von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter, 07.02.2022
«Was viel kostet, ist nicht immer viel wert.»
Irre Preise für NFTs (Non Fungible Token) und andere Merkwürdigkeiten des Kunstmarktes: Welche Werte zählen heute noch in der Kunst? Ein Interview mit Markus Landert, Direktor des Kunstmuseum Thurgau. (Lesedauer: ca. 11 Minuten)
Herr Landert, bei Christie’s hat das digitale Bild „9 Crypto Punks“ 17 Millionen Euro eingebracht, der inzwischen weltberühmte Beeple hat sein NFT „Everydays“ für 69,3 Millionen US-Dollar verkauft und Damien Hirsts NFT-Projekt „The currency“ wird sogar auf 500 Millionen Dollar taxiert. Was sagen uns diese Zahlen über Werte in der Kunst?
Das sagt uns erst mal nur etwas über den Kunstmarkt. Man muss unterscheiden zwischen dem Finanzwert, der durch den Kunstmarkt definiert wird, und dem gesellschaftlichen, ästhetischen Wert eines Kunstwerkes. Der eine Wert bezeichnet die Summe, die für den Erwerb eines Werks bezahlt wird. Der andere Wert umschreibt die Bedeutung, die ein Kunstwerk in der Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Fragen hat. Natürlich gibt es da einen Zusammenhang: wenn ein Objekt teuer bezahlt wird, dann wächst die Aufmerksamkeit und es wird ihm schnell eine gesellschaftliche Bedeutung unterstellt. Aber die von Ihnen genannten Beispiele haben mehr mit Mechanismen des Kunst- und Kapitalmarktes zu tun als mit der Kunst selbst. Solche Preise scheinen mir mehr eine spekulative Investition zu sein, eine Investition in ein Versprechen auf einen zukünftigen Gewinn. Es geht da weniger um den Kauf eines Kunstwerks das einen gesellschaftlichen, ästhetischen Wert hat.
Ist Kryptokunst wirklich nur ein Hype am Kunstmarkt oder legt sie nicht Mechanismen des Kunstmarktes offen, dekonstruiert sie und schafft am Ende vielleicht sogar neue Werte?
Ob die sogenannte Kryptokunst (Link: was sind NFTs?) neue gesellschaftliche Werte schafft, kann ich nicht beurteilen. Das wird die Zeit zeigen. Die Mechanismen und auch Absurditäten des Kunstmarktes oder wenigstens seiner Extreme liegen auch ohne Kryptokunst bereits offen.
„Solche Preise scheinen mir mehr eine spekulative Investition zu sein, eine Investition in ein Versprechen auf einen zukünftigen Gewinn.“
Markus Landert, Direktor Kunstmuseum Thurgau
Was bedeutet Wert in der Kunst überhaupt?
Es gibt, wie bereits angetönt, zwei Ebenen. Da ist der Kunstmarkt, der funktioniert nach normalen kapitalistischen Regeln. Wenn es wenig gibt und viel nachgefragt wird, steigen die Preise. Auch Kunstwerke haben – solange sie gehandelt werden – einen solchen Marktpreis. Dann gibt es aber noch eine zweite Wertebene: Diese misst sich daran, wie sichtbar ein Werk in der Gesellschaft ist und welchen Beitrag es zum gesellschaftlichen Diskurs über Kunst und Ästhetik leistet. Kunstwerke in Museumsbesitz sind dem Kunstmarkt entzogen. Sie haben höchstens noch einen fiktiven Marktpreis. Dafür aber sind sie als Wertmassstäbe für Schönheit, Attraktivität oder bildnerische Innovation von Bedeutung.
Kann man das wirklich so losgelöst voneinander sehen? Der Kunstmarkt versucht ja auch ständig Wertigkeiten neu zu definieren.
Das ist richtig. Es gibt durchaus eine Verbindung zwischen ästhetischer Wertigkeit und Marktwert. Der Markt versucht immer wieder über die Argumentation „Was viel kostet, ist auch viel wert“ auch eine gesellschaftliche Bedeutung von Kunstwerken zu erzeugen. Manchmal funktioniert das. Wie die Kunstgeschichte aber zeigt, haben sich längst nicht alle Wertbehauptungen des Kunstmarktes eingelöst. Nicht alles, was teuer bezahlt wurde, vermochte längerfristige gesellschaftliche Bedeutung zu erlangen.
Können Sie dafür Beispiele nennen?
