von János Stefan Buchwardt, 27.04.2022
Totentanz einer Ratte
Ein Mobile aus Knochen: Isabelle Kriegs «Schwarzer Rattenreigen» ist ein aussergewöhnliches Werk. Was zum Teufel hat es mit der fliegenden Ratte auf sich? (Lesedauer: ca. 5 Minuten)
In der inzwischen zu Ende gegangenen Ausstellung «Neue Kollektion» liess Markus Landert, Direktor des Kunstmuseums Thurgau, ein Mobile an die Decke hängen und hatte schelmischen Spass daran, die Besucherschaft rätseln zu lassen, woraus es eigentlich besteht. Ein Blick auf das Hinweistäfelchen gab Auskunft: «Schwarzer Rattenreigen», 2020, Technik: alle Knochen einer Ratte, Lack, Polyestergarn, Karbonstäbe.
In der Tat hatte, wer den Raum betrat, kaum eine Chance, das freischwebende, auf ein schwarz lackiertes Knochenkonstrukt reduzierte Tier auf Anhieb zu erkennen oder die Installation aufgrund ihrer Feinheit überhaupt auf den ersten Blick wahrzunehmen. Der Überraschungseffekt war gross, der Eindruck auf leise Art überwältigend.
Museale Ehren
Mit der Präsentation der poetisch durchtränkten Neuerwerbung waren Landert, die in den Kunststand erhobene Jungtierratte wie die dahinterstehende Multimediakünstlerin Isabelle Krieg weit davon entfernt, billig Aufmerksamkeit erheischen zu wollen. Kriegs Rattenreigen will weder Happening noch sie eine Schamanin sein.
Mit dem toten Hasen von Beuys etwa, dem man seine Bilder erklärt, hat ihre Spitzschnäuzige dennoch Sinnliches, Intuitives und Erkenntnisreiches gemein. Einschätzungen hält Krieg für statthaft, um ihrer Kunst näherzukommen. Ihrem fliegenden Nagetier aber will sie nichts auseinanderlegen, sondern es selbstreferenziell für sich sprechen lassen.
Anything goes
Von radikaler Erweiterung eines Kunstbegriffes oder gar Anstössigkeit kann bei Krieg nicht die Rede sein, auch wenn sie sich eines vermeintlichen Affronts bedient. Aufgrund der Zurschaustellung des Lebewesens hätte man ihr auch schon Pietätlosigkeit unterstellt. «Halb lustig, halb ernst, eine Frau meinte einmal zu mir», erzählt Krieg, «dass sie, wenn sie tot ist, zu so einem Mobile werden möchte.»
Im Reigen etwas Unheilvolles entdecken zu wollen, widerspräche auch dem postmodernen «anything goes» des österreichischen Philosophen Paul Feyerabend. Seit den 80er-Jahren mahlt die Mühle des Schockierens leer. Dekonstruktion gehört zum künstlerischen Alltag. «Den Gruselfaktor brauche ich nicht», entfährt es dem Munde der Künstlerin. Bei einem Mobile aus Menschengebein würde Makabres überwiegen.
Gegenwartsbezogen liegt die Irritation der Wahrnehmung nicht mehr im eigentlichen Werk, sondern in der Konvention des Publikums begründet. Aufruhr und Irritation finden bei den Betrachterinnen und Betrachtern statt. Das Werk kann höchstens Katalysator sein. «Wenn man sich täglich mit dem Bruch von Normen innerhalb des Zeitgenössischen beschäftigt», holt Landert aus, «kann einen nichts mehr schrecken.»
Illusionistische Lebendigkeit
«Indem ich die kleinen Knochen mittels Schwarzfärbung verfremde, abstrahiere ich», sagt Krieg. Die Installation vergeistigt sich. Der Rattenreigen tänzelt geradezu musikalisch vor sich hin. Über den sensibel gravitätischen Grundcharakter bekommt er neben Autonomie Spiritualität zugesprochen.
Die Vorläufer des Rattenreigens sind zwei Katzen- und ein Mäusereigen. Die Knochen habe sie sich zustellen lassen. Nicht braun und blutig, sondern sauber und gebleicht. Es gibt Händler, die Katzen- und Hundeskelette für Schulungszwecke anbieten. Die Mauseknochen stammen von einem Präparator eines Naturhistorischen Museums.
Weitere Skepsis wird hinfällig, wenn man sie betonen hört, dass zumindest Katzen zu ihren Lieblingstieren gehören. Zurück zur Ratte: Was wir in unseren Häusern und auf landwirtschaftlich genutzten Flächen fürchten, was Seife, Pelze und Papier frisst, ist hier millimeterklein und fragil in seine Bestandteile zerlegt. Das sorgsam zur neuen Einheit Aufgereihte erhebt sich zum ätherisch-morbiden Totentanzbild.
Grenzerfahrung
Lässt man alle beabsichtigten Irritationen beiseite, an die sich das didaktische Bemühen anschliessen mag, den Leuten die Augen zu öffnen, und tritt nah und vorsichtig genug an Kriegs Mobile heran, bleibt einem der Mund offen stehen: Wie hat sie dieses gazellenhafte Artefakt bloss bewerkstelligen können? Fleiss, Mühe, Geduld. Arbeit für zwei Monate, stellt sich heraus.
