinmann dabei, ein alter Bekannter der Regisseurin. Er erfuhr so nicht nur, was die Jugendlichen gerne spielen wollten, sondern sah auch, welche Ausdrucks-Möglichkeiten sie mitbrachten – entsprechend entwickelte er bis zum Dezember sein Stück. „Wir haben 18 Mitspieler, und jeder sollte eine eigene Figur verkörpern. Das war nicht leicht zu schreiben", so Rüegsegger. Das Stück „Unterschlupf" spielt im Welschland 1941. Junge Leute aus der Deutschschweiz kommen zum obligatorischen Landdienst her und treffen auf gleichaltrige Romands, während um sie herum der Krieg tobt. „Das Thema Verständigung stand bei den Proben lange im Mittelpunkt. Junge Deutschschweizer müssen so tun, als ob sie keinen Dialekt verstünden." Der zweite zentrale Punkt sei die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit.
Eintauchen in alten Zeiten
Die Bandbreite innerhalb des Ensembles ist gross. Das Alter reicht von 14 bis 21. Es gibt Schüler, Studenten, Lehrlinge: „Jeder bringt andere Erfahrungen mit", sagt die Regisseurin, „aber alle hatten durch die Schule ein Grundwissen zu den historischen Fakten. Wie der Alltag von Jugendlichen damals aussah, mussten wir noch gemeinsam herausfinden. Wir haben also alte Wochenschauen angesehen und die Musik von 1941 gehört. Die Jugendlichen kannten fast nichts davon – nun singen wir die Lieder selbst in einem vierstimmigen Chor." Die Leiter des Momoll-Theaters konnten zudem auf die Unterstützung des Wiler Stadtarchivars Werner Warth zurückgreifen, der 2013 eine Ausstellung zu Will im zweiten Weltkrieg zusammengestellt hatte. Das Bewusstsein der Enkel für das Leben der Grosseltern wächst nun mit jeder Probe.
Mit dem Anlegen der Kostüme gingen insbesondere den Mädchen die Augen auf: Alle tragen einen Rock mit Schürze und feste Schuhe: „Das hatte sofort Auswirkungen auf die Körperhaltung und den Gang", erinnert sich Rüegsegger. Um sich in das Innenleben der Figuren hineinzuversetzen, schrieben die jungen Schauspieler fiktive Biografien. Der allgegenwärtige Mangel und die Begrenztheit der Möglichkeiten hätten alle beeindruckt. „Vieles was für uns heute selbstverständlich ist, gab es damals einfach nicht. Es erscheint sehr weit weg, dabei sind es nur zwei Generationen."
Der erste Weltkrieg in Frauenfeld
Das Junge Theater Thurgau geht noch 24 Jahre weiter zurück. Auf Basis der Ausstellung „Die Schweiz und der grosse Krieg", die im vergangenen Jahr im Alten Zeughaus in Frauenfeld gastierte, haben sie ihr Stück „Annas Briefe" entwickelt, das 1917 spielt. Das Theater kooperiert bei dem Projekt mit dem Historischen Museum Thurgau. Grundlage des Stücks ist das Leben der Familie Keller Forster, deren Mitglieder auf unterschiedlichste Weise vom ersten Weltkrieg betroffen waren. Anna, eine der Töchter, musste als Dienstmädchen in die Romandie, um die Familie finanziell zu unterstützen. Die Truppe stellt ihr eine heutige Anna gegenüber, die Briefe ihres historischen Pendants findet. Sie, die sich ständig entscheiden muss, glaubt, früher sei alles einfacher gewesen. Das traurige Schicksal der „alten" Anna belehrt sie eines Besseren.
Die heutige Anna (Aleena Krähemann) trifft auf die historische Anna (Sara Weber) in dem Stück "Annas Briefe" vom Jungen Theater Thurgau. Bild: Inka Grabowsky
Auch die Jugendlichen in Frauenfeld stellen den Alltag der normalen Menschen in den Mittelpunkt ihres Stücks. Das eröffnete ihnen ganz neue Perspektiven. „Ich hätte nicht gedacht, dass die Schweiz überhaupt vom Krieg betroffen war", sagt Aleksandra Parkhomenko, die in der Ukraine gross geworden ist. „Nun weiss ich, dass die Menschen es hier auch nicht leicht hatten." „Sie hatten es strenger als ich gedacht habe", stimmt Sara Weber zu, die Darstellerin der historischen Anna. „Man denkt ja immer nur an den zweiten Weltkrieg und ahnt gar nicht, dass der erste auch so schlimm war", ergänzt ihre Bühnenmutter Alena Weber. Aufregen können sich die Mädchen über die fehlenden Rechte der Frauen in der Zeit. Eric Scherrer erklärt: „Der Bruder, den ich spiele, fühlt sich als Familienoberhaupt. Er beschützt Anna, aber bevormundet sie auch." Armut, Lebensmittelknappheit und existentielle Ängste können sich die jungen Schauspieler nun alle besser vorstellen. Lily Demeulemeester sieht das Positive: „Ich bin beeindruckt, wie die Menschen damals die Situation gemeistert haben."
Einblick in die Probearbeiten "Annas Briefe" (Stand: Dezember 2016)
Die Termine im Überblick:
Premiere „Annas Briefe" am 21. April im Alten Zeughaus in Frauenfeld. Weitere Aufführungen: 23., 28., 29. und 30. April., 4., 5. und 6. Mai.
Premiere von „Unterschlupf" am 29. April in der Lokremise in Wil. Weitere Aufführungen am 2., 4., 5., 8., 9., 11. und 12. Mai.
Hinweis: Dieser Beitrag erschien im Aprilheft des Ostschweizer Kulturmagazins Saiten.
Von Inka Grabowsky
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