Ende des 19. Jahrhunderts gab es die sogenannten Salonmaler wie Hans Makart oder Franz von Lenbach, für deren Werke unglaubliche Preise bezahlt wurden. Heute sind die Arbeiten vor allem noch als kulturhistorische Phänomene von Interesse. Aktuell ist vielleicht Damien Hirst ein ähnlicher Fall. Für seine Werke werden heute riesige Summen bezahlt. Bei ihm kann vermutet werden, dass er ganz bewusst mit dem Markt, mit der Einbettung der Kunstwerke in eine kapitalistische Situation spielt. Manche seiner Arbeiten thematisieren offensichtlich die Verbindung von Geldwert und gesellschaftlicher Bedeutung, ja diese Frage wird zum eigentlichen Kern des Werks. Es stellt sich aber die Frage: Wird dies längerfristig von Interesse sein?
Manche sagen ja, manche nein.
Ich bin da eher bei nein. Wenn Hirst einen Totenkopf mit Diamanten überzieht, so entsteht da zwar ein sehr wertvolles Objekt, was aber mehr mit den teuren Materialien zu tun hat als mit der der Raffinesse der dahinterstehenden Gedanken. Und rein von der visuellen Attraktivität her hat ein solcher Totenschädel etwa den Reiz eines diamantbesetzten Armbands. Das ist nicht nichts. Aber genügt das? Da gibt es andere Kunstschaffende, deren Werke ähnlich hohe Preise erzielen, die aber interessantere sinnliche und anregende Seherfahrungen bieten. Einer davon ist Gerhard Richter, dessen Schaffen näher bei meiner Vorstellung von interessanter Kunst liegt.
„Wenn Damien Hirst einen Totenkopf mit Diamanten überzieht, so entsteht da zwar ein sehr wertvolles Objekt, was aber mehr mit den teuren Materialien zu tun hat als mit der der Raffinesse der dahinterstehenden Gedanken.“
Markus Landert, Direktor Kunstmuseum Thurgau
Sie haben vorhin gesagt, dass Sichtbarkeit auch ein Kriterium für Wertigkeit in der Kunst ist. Wenn das stimmt, dann sind NFTs sogar relevanter als herkömmliche Kunst. Weil sie über digitale Kanäle und soziale Medien potenziell viel mehr Menschen erreichen können als es jede Museumsausstellung könnte.
Einfach nur weil darüber geredet wird, ergibt sich noch kein Wert. Es kommt darauf an, welche Fragen an den Werken abgehandelt werden. Bei den NFTs läuft die Diskussion aktuell vor allem über die hohen erzeugten Preise. Ob die Werke auch was taugen, darüber wird kaum geredet. Überhaupt frage ich mich, wo die Werke denn überhaupt gesehen werden. Das teuerste verkaufte NFT, das Werk „Everydays“ von Beeple soll aus 5'000 Einzelbildern bestehen. Auf dem Internet ist davon nur ein Überblick zu finden (beim Auktionshaus Christie's gibt es Details zum Werk, d. Red.) sowie einige wenige Einzelbilder. Dies genügt meiner Meinung nach nicht, um eine vertiefte Auseinandersetzung zu führen. Das „Original“, das ganze Werk ist nicht zu sehen. Das ist etwa so, wie wenn ein Gemälde anhand einer schlechten Fotografie betrachtet und beurteilt würde. Es ist also nicht so weit her mit der Sichtbarkeit der Werke.
Wenn das nicht reicht, woraus ergibt sich dann für Sie der gesellschaftliche Wert eines Werkes?
Der gesellschaftliche Wert ergibt sich letztendlich aus der Breite und Tiefe der Auseinandersetzung. Nehmen wir das Schaffen von Josef Beuys. Dessen Werk war für Viele auch nicht richtig greifbar. Wer hat denn schon seine Performances gesehen? Wer verstand die Komplexität seiner Installationen oder seines Weltbildes? Aber seine Arbeiten waren über lange Zeit in wichtigen Ausstellungen wie der Documenta zu sehen. Er war in den Medien vertreten, nicht nur in Kunstzeitschriften, auch in den Boulevardblättern. Dabei haben seine ästhetischen und politischen Ideen immer auch eingezahlt auf die Auseinandersetzung mit den Fragen: Was kann die Kunst in der Gesellschaft leisten? Kann Kunst auch politisch sein? Und wo verliert sie ihren Kernwert, wenn sie politisch wird? Diese Diskussion läuft bei NFTs noch nicht. Das kann ja aber vielleicht noch werden.
