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von János Stefan Buchwardt, 13.04.2018

Unterwegs zum zukünftigen Ich

Unterwegs zum zukünftigen Ich
Originalton Sarah Hugentobler: «Es interessiert mich, wenn die Kunst aus ihrer Blase kommt und in andere Disziplinen fliesst. Eine freiere Herangehensweise, das Hinterfragen von Regeln kann gut tun in Arbeitsabläufen und Arbeitsweisen, die reglementiert und professionalisiert sind.» | © János Stefan Buchwardt

Neuerdings nennt das Kunstmuseum Thurgau Teile eines Gesamtwerks rund um das Video «Astronauten» sein eigen. Eine Alleskönnerin in Sachen Kunst steht dahinter: Sarah Hugentobler. Ihr mustergültig cooles Bilderbuch aus der Galaxis ist Thema der letzten Betrachtung aus unserer Serie «Neue Kunst in der Kartause».

Von János Stefan Buchwardt

In der Ausstellung «Neue Kollektion – Die Sammlung wächst» werden wir mit Exponaten aus einer Werkgruppe konfrontiert, die von der immer wieder im Videobereich arbeitenden Künstlerin Sarah Hugentobler stammen. 1981 in der Kantonshauptstadt Frauenfeld geboren, knapp vor dem Ausfluss des Rheins aus dem Untersee aufgewachsen, bewegt sie sich hier an den Oberflächen der Tiefen des Weltalls. So weit sie mit dem Quantensprung auch vorzudringen vermag, letztlich stellt sie doch nur hausgemacht Irdisches in Frage. Das aber will genügen, ihr genau die Ehre zu erweisen, die neben dem Museumsdirektor auch das Kulturamt Thurgau gerne zugesteht. Stolze personenbezogene 25’000 Franken Fördergeld werden für ihre künstlerische Weiterentwicklung ausgeschüttet.
 
Markus Landert bescheinigt der nun in Bern lebenden Eschenzerin, dass sie eine bemerkenswerte Experimentiererin mit der Kamera sei. Im Keller der Kartause gäbe es schon zwei Videoarbeiten aus ihrer Hand. «Wenn man von ihr Werke kauft, dann erwirbt man ausstellenswerte Beispiele eines exemplarischen Umgangs mit der heutigen Medienwelt», so Landert. Um ihr Schaffen über Ausschnitte repräsentativ zu spiegeln, habe man neben dem zwanzigminütigen Film «Astronauten» diese zwei Fotografien erworben: die grossformatige «Trainerin» (150 x 150 cm) und die kleinformatigen «Moonboots» (29.7 x 45 cm), Fotografien auf Aluminium von 2015.

Originalton Sarah Hugentobler: «Die Trainerin kommt aus dem All oder aus dem Internet. Sie ist eine Art Pop-/Internetstar. Sie könnte auch eine Ausserirdische sein. Popstars haben oft auch die Aura eines Ausserirdischen, sie scheinen Superkräfte zu haben, nicht zu altern und erscheinen unwirklich.» Bild: János Stefan Buchwardt

Strumpf überm Kopf

Nur weil Hugentobler Blondperücke und eine düstere Prismengläser-Brille aufsetzt, Strumpf und eine mit Gasnebeln und stellaren Objekten bestückte Superstretchhose überzieht, ist sie noch keine Künstlerin. Ihr Slim-Fit-Stil will, ihre synthetischen Materialkombinationen können mehr. Die Moonboots im gemässigten Yeti-Monster-Zuschnitt (siehe Foto Ende Artikel) stehen wohl für die Illusion grossformatigen Solo-Auftrumpfens. Wenn auch subjektiv empfunden, prominent darf die Trainerin in zur Schau gestellter Künstlichkeit Verlassensein und Verletzlichkeit zeigen. Hugentobler: «Wir kennen ihre Persönlichkeit nicht, wissen nicht, was sie denkt. Sie ist Projektionsfläche. Im Video ‹Astronauten› tritt sie nur digital auf, in Form eines Videos im Film.»
 
