von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter, 07.04.2017
So nah, so fern
Der Arzt Nathan Wolf war respektiert und beliebt in seiner Heimatstadt. Dann kamen die Nazis und der Jude Wolf suchte Zuflucht in der Schweiz. In einer packenden Ausstellung zeigt das Museum für Kunst und Wissen in Diessenhofen jetzt diese unglaubliche Geschichte des Überlebens
Manche Leben schreiben ganz unglaubliche Geschichten. Zum Beispiel diese hier: Da ist ein Vater, der aus politischen Gründen aus seiner Heimat fliehen muss. Seine Frau, zwei kleine Kinder, seine Mutter und Schwester lässt er zurück. Und lebt fortan nur wenige Kilometer von seiner Familie entfernt, auf der für ihn sicheren Seite der Grenze. Aber trotzdem ist da natürlich diese Sehnsucht nach den Lieben. Wenn er sie schon nicht in die Arme schliessen kann, dann will er sie wenigstens sehen. Der Vater besteigt jeden Sonntag ein Ausflugsschiff, das auch die Ufer seiner alten Heimat befährt. Dort stehen seine Kinder und winken. Ein kurzer Moment. Man sieht sich. Winkt. Und dann geht die Fahrt weiter. Was für ein Schmerz muss das sein? Diese flüchtige Begegnung, die die Allgegenwärtigkeit der Abwesenheit immer wieder ins Bewusstsein peitscht. Was für eine Qual? Die Lieben so nah zu sehen und doch zu wissen, dass sie unerreichbar weit weg sind. Manchmal, so scheint es, ist unüberbrückbare Nähe doch die grösste Distanz.
In unseren Zeiten der allgegenwärtigen Fluchtnöte könnte eine solche Geschichte jeden Tag spielen. Im konkreten Fall allerdings spielte sie in der Vergangenheit, genauer gesagt in den Jahren zwischen 1939 und 1945. Die Familie Wolf lebt in Wangen auf der Höri als die Nazis die Macht übernehmen in Deutschland. Die jüdisch-christliche Familie - Nathan Wolf ist Jude, seine Frau Auguste Christin - ist selbstverständlicher Teil des Dorflebens. Als Arzt ist Nathan Wolf anerkannt und beliebt. Aber wie überall im Deutschland der NS-Zeit verändern die neuen politischen Verhältnisse auch familiäre Verhältnisse. Auch im malerischen Wangen auf der Höri. Am 10. November 1938 zerstört die SS die Synagoge. In diesem Kontext wird Nathan Wolf zusammen mit den letzten verbliebenen jüdischen Männern aus dem Dorf für etwa vier Wochen in das Konzentrationslager Dachau gebracht. Spätestens jetzt weiss Wolf, dass er das Land verlassen muss, wenn er überleben will. Nach dem im Februar 1939 eine legale Ausreise in die Schweiz aufgrund der fehlenden Ausreisebewilligung aus Deutschland scheitert, flieht Nathan Wolf schliesslich am 27. August 1939 illegal in die Schweiz. Per Kursschiff verlässt er Wangen und geht in Stein am Rhein von Bord. Nur dank seiner einflussreichen Freunde darf er als einer von 12 Juden am Ende auch in der Schweiz bleiben; er wird geduldet. Seine Familie allerdings muss er in Nazi-Deutschland zurücklassen. Und so kommt es zu diesen regelmässigen Winkbegegnungen von Schiff zu Ufer.
Nathan Wolf winkt seinen Kindern, Selbstporträt aus dem Jahr 1942. Bild: privat
Die bewegende Geschichte der Familie Wolf zeigt jetzt die Ausstellung „Die Wolfs - Geschichte einer Familie" im Museum für Kunst und Wissen in Diessenhofen. Das Haus wird umsichtig geleitet von Helga Sandl, sie konnte die literaturhistorische Expertin Anne Overlack dafür gewinnen, die Schau, die ursprünglich im kleineren Format im Hermann-Hesse-Haus in Gaienhofen auf der Hört zu sehen war, nun erweitert in Diessenhofen zu zeigen. Grundlage der Ausstellung ist die aussergewöhnliche Dokumentation „In der Heimat eine Fremde. Das Leben einer deutschen jüdischen Familie im 20. Jahrhundert", die Anne Overlack 2016 bei Klöpfer & Meyer herausgebracht hat. Oral history trifft hier auf herausragende Weise auf gründliche Archivrecherche. Und genau dies versucht nun auch die Ausstellung, die noch bis zum 19. Juli zu sehen ist.