„Der gesellschaftliche Wert eines Kunstwerkes ergibt sich letztendlich aus der Breite und Tiefe der Auseinandersetzung.“
Markus Landert, Direktor Kunstmuseum Thurgau (Bild: Beni Blaser)
Machen wir noch mal einen Schritt zurück: Jenseits von Markt und Gesellschaft - wie entstehen Werte in der Kunst überhaupt?
Diese Frage ist verbunden mit der Frage nach der Kunst überhaupt. Warum machen Menschen Bilder? Warum singen sie? Warum erzählen sie Geschichten? All diese auf den ersten Blick unproduktiven Tätigkeiten hängen irgendwie mit dem Bedürfnis der Menschen zusammen, ihrem Leben einen Sinn zu geben, der über die Erfüllung der rein körperlichen Bedürfnisse hinausgehen. In Bildern, in Musik und Geschichten werden solche Sinnfindungskonstruktionen entwickelt und kommuniziert. In Bildern wird immer wieder den Fragen nachgegangen: Warum sehen wir die Dinge so, wie wir sie sehen? Was sehen wir überhaupt, wenn wir schauen? Was ist denn das, die Wirklichkeit? Die Bildproduktion war immer verbunden mit einem Hang zum Experimentieren. Das Bildermachen ging einher mit einem Ausprobieren, wie diese Spiegelungen des Sichtbaren attraktiv oder auch ungewöhnlich und überraschend gestaltet werden können.
Das heisst, nicht das Abgebildete ist relevant für die Wertigkeit der Kunst, sondern die Art und Weise der Abbildung.
Richtig. Seit der Moderne ist der experimentelle Umgang mit den eingesetzten Mitteln immer wichtiger geworden. Das Medium selbst ist die Botschaft. Das Kunstwerk verweist immer auch auf die eigenen Mittel zurück.
Werte folgen oft auch Zuschreibungen Dritter. Einflussreiche Menschen sagen: Das ist wertvoll, das nicht. Das ist Kunst, dies nicht. Gibt es überhaupt so etwas wie einen objektiven künstlerischen Wert, der einem Werk inne liegt?
Es gibt eine Theorie, die Bildern oder Objekten einen diesen innewohnenden, wahren Sinn unterstellt. Damit verbunden wäre dann auch ein objektiver Wert. Ich seh das anders: Für mich entstehen Werte in der Auseinandersetzung. Werte, Bedeutungen, Inhalte sind gesellschaftliche Phänomene. Erst im gesellschaftlichen Diskurs entwickeln sich der Wert und die Bedeutung von Objekten und Bildern. Wenn ich ein Werk aus dem Museum entferne und ins Depot stelle, dann verliert es seinen Wert, weil es nicht mehr sichtbar ist und nicht mehr verhandelbar ist. Deshalb müssen Werke immer wieder aus dem Depot ans Tageslicht geholt werden, damit ihre Wertigkeit, ihre Bedeutung, ihre Attraktivität neu überprüft werden kann.
„Unsere Ausbildung, unser Herkommen, unsere Erinnerung bestimmen mit, was wir als interessant empfinden, was wir überhaupt wahrnehmen können.“
Markus Landert, Direktor Kunstmuseum Thurgau
Welche Rolle spielt in dieser Debatte die Haptik, die Aura des Originals?
Bis heute spielt die sinnliche Präsenz eines Gemäldes, einer Plastik eine wichtige Rolle. Mit dem Aufkommen der Fotografie als künstlerischem Ausdrucksmittel hat sich allerdings die Vorstellung des Originals und des Auratischen verändert. Die Aura entsteht nicht länger nur aus der Einzigartigkeit des Werks. Sie kann auch anderweitig produziert werden, etwa durch Erzählungen, die ein "Werk" begleiten. Diese Erzählungen können den Finanzwert eines Werkes hervorheben, oder Hinweise auf die Seltenheit eines Objektes, die Kreativität seiner Schöpfer oder die besonderen Bedingungen von dessen Herstellung. Werden solche Geschichten überzeugend genug erzählt, dann verändert sich der Blick auf dieses Objekt. Es entsteht die Erfahrung jener ehrfürchtigen Distanz, die durch die Aura hervorgerufen wird.
Ganz banal gefragt: Warum nehmen wir ein Bild überhaupt als interessant wahr?