Jeden Faden in ein wenig Epoxidharz getaucht, jedes angemalte Knöchelchen angeklebt, das Polyestergarn oben an den Karbonstäbchen von Hand angeknüpft. «Ich mache das eben gern. Im gestressten Zustand geht das gar nicht», erläutert Krieg. Und doch gab es Knochen- oder auch Knorpelpartikelchen, die aufgrund ihrer Feinheit und Winzigkeit nicht mehr unterzubringen waren.
Einerseits eine toughe Winterschwimmerin, wohlgemerkt im Bodensee, zu sein und gleichzeitig ein hauchzartes Opus erschaffen zu können, ist Sinnbild dafür, dass Krieg aus wachem Durchhaltewillen heraus vielschichtig mit Feinbesaitetem umzugehen weiss. Wenn sie heraushebt, im Entstehungsprozess vom Werk selbst immer wieder überrascht zu werden, ahnt man, woraus sich ihre künstlerische Passion nährt.
Kreise im Universum
Die wie Notenfolgen wirkenden Knochenmobiles imitieren die Anatomie des jeweiligen Skeletts. Jedes Teilgerippe rotiert eigenständig vor sich hin. Dabei gehorcht der einem scheinbaren Willkürakt der Mechanismen unterworfene Rattenkorpus – er umfasst bald einmal 250 Knöchelchen – gesamthaft doch einem Grundprinzip.
Dass alles Kreise beschreibt, neu zusammenfindet und sich weiters nicht berühren darf, erinnert an das expandierende Universum, das in seiner gedachten Endlosigkeit vielleicht doch nur in der Struktur einer Kugel aufgehoben ist. Der Reigen als sachte Ansammlung organischer Materie, die sich verdichten will? Ein wundersamer Balanceakt vom fragmentierten Schädel über Wirbelknochen bis hin zu den Vorder- und Hintergliedmassen?
Krieg hat berechnet, vorskizziert und austariert. «Ich sah mich mit einer Puzzlearbeit konfrontiert. Die Teilchen erhielt ich ungeordnet, wenn auch nach Körperteilen gruppiert, jeweils in Säckchen verpackt», erzählt sie. So ein Mobile habe seine Tücken. Man müsse sich von unten nach oben vorarbeiten. Flach ausgelegt käme ihr Tier auf etwa zwei Meter im Durchmesser.
Interaktionen leiser Bewegung
Das Anliegen sei nicht gewesen, das Körpergefüge hundertprozentig nachzuahmen. «Das Essenzielle für mich», gibt Krieg zu verstehen, «ist die Bewegung.» Das Werk spiegele eine Seelenwanderung. Es ist veritable Sinnsuche. Als leibhaftes Anschauungsobjekt vermag es hilflosen Vorstellungen von einem Leben nach dem Tode zu begegnen. Der Weg von Bewegtheit zur Ergriffenheit bei Krieg ist erstaunlich kurz.
Verstehensleistungen bleiben der Zuschauerin oder dem Beobachter überlassen. Der schwarze Rattenreigen – auch einer der beiden Katzenreigen ist dunkel eingefärbt – kann als sphärisch-spielerische Formen- oder Ausformungssinfonie gelesen werden. Eine Wiederauferstehungspartitur, die unversehens verschwimmt, emportauchen und ertönen will. Der Fokus liegt nicht auf dem «Machwerk», sondern auf dessen Wirkung.
Toter Hase und skelettierte Ratte verbrüdern sich? Die Problematiken um Vergänglichkeit und Endlichkeit respektive des Verständnisses vom Sein an sich werden zum einnehmenden Windspiel des Skelettösen. Wer solche Kunst anzweifelt, Despektierlichkeit anstatt Forscherinnenwillen und Liebeserklärung darin ausmacht, zweifelt an sich selbst und kommt – wie im Mobile gefangen – doch nicht um die Frage herum, wozu wir worum kreisen.
Aktuelle Einzelausstellung von Isabelle Krieg
Ruinaissance
Einzelausstellung im Musée d’Art et d’Histoire Fribourg
06.05. – 18.09.2022
Eröffnung Donnerstag, 05.05.2022
Die Ausstellung und die Serie
Die Ausstellung: «Neue Kollektion – Kunst hier und jetzt» war bis zum 18. April im Kunstmuseum Thurgau zu sehen.
Die Serie: Zur Ausstellung schreibt unser Autor János Stefan Buchwardt eine 3-teilige Serie zu drei besonderen Werke aus der Präsentation. Darin betrachtet er diese drei Werke eingehender:
Karin Schwarzbek, *1969 in Egnach TG, lebt und arbeitet in Zürich
«041», 2015, Öl, Acryl und Kreide auf Baumwolle, gefaltet
Isabelle Krieg, *1971 in Fribourg, lebt und arbeitet in Kreuzlingen
«Schwarzer Rattenreigen», 2020, alle Knochen einer Ratte, Lack, Polyestergarn, Karbonstäbe
Ernst Thoma, 1953 – 2020, lebte und arbeitete in Stein am Rhein
«Colors of Delhi / Shyama Prasad Mukherji Marg», 2013/2015, Videoinstallation
Weiterlesen: Ein Interview mit Kunstmuseum-Direktor Markus Landert über Werte in der Kunst und die Arbeit der Ankaufskommission des Kunstmuseums, gibt es hier.
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