von Inka Grabowsky, 08.02.2023
Mit Skalpell und Farbstift
Von wilden Tieren und frischen Wiederentdeckungen: Das Diessenhofer Museum Kunst und Wissen präsentiert ein abwechslungsreiches Jahresprogramm. (Lesedauer: ca. 3 Minuten)
«Auf zwei Etagen zeigen wir zwei verschiedene Pole der Papierkunst», sagt Kuratorin Lucia Angela Cavegn. «Während Regina Masuhr gestisch, subjektiv, raumgreifend und mit viel Emotion Collagen aus Alltags- und Hygienepapier schafft, zeigt Senol Tatli eine Handwerkskunst, die perfekt in unser altehrbares Handwerksgebäude passt.»
Das Museum Kunst+Wissen befindet sich in der ehemaligen Rotfärberei, die erst 1880 zum Wohnhaus umgewidmet wurde, und in der Carl Roesch 1902 sein erstes Atelier einrichtete..
Eine meditative Arbeit
Senol Tatli erweist sich als Meister der Geduld und der Präzision. Im Eingangsbereich hängen sich zwei aussergewöhnlich arbeitsintensive Werke gegenüber. In «Bubbles» in pointillistischem Stil hat Tatli 2017 rund ein halbes Jahr lang Millionen von Punkten gesetzt.
Danach tauscht er den Stift mit dem Skalpell. Sein hinterleuchtetes Wandrelief «Path to Infinity» besteht aus einem Dutzend Schichten Papier, die er über drei Monate hochkonzentriert zurechtgeschnitten hat, bis eine orientalisch anmutende Fassade entstand. «Es ist eine meditative Arbeit», meint er bescheiden. «Ich mache es liebend gern».
Und dann erweist sich der Künstler zusätzlich als Meister des Pragmatismus. Er verkaufe nicht jeden Monat etwas, meint er. «Deshalb arbeitete ich als Putzhilfe und als Tai-Chi Lehrer.» Eine ruhige Hand und Präzision brauche man für diese beiden Tätigkeiten schliesslich auch.
Performance, Tanz, Lyrik, Fotos und Collagen
Die Diessenhoferin Regina Masuhr hatte bei Lucia Cavegn nach einer Ausstellungsmöglichkeit gefragt. Und die Kuratorin war durchaus offen. «Es ist schliesslich meine Aufgabe, lokale Kunstschaffende zu fördern», sagt sie. Es gab allerdings eine Bedingung: «Regina stellt auf der Roesch-Etage aus, und hier wünschen wir uns jeweils die Auseinandersetzung der zeitgenössischen Kunst mit einem Werk von Roesch.»
Für die vielseitige Kreative war das offenkundig eine spannende Herausforderung. Neben ihren eigenständigen Collagen und Selbstinszenierungen hat sie sich einiger Werke von Roesch angenommen. Seinem Mosaik «Annamitischer Soldat» von 1933 stellt sie ihr fotografisches Selbstportrait «Soldat» gegenüber. Seine «Zwei schwarz gekleidete Frauen» aus den sechziger Jahren inszeniert sie in selbst geschneiderten Kostümen als japanischen Butoh-Tanz. «Damit hat sie Roesch quasi aus dem Museum geholt und neu interpretiert», lobt die Kuratorin.
Regelrecht unter die Haut gegangen sei ihr die Antwort der 60-Jährigen auf Roeschs Ölgemälde von «Päuli»: «Regina hat sich darin wiedergesehen. Sie schlüpft in die passende Kleidung und wird zum älteren Ich, das im Spiegel das jüngere Ich sieht.»
Zuwachs für «Bezugspunkt Diessenhofen»
Im Rahmen der Vorstellung des Jahresprogramms wurde die Schenkung von Hermann Ritschard gewürdigt. Der pensionierte Lehrer und passionierte Fotograf hatte dem Museum Kunst+Wissen bereits im Herbst sechs Fotografien überlassen. Vier davon haben sofort Eingang in die Dauer-Kabinetts-Ausstellung gefunden.
«Das ist eine grosse Ehre für mich», sagt Ritschard. Für das Museum ist es im Gegenzug eine grosse Freude, die Details der Fassade der Riegelhäuser in der Hintergasse auf drei Van-Dyke-Prints zeigen zu können, ausserdem den Silbergelatine-Abzug einer Aufnahme der «Klosterlinde nach dem Sturm» von 2022.
Fotofallen und heimliche Hauptdarsteller
Im Raum «Bezugspunkt Diessenhofen» befinden sich auch die aktuellen Schenkungen des Kunstvereins Diessenhofen, darunter das Temperabild «Eckhart III» von Erich Brändle. Er ist in Diessenhofen aufgewachsen, war fast 30 Jahre Dozent an der Zürcher Hochschule der Künste und wird ab 16. April mit einer Einzelausstellung anlässlich seines 80. Geburtstags geehrt.
Parallel dazu (und bis 13. August) ist «Tagein tagaus - künstlerische Wildtierfotografie» von Tobias Rüeger zu sehen. Der Naturfotograf hängt seit über zehn Jahren Fotofallen in den Wald und sorgt dafür, dass die tierischen Besucher gemeinsam mit prominenten Menschen abgelichtet werden. Dazu besorgt er sich in der Brockenstube Heiligenbildchen oder andere Sammlerstücke, die er im ausgesuchten Bildausschnitt platziert. «Ich möchte, dass der Mensch in der Natur vorkommt, ohne wirklich da sein zu müssen», sagt er.
Heiligenbildchen im Wald
Sein «Apostel Paulus» hatte so Besuch von einer Wildsau. Rehe, Marder, Dachse, Mäuse, Füchse, eine Gämse und ein Mauswiesel haben auch schon in die Linse geschaut. «Wenn ich Glück haben, ist ein Bild die Woche brauchbar, aber über die Zeit sind bestimmt hunderttausend Fotos ausgelöst worden», erzählt Rüeger.
Jahresprogramm im Museum Kunst+Wissen
Die Ausstellungen «Flowing Roses» von Regina Masuhr und «Lightful Shadows» von Senol Tatli laufen noch bis zum 26. März.
Am 26. Februar 2023 um 15 Uhr gibt es ein Werkstattgespräch mit Senol Tatli. Zur Finissage am Nachmittag des 26. März plant der Museum Kunst+Wissen gemeinsam mit dem gegenüberliegenden jüdischen Museum Gailingen einen kulturellen Begegnungstag. Auf der Rheinbrücke wird es eine Performance mit Regina Masuhr geben.
Tobias Rüeger, «Tagein tagaus - künstlerische Wildtierfotografie»: 16. April bis 13. August 2023
Erich Brändle, «Mit Erinnerungen an Margrit und Carl Roesch-Tanner»: 16. April bis 13. August 2023
Valentin Magaro: «Die Brücke»: 3. September 2023 bis 10. März 2024
Das gesamte Jahresprogramm im Überblick gibt es hier.
Von Inka Grabowsky
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