Das hat zum einem mit angeborenen Wahrnehmungsmechanismen zu tun. Gewisse Reize werden intensiver wahrgenommen als andere. Kontraste erregen höhere Aufmerksamkeit als sanfte Verläufe, geschlossene Formen sind attraktiver als offene. Das ist gegeben durch die Funktionen der Sinnesorgane und des Gehirns. Zum andern aber bestimmt auch unser Interesse mit, was wir sehen. Wahrnehmung ist ein aktiver Suchprozess: Wir sehen vorzugsweise das, was wir sehen wollen. Was wir nicht kennen, können wir auch nicht erkennen. So bestimmt unsere Ausbildung, unser Herkommen, unsere Erinnerung mit, was wir als interessant empfinden, was wir überhaupt wahrnehmen können. Ein Autofan sieht in seinem Ferrari viele Dinge, für die ich blind bleibe. Für ihn ist sein Ferrari auch durchaus ein auratisches Objekt.
Es gibt Künstler:innen, die zu ihren Lebzeiten umjubelt waren, heute aber kein Mensch mehr kennt. Ebenso gibt es Künstler:innen, die zu Lebzeiten kaum bekannt waren, heute aber Anerkennung erfahren. Warum sind Werte in der Kunst so vergänglich?
Die Vorstellung dessen, was Kunst ist und was sie der Gesellschaft zu bieten hat, verändert sich mit dem Wandel eben dieser Gesellschaft. Kunst ist heute nicht mehr das gleiche wie vor 50 oder 100 Jahren, genauso wie sich auch die Werte der Gesellschaft verändert haben. Ein aufschlussreiches Beispiel dieses Wertewandels zeigt sich in der aktuellen Diskussion über den Umgang mit Objekten aus Afrika. Vor hundert Jahren waren es Beutestücke, die vom Erfolg der europäischen Kolonialpolitik kündeten. Heute sind es Zeugen von Grausamkeit, Rassismus und fehlendem Gerechtigkeitssinn der europäischen Eroberer. Und an der Rückgabediskussion kristallisieren sich nun Fragen von Schuld, Verantwortung und Wiedergutmachung. Die Objekte sind die gleichen geblieben, aber unsere Haltung dazu und unser Umgang mit ihnen hat sich verändert. Wir stellen heute andere Fragen, nicht zuletzt auch weil sich die Werte in der westlichen Gesellschaft verändert haben. Eine rein ästhetische Betrachtungsweise wie früher ist nicht mehr möglich, weil die Diskussion über künstlerische Werte nie losgelöst ist von den übrigen Werte-Diskussionen in der Gesellschaft.
Bedauern sie das als Direktor eines Kunstmuseums?
Da gibt es nichts zu bedauern. Je vielfältiger eine Auseinandersetzung mit einem Kunstwerk geführt werden kann, desto reicher wird diese. Eine rein ästhetische Betrachtung eines Gemäldes oder einer Skulptur zieht wesentliche Beschränkungen nach sich, wodurch die Potentiale von Kunstwerken nicht ausgeschöpft werden können.
„Vor hundert Jahren waren es Beutestücke, die vom Erfolg der europäischen Kolonialpolitik kündeten. Heute sind es Zeugen von Grausamkeit, Rassismus und fehlendem Gerechtigkeitssinn der europäischen Eroberer.“
Markus Landert, Direktor Kunstmuseum Thurgau über Raubkunst
Kehren wir nochmal zurück in den Thurgau und werden konkret: Warum sind beispielsweise Werke von Adolf Dietrich mehr wert als solche von Helen Dahm?
Jetzt sind wir wieder bei den Marktpreisen. Die Frage, die sich da stellt, lautet: warum sind die Marktpreise für Adolf Dietrich so hoch? Eine Antwort darauf ist: Es gab mehrere Sammler, die intensiv Werke von Adolf Dietrich gekauft haben. Dadurch stiegen die Werte in den Auktionen. Diese Entwicklung gibt es bei Helen Dahm nicht im gleichen Masse. So einfach funktioniert der Markt.
Das heisst aber ja nicht, dass Helen Dahms Werke weniger interessant wären als die von Adolf Dietrich.
