von Judith Schuck, 06.12.2022
Schöne Bilder sind nützlich für die Forschung
Archäologie trifft auf Design: Bei einem Pop-Up-Event zeigten die Wissenschaftler neuste Erkenntnisse zu den Steinhügeln am Obersee und Livia Enderli, dass Kunst viel mehr kann, als nur schöne Bildli produzieren. (Lesedauer: ca. 3 Minuten)
„Die Regelmässigkeit macht's menschlich.“ Archäologe Urs Leuzinger meint damit die 170 „Hügeli“, die sich zwischen Romanshorn und Altnau wie eine Perlenkette 200 bis 300 Meter vom Bodenseeufer entfernt aufreihen. 2015 entdeckte der deutsche Geologe Martin Wessel während eines Vermessungsprojekts etwas Seltsames am Grund: „Die Hügel kamen mir komisch vor. Zunächst dachte ich, es ist ein Messartefakt. Doch beim zweiten Mal kamen wir auf genau dasselbe Ergebnis, also war es kein technischer Fehler“, erzählt Wessel am Pop-Up-Event „Bodensee Stonehenge“, das am 25. und 26. November in der Webmaschinenhalle im Werk 2 in Arbon stattfand.
Mit Playmobil auf Tauchstation
Für den Entdecker der Hügeli, die in den Medien schon bald als „Bodensee-Stonehenge“ kursierten, war das ein spannendes Ereignis. Ihm sei schnell klar gewesen, dass es sich um etwas künstlich Geschaffenes, und kein geologisches Phänomen wie eine Gletschermoräne handeln müsse. 2018 untersuchten die Forscher den Hügel 5 vor Uttwil, jetzt im Spätherbst Hügel 115 vor Kesswil.
„Die Hügel kamen mir komisch vor. Zunächst dachte ich, es ist ein Messartefakt“
Martin Wessel
Mit der Ausstellung stellten die Wisschenschaftler ihre neuesten Erkenntnisse um die rätselhaften Steinhügel vor und zeigten auch auf humorvolle Weise, wie sie bei ihrer Arbeit vorgehen: in einem Becken dienten Playmobil-Figuren mit Tauchboot als Modelle. „Beim Hügel 115 kam eigentlich genau das gleiche raus wie beim Hügel 5“, sagt Leuzinger, der das Amt für Archäologie im Thurgau leitet, vor einer Gruppe wissbegieriger Besucher:innen.
Zu zart für Pfahlbauten
Dass die Steine in Grösse und Schwere variierten, sei zufällig. Nichts liesse auf eine Selektion schliessen, die Erbauer:innen hätten alles verwendet, was sie in den umgebenden Moränen finden konnten. „Eine grosse Freude war, dass wir im Hügel 115 Pfähle gefunden haben.“ Sie steckten unter den Steinen im feinen Seeboden, erläutert Leuzinger. Die Pfähle haben etwa einen Durchmesser von 10 Zentimetern und sind aus Weichholz. Wie die Dendrochronologe gerade erst herausgefunden haben, sind es Eschen.
Sie seien zwar typisch für Pfahlbauer und offensichtlich mit Steinwerkzeug beschlagen worden; „für ein Pfahlbauhaus sind sie aber zu dünn“, so der Archäologe. Die Besucher:innen befühlten einen in Wasser eingelegten Pfahl andächtig und rätselten mit, wofür Pfähle und die Steinhügel wohl genutzt worden waren. Als Wellenbrecher? Oder Hochwasserschutz? Dazu seien die Abstände zwischen den Steinhaufen zu gross, enttäuschte Urs Leuzinger seine mitratenden Zuhörer:innen.
Rätselhaftigkeit sorgt für Interesse am Thema
Er nehme an, dass es sich um eine leichte Konstruktion gehandelt haben muss, ein Gerüst oder eine Plattform. „Wir wissen wirklich nicht, wofür diese Hügel angelegt wurden. Aber wenn Menschen so viele Steine von A nach B schleppen, muss es etwas mit Nahrungsbeschaffiung oder Kult zu tun haben.“ Immerhin bringen alle Steine der 170 Hügeli zusammengenommen 78 000 Tonnen auf die Wage.