Wie die Schatten im Gesicht von den Schrecken künden
Die Erzählung beginnt mit Luftaufnahmen von Wangen und Umgebung. Man erkennt die Struktur des Dorfes, sieht das Haus der Familie Wolf und betrachtet die vermeintliche Intaktheit dieser Idylle. Der Einstieg will verorten, einen ersten Überblick geben und zeigt eben auch, dass selbst in der vielleicht schönsten Gegend Deutschland, der hässliche Terror der Nazis zugeschlagen hat. Zwei Stockwerke darüber zoomen die Ausstellungsmacher schon stärker in diesen Mikrokosmos und stellen die Familie Wolf vor. In Fotografien und Gemälden (unter anderem von Walter Waentig) lernen die Besucher diese selbstbewusste, patriotische und durchaus erfolgreiche Familie kennen. Aber auch hier gibt es schon eine Fotografie, die ahnen lässt, dass schwere Zeiten kommen werden (siehe Titelbild oben zu diesem Text). Nathan Wolf, seine Frau Auguste und die beiden Kinder Hannelore und Gert, sitzen auf einer Bank. Schatten liegt vor allem auf den Gesichtern von Auguste und den Kindern, Nathan blinzelt in die Kamera, seine linke Gesichtshälfte ist auch beschattet. Das Bild stammt aus den 1920ern, einer Zeit, in der alles eigentlich noch in Ordnung ist. Und doch erscheinen uns heute die Schatten wie dunkle Vorzeichen einer noch dunkleren Zeit.
Das Haus der Famulie Ludwig Wolf, im Vordergrund Nanette Wolf mit ihren Kindern. Bild: privat
Im weiteren Verlauf der Ausstellung soll sich das bewahrheiten. Die Betrachter begleiten die Familie Wolf durch die Zeit. Die Auszüge aus seinem Soldaten-Tagebuch zum Ersten Weltkrieg lassen keinen Zweifel an seinem Patriotismus, die zunächst kleinen sozial-klimatischen Änderungen in der Gesellschaft der 1930er-Jahre werden über Briefe und andere persönliche Dokumente erfahrbar. Die historischen Dokumenten werden in den Ausstellungsvitrinen oft auch mit den Erinnerungen von Hannelore König, Tochter von Nathan Wolf, ergänzt. Die Schau verfolgt im Wesentlichen vier prägnante Erzählstränge: Die ersten Bedrängnisse in der Nazizeit, die Flucht von Nathan Wolf nach Stein am Rhein, seine Zeit im Exil und wie er ein Menschenleben rettete, sowie das Verhalten der Schweiz gegenüber Flüchtlingen. Hier wird schonungslos deutlich, dass es den Schweizer Behörden damals vor allem darum ging, die finanzielle Belastung durch Flüchtlinge gering zu halten. Humanitäre Gründe standen offenbar eher im Hintergrund. Mit anderen Worten: Wer wohlhabend war, hatte es deutlich einfacher, zumindest geduldet zu werden.
Die Ausstellung bleibt zwar oft nah bei den Ereignissen um die Familie Wolf, wirft aber auch einen Blick auf die Schicksale der Juden, die aus Südbaden zunächst in das französische Internierungslager Gurs deportiert wurden. Wer dort überlebt hatte, starb mit grosser Wahrscheinlichkeit dann später in Auschwitz oder einem anderen Vernichtungslager der Deutschen.
Ein Verdienst der Ausstellung? Sie endet nicht 1945
Es gibt viele Dinge an dieser Ausstellung, die bemerkenswert sind. Eines davon: Sie endet nicht 1945, wie so viele andere Geschichten über jüdische Familien in der NS-Zeit. Das Überleben von Nathan Wolf und seinen Kindern macht es möglich, auch die Zeit nach dem Krieg noch zu beschreiben und der Frage nachzugehen, wie es Nathan Wolf möglich war nach all seinen Erlebnissen nach Kriegsende wieder nach Wangen zurückzukehren. In jene Gemeinde, in der es ja auch Menschen gab, die die Nationalsozialisten entweder unterstützt hatten oder doch zumindest Mitläufer waren. Nathan Wolf konnte das offenbar gut. Er kam zurück, nahm sein altes Leben wieder auf. Als wäre nichts gewesen? Von aussen konnte es vielleicht so wirken. Seine Tochter Hannelore König sagt über ihn, er habe ein Talent dafür gehabt, Dinge unter den Teppich zu kehren. Sie meinte das gar nicht böse. Aus ihrer Sicht war das notwendig. „Man musste ja irgendwie weiterleben", sagte sie dazu. Die Ausstellung erlebte Hannelore König nicht mehr. Sie starb 2012 beim Baden.