Nein, das heisst es nicht. Helen Dahm und Adolf Dietrich haben beide spannende Werke geschaffen, die bereits zu Lebzeiten grosse Resonanz genossen. Dietrichs Werk war vielleicht schon immer besser im Markt verankert, war vielleicht auch etwas leichter verständlich. Dazu kam, dass sein Werk immer schon mehr Museumspräsenz hatte als jenes von Helen Dahm. Institutionen beeinflussen mit Ausstellungen und Publikationen die Wahrnehmung und Bedeutung von Kunstschaffenden entscheidend mit. Das ist auch heute noch so. Wir als Museum behaupten eine Wichtigkeit der Kunstschaffenden, die wir ausstellen. Jetzt gerade zum Beispiel Harald F. Müller. Mit der Ausstellung wird postuliert: Das ist ein spannender Künstler, der die Auseinandersetzung lohnt. Damit sich die Behauptung der Institution erfüllt, muss diese allerdings aufgenommen werden von anderen Kulturplayern, etwa den Medien oder dem Publikum. Ein Ausstellungsort allein kann die Behauptung nicht in einen Wert, in Bedeutung überführen.
„Die Entscheidungen sind das Resultat einer ernsthaften und kompetenten Auseinandersetzung mit der thurgauischen Kunstszene und deren Beteiligten.“
Markus Landert, Direktor Kunstmuseum Thurgau, über Ankaufsentscheidungen seines Hauses
Ist die Erzeugung von Wertigkeiten also letztlich vor allem eine Machtfrage?
Ich würde nicht den Begriff der Macht verwenden. Es ist mehr eine Frage des Engagements und der Glaubwürdigkeit. In unserer aktuellen Ausstellung „Neue Kollektion“ zeigen wir angekaufte Werke der vergangenen vier Jahre. Die Entscheidungen, was erworben wird und was nicht, trifft eine Kommission. Die Entscheidungen sind das Resultat einer ernsthaften und kompetenten Auseinandersetzung mit der thurgauischen Kunstszene und deren Beteiligten. Da wird dann um Fragen gestritten wie: Warum ist das eine Bild interessanter als das andere? Wie weit ist ein Werk innovativ? Worin liegt die Attraktivität, die Bedeutung eines Werks? Wie dringlich ist die Arbeit? Ist dieser künstlerische Ansatz förderungswürdig? Was funktioniert im Museum? Die Auseinandersetzung mit diesem Fragekatalog ist die Grundlage für die Entscheidungen für oder gegen einen Ankauf. Die Macht der einzelnen Kommissionsmitglieder bleibt dabei bescheiden, wenngleich die Entscheide durchaus etwas bewirken: Die Werke werden erworben, dann im Museum gezeigt, wodurch sie die Aufmerksamkeit des Publikums erhalten.
Wie oft hören Sie die Frage: Warum habt ihr nicht von dem oder der gekauft?
Das höre ich ständig und das ist auch gut so. Es gehört zu den Aufgaben der Entscheidenden, dass sie offen und neugierig bleiben. Anregungen und Empfehlungen von Dritten führen immer dazu, dass der eigene Horizont sich weitet.
Woran hängt dann letztlich eine Kaufentscheidung? Am künstlerischen Profil?
Ja, es ist durchaus von Belang, wie interessant sich das Gesamtwerk einer Künstlerin, eines Künstlers präsentiert. Ein Entscheid kann ganz unterschiedliche Ursachen haben: Ein Werk kann sinnlich attraktiv sein, es kann intellektuell anregend sein, es kann formal oder bildnerisch innovativ sein. Dann gibt es Aspekte, die nicht mit dem Werk direkt verbunden sind. Es stellen sich dann die Fragen: Wie passt das Werk in die Sammlung des Museums? Ist das Werk typisch für die Zeit oder ist es Ausdruck einer rein individuellen Vorstellung? Bei jüngeren Kunstschaffenden wird auch gerne auf das Entwicklungspotential spekuliert.
Bilderstrecke: Diese Werke hat das Kunstmuseum gekauft
„Jeder und jede kann das als Kunst geniessen, was gefällt. In den Museen aber hängt, was über eine vielfältige Wertediskussion als gute Kunst erkannt worden ist.“
Markus Landert, Direktor Kunstmuseum Thurgau, über die Rolle der Museen in der Kunst
Sie haben gerade gesagt, Werke, die sie ankaufen, müssten die Ankaufskommission interessieren. Anhänger von Kryptokunst und NFTs sagen, dass diese Techniken zu einer Demokratisierung des Kunstmarktes beitrage. Weil sonst übersehene Künstler:innen sich auf diese Weise Sichtbarkeit verschaffen können und ohne die klassischen Gatekeeper Museen, Galerien und Medien zum Publikum gelangt.