Gerade weil die Hügeli so viele Rätsel aufwerfen, bleiben sie spannend. Das merkte man am Interesse der Anwesenden, von denen einige ihre eigenen Hypothesen mitbrachten. Leuzinger ist allerdings der Meinung, dass wir die Bedeutung der Hügeli wohl nie erfahren werden. Ziel der Archäologen ist es nun, aufzuzeigen, dass die Hügel ein Kulturgut sind. „Alles spricht dafür, dass es menschengemacht ist. Wenn es von nationaler Bedeutung ist, können wir Grabungen machen, um zu verifizieren, dass es eine spannende archäologische Struktur ist, die es zu bewahren und zu schützen gilt“, so Urs Leuzinger.
3D-Modelle lassen neue Perspektiven zu
Eine ganz neue Draufsicht auf das Forschungsprojekt gab Livia Enderli mit ihrer Masterarbeit „sunken Landscapes“. Enderli studierte an der Züricher Hochschule der Künste Wissenschaftliche Illustration. Sie kannte das Forschungsprojekt rund um die Hügeli von einem Praktikum beim Amt für Archäologie Thurgau. Für ihre Arbeit interessierte sie sich für die Visualisierung der Daten, die Archäologen und Geologen zusammentragen. Diese Daten setzte sie in 3D-Modelle um, „1:1, um die reale Dimension besser zu erfassen“, erklärt Enderli ihre Arbeit. Geologen arbeiteten häufig mit vertikalen Überhöhungen, um die Strukturen besser darstellen zu können.
„Wie kann ich als Designerin ungenutztes Wissenspotenzial aus Daten hervorholen?“
Livia Enderli
Für „sunken Landscapes“ suchte Livia Enderli eine andere Herangehensweise an dieses Forschungsthema: „Ich habe meinen Fokus auf die Visualisierung gelegt, viel mit Animationen oder verschiedenen Lichtquellen gearbeitet und mit Farben gespielt.“ Dadurch könnten die Strukturen besser erkannt und Dimensionen besser begriffen werden. Ausserdem wechselte sie die Perspektive: „Wenn wir von der deutschen Uferseite auf die Hügelkette schauen, sehen wir im Hintergrund die Alpen. Gab es hier vielleicht einen Zusammenhang?“ Livia Enderli stellte sich für ihre Arbeit die Frage: „Wie kann ich als Designerin ungenutztes Wissenspotenzial aus Daten hervorholen?“
Spielerei mit dem Wasserpegel
Hilfreich für die Forscher ist ausserdem ein interaktives Modell, mit dem sie den Seespiegel verstellen können. Als die Hügel vor 5500 Jahren erbaut wurden, war der Bodenseepegel mit 393 Meter über dem Meer sehr tief. „Die Kuppen hätten je nach Jahreszeit und Wasserstand gerade herausgeschaut“, sagt Urs Leuzinger. Mit Hilfe von Livia Enderlis Modell, können die Wissenschaftler nun durchspielen, wie sich die Hügeli zum Wasserstand verhalten.
Als Erleichterung für den Austausch unter Geologen und Archäologen erstellte Enderli ausserdem eine Kommunikationsplattform, welche sich gerade während der Pandemie als sehr praktisch erwies, da die Archäologen aus dem Thurgau, die Geologen aus Deutschland stammen. Anfangs habe Enderli noch viel Überzeugungsarbeit für ihr 1,5-jähriges Projekt leisten müssen. „Meine Idee war aber, nicht nur schöne Bildchen zu schaffen, sondern Design mit Archäologie zu verbinden und so eine neue Forschungsmethode zu entwickeln.“ Letztlich seien die Archäologen „mega happy“ gewesen, dass sich mal jemand ihre immensen Datensätze genauer anschaut.
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