Landert erläutert: Rein handwerklich arbeitet die Selfmadefrau Sarah Hugentobler auf mehreren Ebenen. Mit einem Computer (iPad) zeichnet sie auf und ist dabei selbst das aufgezeichnete Objekt. Sie verfremdet die Welt, die sie abbilden will. In einem weiteren Schritt kommt ein nachgeordnetes Bearbeiten des (bewegten) Bildes hinzu. Sie montiert die von ihr verkörperten Figuren nahtlos in den Film hinein. Wenn sie darüber hinaus im Internet gefundene Texte zum Bild hinzusynchronisiert, manipuliert sie schliesslich auch den Kontext. Die handwerklich verblüffende Vielschichtigkeit verschmilzt zu einem homogenen Eindruck.

Originalton Sarah Hugentobler: «Das Vervielfältigen, Kopieren und neu zusammensetzen ist wichtig in meiner Arbeit. Es werden Materialien aus verschiedenen Kontexten genommen und neu zusammengemixt. – Ich arbeite immer alleine, mache vom Schnitt bis Schauspiel alles selber (ausser beim Ton). Dies ermöglicht es mir, gleichzeitig zu drehen und schneiden und aus dem Prozess heraus die Arbeiten zu entwickeln.» Bild: János Stefan Buchwardt

Interpretatorische Notbremse

Im Film bewegen sich also drei Astronauten durch Schiff und Raum. Dass man – gemäss authentischen Aussagen von Kosmonauten – ein ganzes Leben benötige, die Erfahrung der Aussenansicht unseres Heimatplaneten einzuordnen, präge die Besatzung, kommentiert Hugentobler. Das klingt im Zeitalter der für viele erlebbaren Flugbewegungen, zumindest in heimatlicher Erdatmosphäre, unglaubwürdig. Jedoch, wer weiss! Den Boden gänzlich unter den Füssen zu verlieren, macht Hugentobler wett, indem sie die Überlebensfähigkeit menschlicher Wesen auf die Notwendigkeit der Körperertüchtigung herunterbuchstabiert. Das Zuschalten einer Fitnesstrainerin weiss Rat zu vermitteln und Fortbestand zu sichern.
 
Bevor wir nun richtig abheben, wird alles wieder nach unten katapultiert. Landert leitet eine interpretatorische Notlandung ein. Das anlehnungsbedürftige Fläzen der Online-Tutorial-Instruktorin um den aufblasbaren Erdball herum, die virtuell fingierte Kontaktaufnahme zwischen Raumfahrern und der physiotherapeutisch erlösenden Covergirl-Urania, ja, der Direktor dividiert seinerseits herunter, indem er profane Vergleiche mit den Werbelandschaften auf unserer Weltkugel ins Feld führt: «Hugentobler hintertreibt die uns aus der Werbung bekannten Bildwelten, die keinerlei Unstimmigkeiten dulden. Wo sie eine überaffirmativ gesteigerte Makellosigkeit entwirft, da berührt sie eben auch negativ.»  

Originalton Markus Landert: «Der Punkt ist der, dass sich das, was wir als relativ natürlich empfinden, bei längeren Betrachtung plötzlich in eine absolute Superkünstlichkeit zersplittert. Was als eigentlich in sich stimmiger Raum erscheint, erweist sich plötzlich als Konstrukt. Wir wissen nicht genau, wie es gemacht wird, aber wir fühlen oder erahnen es, je nachdem wie gut wir diese Mittel durchschauen oder kennen.» Bild: János Stefan Buchwardt

Hugentoblers Odyssee

Ob wir es nun slim, skinny oder tight nennen, wie eng einzelne Passformen in Wirklichkeit auch geschnürt sein mögen, zugestandenermassen, die typwidrige Muse der Sternkunde bläst ihren braunen Powerball zu einem runden Ganzen auf. Keine Frage, sie ist auf der Suche nach den Längen- und Breitengraden des Seins. Sie beordert eben das Filmgenre, das sich Raumfahrtthemen widmet und die ferne Zukunft herbeibeamen oder uns Menschen dorthin teleportieren lassen will. Als alleinige und aufgefächerte Hauptdarstellerin, die eine autonome Federführung über komplexe künstlerische Prozesse zu idealisieren scheint, mag sie selbst einer Vereinzelung unter- und so womöglich einer Splendid Isolation erliegen.
 