Wunderbar, dann braucht es Museen nicht mehr. Warten wir mal ab, ob und wie das funktioniert. Da bin ich entspannt und sage: Ganz ohne die Museen wird es wohl nicht gehen. Wobei die Museen nur ein Teil eines ganzen Systems sind zu dem ja auch die die Medien, die Galerien, die kunsthistorischen Fakultäten, die Hochschulen für Gestaltung gehören. Da gibt es einen grossen Pool an Menschen, die sich intensiv mit der Frage beschäftigen, was gute Kunst auszeichnet. Dies ist eine ziemlich spezialisierte Diskussion, die durchaus demokratisch ist. Jede und jeder ist eingeladen, mitzureden. Allerdings setzt eine Teilnahme einige Kenntnisse voraus. Bemühen wir nochmals den Ferrari. Wenn ich in einem solchen Auto rumfahre, dann erkenne ich durchaus, dass das ein exzellentes technisches Wunderwerk ist. Ich bin voller Bewunderung, kann aber nichts dazu beitragen, wenn es um die Erörterung der Frage geht, ob ein Ferrari das bessere Auto sei als ein Aston Martin. Ich kann höchstens feststellen, dass mir der Ferrari wegen seiner schönen roten Farbe besser gefällt. Autokenner können dagegen diese Diskussion mit vielen Argumenten führen. Übertragen auf die Kunst heisst das: Jeder und jede kann das als Kunst geniessen, was gefällt. In den Museen aber hängt, was über eine vielfältige Wertediskussion als gute Kunst erkannt worden ist. Das Museum ist deshalb sowas wie ein Prüfstein für gute Kunst.
Das bedeutet eine grosse Verantwortung für Museen.
Absolut. Deshalb müssen Museen immer offen sein für gesellschaftlichen Diskussionen und Anregungen von unterschiedlichster Seite. Man darf sich nicht scheuen, auch kontroverse Diskussionen zu führen. Museen sind ja auch keineswegs statische Institutionen. Sie verändern sich ständig und auch die Kryptokunst wird allenfalls zu Veränderungen führen.
„Ich bin nie angetreten mit der Vorstellung, dass ich der allwissende Alleskönner bin. Mir geht es eher darum, Dinge zu ermöglichen.“
Markus Landert, Direktor Kunstmuseum Thurgau (Bild: Beni Blaser)
Wie schafft man es als Museum so offen zu bleiben?
Indem man seine eigene Position nicht überschätzt. Getroffene Entscheidungen müssen immer wieder auch selbstkritisch hinterfragt werden. Man muss seine Neugierde auch unangenehmen Dingen gegenüber kultivieren. Niemand ist fehlerfrei.
Sie sind selbst seit fast 30 Jahren Direktor des Kunstmuseums hier. Wie haben Sie sich diese Offenheit in all der Zeit bewahrt?
Ich bin nie angetreten mit der Vorstellung, dass ich der allwissende Alleskönner bin. Mir geht es eher darum, Dinge zu ermöglichen. Ausstellungen und Publikationen sind weniger Statements als Angebote für eine lebendige Auseinandersetzung. Wer immer ins Museum kommt, darf anderer Meinung sein und diese auch äussern. Kritik ist Teil der lebendigen Auseinandersetzung über Kunst. Solange offen darüber diskutiert wird, was Kunst soll und was ein Museum leisten muss, bin ich an jeder Meinung interessiert. So habe ich von anderen Menschen vieles über den Thurgau und über die Kunst hier gelernt. Die meisten Projekte haben sich dann irgendwie ergeben. Manchmal gaben Begegnungen mit interessanten Menschen, manchmal Anregungen aus Büchern oder Ausstellungsbesuchen den Anstoss für Projekte. Nicht zuletzt aber suchte ich immer wieder nach Antworten auf die Frage, was denn in diesem Kunstmuseum Thurgau sinnvoll und möglich sei. Rückblickend gesehen hätte einiges auch anders gemacht werden können. Aber im Nachhinein sind wir wohl immer klüger.
„Rückblickend gesehen hätte einiges auch anders gemacht werden können. Aber im Nachhinein sind wir wohl immer klüger.“
Markus Landert, Direktor Kunstmuseum Thurgau, zieht Bilanz
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