von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter, 04.04.2023
Thurgau für Einsteiger
Voller Saal in der Kantonsbibliothek: Die Lesung aus Kathrin Zellwegers Buch „Begegnungen“ wurde zum Treffen der Thurgauer Kulturszene. Und machte deutlich, welch bemerkenswerte Texte die Journalistin geschrieben hat. (Lesedauer: ca. 3 Minuten)
Es gibt Autor:innen, die schreiben Texte in einem so unverwechselbaren Ton, das der oder die Autor:in in jeder Silbe durchscheint. Liest man diese Texte, dann steht die Autor:innenpersönlichkeit immer mit im Raum. So kam es, dass bei der Lesung am Dienstagabend im voll besetzten Saal der Kantonsbibliothek in Frauenfeld aus dem Buch „Begegnungen“ von Kathrin Zellweger, die Journalistin und Autorin stets präsent war, obwohl sie bereits 2019 gestorben ist.
„Sie ist in ihren Texten mitten unter uns“, formulierte der Medienwissenschaftler Kurt Schmid in seiner Würdigung klug. Wohl auch deshalb hatte Miriam Waldvogel, Leiterin des herausgebenden Saatgut-Verlags, eingangs noch darauf hingewiesen, man wolle diese Texte sprechen lassen. Das gelang ganz hervorragend.
„Sie ist in ihren Texten mitten unter uns.“
Kurt Schmid, Medienwissenschaftler
Das lag zum einen an der präzisen wie kurzweiligen Lesung der Literaturexpertin Judith Zwick. Zwei Geschichten hatte sie aus dem 237 starken Buch ausgewählt. Und in beiden schimmerte durch, was Kathrin Zellweger als Autorin so besonders machte: Ihre Beobachtungsgabe, ihre Empathie für das Gegenüber und ihr überzeugendes Handwerk. Sie verstand es, das was sie erlebt und gehört hatte, stets in einen lesenswerten und berührenden Text zu giessen.
Zum Beispiel Barnabás Bosshart. Wie Kathrin Zellweger den aus dem Thurgau stammenden, renommierten Mode- und Reportagefotografen in ihrem Porträt (erschienen erstmals im September 2003 im St.Galler Tagblatt) lebendig werden lässt; wie sie mit wenigen Einschüben, viel sagt und dem Text eine ganz eigene, fein nuancierte Farbigkeit gibt, das ist aussergewöhnlich gut. Ein Glück ist dabei auch, dass Kathrin Zellweger ihren Gesprächspartner:innen scheinbar mühelos solch starke Zitate entlockt, auf die andere Journalist:innen oft vergeblich hinarbeiten.
Ein meisterhaftes Porträt über Barnabás Bosshart
Unter anderem in dieser Passage:
«Eine gute Fotografie stellt eine Frage oder hat eine Antwort. Sie muss im Kopf des Betrachters etwas auslösen, sei es Freude oder Irritation. Fotografie ist Risiko und Magie zugleich.» Der ehemalige Eschliker, der Thurgauer Dialekt spricht, als ob er jeden Abend in einer Ostschweizer Beiz jassen würde, ist kein fotografierender Missionar, der die Welt aufrütteln oder anklagen will. Er möchte Dokumentarist sein. Wenig und viel zugleich.»
Das ist so auf den Punkt geschrieben, dass eben jene Szene, die die Autorin mit Barnabás Bosshart erlebte und beschrieb, sehr plastisch vor dem geistigen Auge der Leser:innen erscheint.
Dass der Abend in Frauenfeld insgesamt so gelungen war, lag aber auch an der Würdigung des Kreuzlinger Medienwissenschaftlers Kurt Schmid. Er hatte schon kurz nach Zellwegers Tod einen Nachruf auf die Autorin bei thurgaukultur.ch verfasst und nun baute er seine Gedanken aus. „Wenn mich jemand fragte, ‚Wie ist es so, das Leben im Thurgau?‘ dann antworte ich jetzt stets: Lies das Buch von Kathrin Zellweger, dann weisst du Bescheid!“
Sie beherrscht es, Texte leicht wirken zu lassen
Auf 237 Seiten finden sich in dem Buch „Begegnungen“ 19 Reportagen und 38 Lebens- oder Berufs-Portraits von bekannten und unbekannten Thurgauer:innen. Sie wurden zwischen 2002 – dem Beginn der Tätigkeit Zellwegers als freie Journalistin - und 2013 in St. Galler Tagblatt, der Thurgauer Zeitung oder auf thurgaukultur.ch publiziert. Zellwegers letzter Text für thurgaukultur.ch erschien im Juni 2017 - ein Beitrag über die Regisseurin Renate Flury.
Kurt Schmid lobte Zellwegers Blick für das Wesentliche und das Charakteristische, der ihre Texte ausmache: „Das sind allesamt Beiträge einer glücklichen Autorin. Einer Autorin, die glücklich war, wenn sie das, was sie erlebt hatte in einem Artikel weitergeben konnte. Entstanden sind dabei oft Kurzgeschichten im besten Sinne des Wortes“, so Schmid.
Tatsächlich ist gerade diese beschwingte und beschwingende Leichtigkeit, die Zellwegers Texten inne liegt, eine grosse Kunst. Etwas Schweres, leicht wirken zu lassen, das weiss jeder, der mit Texten arbeitet, fliegt einem nicht zu. Das gelingt nur mit akribischer Arbeit.
Kein böses Wort über niemanden
Auffallend an Zellwegers Texten sei zudem, so Schmid, dass sie über keinen der von ihr porträtierten Menschen ein böses Wort verliert: „Alle kommen gut weg. Es ging nie darum, jemanden blosszustellen. Dieser freundliche Blick liegt sicher auch daran, dass sich Kathrin Zellweger sehr für ihre Protagonist:innen interessiert hat“, beschreibt Kurt Schmid dieses besondere Einfühlungsvermögen von Kathrin Zellweger.
Ihre Texte wandelten zwischen Journal und Journalismus und seien allesamt Geschichten, die das Leben schreibt, so Schmid. Genau deshalb lesen wir diese Geschichten vermutlich auch heute noch so gerne. Wer die Lesung verpasst hat - das Buch ist im Frauenfelder Saatgut-Verlag erschienen und hier erhältlich.
Das Buch
«Begegnungen – Porträts und Reportagen» von Kathrin Zellweger
. Erschienen im Saatgut Verlag. Herausgegeben von Hansjakob Zellweger
mit Illustrationen von Regula Baumer,
Vorwort von Sylvia Egli von Matt
240 Seiten
ISBN 978-3-9525244-6-6 CHF 34.–
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