Das perfektionierte Spiel mit Mischversionen aus Science-Fiction, Pop- und Internetzitaten hat bei Hugentobler einen hohen Grad des Auskostens erreicht. Es ist auch nur Abbild des urmenschlichen Instinkts «Neugier». Wohl auch des Wunsches, das Gefangensein in der Gegenwart aufzuheben.
Das World Wide Web, aus dem die Trainerin stammt, stelle sich die Künstlerin wie das Universum als unendlichen Raum vor, der sich laufend ausbreitet. Tröstlich, dass die Irritationen und befremdlichen Grundstimmungen in ihrer Ausdrucksweise längst schon davon erzählen, eine Alarmierungssoftware gut installiert zu haben, und Hugentobler das Person-über-Bord-Manöver vermutlich im richtigen Moment beherrscht.

Originalton Markus Landert: «Die Moonboots, eine ausgesprochen schöne und effiziente Arbeit, weil sie eben so klein ist und plötzlich auf ganz vielen Ebenen Hugentoblers Werk spiegelt. Die Boots wurden getragen, um diesen Film zu machen. Jetzt tauchen sie in einer Ästhetik wie in einer Werbebotschaft für Sneakers auf.» Bild: János Stefan Buchwardt

Originalton Sarah Hugentobler: «Ich habe zwei Jahre in einer Industrieküche verbracht, wo ich die vorgefundenen Elemente als Kulissen und Arbeitsgeräte des Raumschiffes verwendet habe. Ich suchte mir einen grossen Fundus an Audios, Kostümen und Ideen zusammen, probierte verschiedene Figuren, fotografierte, drehte und schnitt gleichzeitig und so entstanden durch langes Experimentieren die Figuren und der Film.» Bild: János Stefan Buchwardt
 
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Links zu Sarah Hugentobler:

TrailerAstronauten from Sarah Hugentobler on Vimeo.


http://www.sarahhugentobler.ch 
https://www.thurgaukultur.ch/magazin/2972/ 
https://www.thurgaukultur.ch/magazin/2924/ 

Alle Teile unserer Serie «Neue Kunst in der Kartause» im Überblick

Teil 1 unserer Serie "Neue Kunst in der Kartause" über das Werk «Terra incognita» von Herbert Kopainig können Sie hier lesen: https://www.thurgaukultur.ch/magazin/3529/    

Teil 2 widmet sich dem Künstler-Duo huber.huber (Reto und Markus Huber) mit ihren Regenbogensteinen und ihrem «Prozess des Veschwindens». https://www.thurgaukultur.ch/magazin/3539/  

Teil 3: Die bemerkenswerten Bildkompositionen «After Hiroshige» der Arboner Fotografin Esther van der Bie https://www.thurgaukultur.ch/magazin/3554/ 

Teil 4: Eine anspielungsreiche Bildtafel von Matthias Bosshart: https://www.thurgaukultur.ch/magazin/3558/  

Wer über die Ankäufe des Kunstmuseum entscheidet

Die Sammlung des Kunstmuseums Thurgau wächst ständig. Seit 2012 gibt es zusätzlich zum ordentlichen Ankaufsbudget einen Kredit über 100.000 Franken aus dem Lotteriefonds für Ankäufe, über dessen Verwendung eine Kommission entscheidet. Diese setzt sich zusammen aus Katharina Ammann, Abteilungsleiterin beim Schweizerischen Institut für Kunstgeschichte, Alex Hanimann, Künstler, und Hans Jörg Höhener, Präsident der Kulturkommission Thurgau. In der Ausstellung «Neue Kollektion – Die Sammlung wächst» gibt das Kunstmuseum Thurgau noch bis zum 22. April 2018 einen Überblick über die Ankäufe der letzten drei Jahre. Anhand der Ausstellung lässt sich trefflich diskutieren, was denn heute gute und zukunftsträchtige Kunst sei.

 

Termin: Warum malen Künstlerinnen und Künstler heute so, wie sie malen? Mit dieser Frage beschäftigt sich am Dienstag, 17. April, 19 Uhr, der „Feierabend im Museum“ in der Kartause Ittingen. Museumsdirektor Markus Landert diskutiert mit Sonja Lippuner, Conrad Steiner sowie Kerstin und Bernahrd Schiesser in der Ausstellung „Neue Kollektion – Die Sammlung wächst“ über deren Werke und fragt nach den Grundlagen heutiger Kunst.  

 

 

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