Aus ihren Erinnerungen ist die Ausstellung entstanden: Hannelore König, geborene Wolf
Die grösste Herausforderung für die Ausstellungsmacher war die Frage, wie es gelingen kann vor allem zweidimensionale Quellen auch dreidimensional im Rahmen einer Ausstellung erlebbar zu machen. Hier und da gibt es auch Versuche, das klassische Schaukasten-Format aufzubrechen, im Kern bleibt es aber eine konventionell erzählte Geschichte. Vielleicht ist das aber auch gut so, weil es für einen respektvollen Umgang mit den Exponaten spricht. Der exzeptionelle Inhalt sticht allemal die herkömmliche Erzählweise.
Darunter finden sich auch so berührende Ausstellungsstücke wie jener Bildbrief, den Hannelore Wolf an ihren Vater am 30. Juli 1941 schrieb. Es ging um ihre eingangs beschriebenen sonntäglichen Sicht-Begegnungen von Schiff zu Ufer. Hier notiert die damals 16-Jährige: „Wenn Du vorbeifährst, musst Du auch auf das Wasser schauen. Letztesmal bin ich ungefähr 100 m hinausgeschwommen und ich dachte, dann siehst Du mich von näher. Aber Du hast gar nichts davon geschrieben." Ergänzt hat sie den Text um eine kleine Skizze von sich im Wasser winkend.
"Du hast gar nichts davon geschrieben": Diesen Bildbrief schrieb Hannelore Wolf am 30. Juli 1941 an ihren Vater Nathan. Bild: Privat
Tatsächlich ist die Geschichte von Nathan Wolf ebenso exemplarisch wie einzigartig für diese Zeit. So fleissig und akribisch wie er sein Leben aufzeichnete, muss er selbst geahnt haben, in welch historischen Zeiten er lebte. Von diesem reichen dokumentarischen Fundus der Familie und von den Erinnerungen Hannelore Königs lebt die Ausstellung.
Eine Rückkehr nach Wangen stand nie in Frage. Trotz allem. Nathan Wolf, an seinem 80. Geburtstag 1963 in der alten Heimat. Bild: privat
Anne Overlack ist über ein Gespräch, das Manfred Bosch 2007 mit Hannelore König geführt und zu grossen Teilen im Hegau-Jahrbuch veröffentlicht hat, auf die Geschichte aufmerksam geworden. Für ihr Buch „In der Heimat eine Fremde" hat sie sowohl die Aufzeichnungen von Manfred Bosch angehört als auch selbst mehr als 20 Gespräche mit Hannelore König geführt. Auch deshalb sind Buch und Ausstellung ein Lehrbeispiel dafür, wie wertvoll erzählte Geschichte sein kann. Dass Overlack hier aber nicht stehen blieb, sondern diese oral history um eigene Archivrecherchen und -funde ergänzte, macht die grosse Stärke ihrer Arbeit aus. Noch bis zum 19. Juli 2017 ist „Die Wolfs - Geschichte einer Familie" im Museum für Kunst und Wissen in Diessenhofen zu sehen.
Anne Overlack1960 geboren, Studium der Germanistik, Geschichte und Kulturanthropologie in Bonn und Paris, Promotion an der Universität Zürich. Lebt seit 1993 auf der Hört am Bodensee. Freie Journalistin, Gemeinde- und Kreisrätin. Kultur- und literaturhistorisch engagiert, unter anderem Einrichtung und Betreuung der Gedenkstätte Jacob Picard in Öhningen-Wangen. Ihr Buch "In der Heimat eine Fremde" ist im Verlag Klöpfer & Meyer erschienen und im Buchhandel erhältlich. ISBN 978-3-86351-419-8.
|
Weitere Beiträge von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter
- Konstanz, wir müssen reden! (26.05.2023)
- Die verlorene Ehre eines Bauern (25.05.2023)
- Zehnmal Zeit für Entdeckungen (17.05.2023)
- Wie wir uns weiter entwickelt haben (01.05.2023)
- Das 127-Millionen-Paket (02.05.2023)
Kommt vor in diesen Ressorts
- Wissen
Kommt vor in diesen Interessen
- Kritik
- Geschichte
- Bodensee
Ähnliche Beiträge
Säbel, Degen und Bajonette locken ins Museumsdepot
Am 10. Mai gibt es die seltene Gelegenheit, eine Schatzkammer zu betreten. Waffen- und Militärhistoriker Jürg A. Meier führt durch einen Teil der Depotsammlung des Historischen Museums Thurgau. mehr
Erfüllt sich ein Traum zum 30. Geburtstag?
Eine alte Idee mit neuen Mitteln umsetzen – so beschreibt Christian Hunziker das Projekt «Multidimensionaler Vermittlungssteg beim Seemuseum». mehr
Imagekampagne für einen grünen Fürsten
Das Napoleonmuseum auf dem Arenenberg widmet Kaiser Napolèon III. eine Sonderausstellung zu seiner Rolle als Landschafts- und Stadtbild-Gestalter. mehr