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von János Stefan Buchwardt, 27.10.2022

Schule der Wahrnehmung

Schule der Wahrnehmung
Beat Brechbühl – 1939 im Kanton Bern geboren – hier Mitte Oktober 2022 an der Buchpremiere der Neuauflage des Klassikers «Fussreise mit Adolf Dietrich» in Berlingen | © Dieter Langhart

Beat Brechbühls hochliterarische Erzählung «Fussreise mit Adolf Dietrich» ist ein Ausnahmewerk mit Thurgau-Bezug schlechthin. Jetzt wird es neu aufgelegt. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)

Wohl hätte sich der berühmte Untersee-Maler für das, was im freundlichen Hirschen-Saal verhandelt wurde, rundum einnehmen lassen. Im Stockwerk über dem Restaurant des Berlinger Gasthauses moderierte Hans Jörg Höhener, Präsident der Kulturkommission des Kantons Thurgau, eine Buchpremiere: «Fussreise mit Adolf Dietrich». Nichts Neues, aber die notwendige Neuauflage dieses Inbegriffs eines wertvollen Buches.

Der goldene Oktobersonntag liess hochleben, was nicht nur Höhener für eines der wenigen wichtigen Bücher aus dem und über den Thurgau hält. Auch der Verleger Ricco Bilger, der diese dritte Auflage gewagt hat, wurde nicht müde, den Klassikerstatus der Brechbühlschen Schrift herauszuheben. Über den auszugsweisen Vortrag des Schauspielers Thomas Sarbacher erfuhren die Einschätzungen unumstössliche Überzeugungskraft: Brillanz stand im Raum.

 

Vor bald 25 Jahren ist die «Fussreise» (links) im Verlag Nagel & Kimche erschienen. Bald war sie vergriffen. Beat Brechbühl hat sie 2017 in seinem 2021 eingestellten Waldgut Verlag wieder aufgelegt. Unterdessen vergriffen. Nun hat der Bilgerverlag den Text neu herausgebracht. | Bild: János Stefan Buchwardt

Erzählerisches Gewicht

In der Tat wäre es mehr als gedankenlos, würde Beat Brechbühls glänzendes Werk dem Vergessen anheimfallen. Gekonnt begibt der Autor sich auf einen imaginären Fussweg mit Dietrich, von Berlingen nach Frauenfeld und retour. Ausgefeilt wechselt der Schriftsteller dabei zwischen Traum und Wirklichkeit und eröffnet einen tiefen Blick in das Seelenleben des Malers. Und ja, längst sollte aus der literarisch freien Hommage ein Standardwerk geworden sein.

Über die sprachlich auf den Punkt gebrachte Vermischung von Realität und Fiktion erweist sich Brechbühl als Meister dramaturgischen Changierens, der uns an der Verschmelzung mit wie an der Abgrenzung vom Dietrichschen Malergeist teilhaben lässt. Das intensiv geführte Plädoyer für das Ausnahmewerk mit Thurgau-Bezug zeigte Wirkung. So liess sich das mit Kulturprominenz reich bestückte Publikum spielend in den Bann ziehen.

 

Hans Jörg Höhener (rechts): «Vergriffene Bücher führen auch immer wieder dazu, dass Schriftstellerinnen und Schrifttsteller in Vergessenheit geraten. Und immer wieder auch zu Unrecht.» Links der Verleger Ricco Bilger. | Bild: János Stefan Buchwardt

Magie des Sehens

Im Buch selbst macht der in vielen literarischen Gattungen beheimatete Autor die ungewöhnlich gewählte Erzählsituation transparent. Im eigentlichen Sinne keine Biografie spielt das Opus mit Zeitensprüngen und Seelenverwandtschaften. Elemente achtsamer Stichhaltigkeit und des Geheimnisses zugleich, der Distanz und Offensive, die sich eben auch in den Gemälden und Zeichnungen Dietrichs wiederfinden lassen, verselbständigen sich und geraten zum fingerfertigen Höhenflug.

«Da war ein Text, der mir schlichtweg die Augen aufgemacht hatte, als ich ihn 1999 gelesen habe», sagt Bilger. Das im Fortgang der Veranstaltung nicht mehr überraschende Bekenntnis führt er aus: «Beat hat mir einen Blick in und auf eine Welt, eine Landschaft geöffnet, die sich eigentlich nur derart literarisch erzählen lässt.» Das Schaustück habe ihn sehen gelehrt; ein Sehen, das ihn über all die Zeiten hinweg begleitet habe.

Zauberhafte Literatur

Der Reiz der Brechbühlschen Veranschaulichungen besteht nicht nur darin, eigenes kompositorisches Vorgehen erzählerisch offenzulegen, sondern gleichzeitig der Prägnanz des Rätselhaften eine eigene Autonomie zuzugestehen. Über das Stilmittel gleichzeitigen Durchscheinens und Verschleierns will das unaufdringlich elegant die Hellsichtigkeit eines blinden Sehers in uns wecken oder einfach nur Schattenräume sinnreich ausleuchten.

Der zweiten Auflage seines Buches, die Brechbühl im eigenen Waldgut-Verlag herausgebracht hatte, verhalf Bilger – ehrenhafterweise – in der eigenen Buchhandlung in Zürich zum Ausverkauf im besten Sinne. Das immer wieder an ihn herangetragene Urteil erfahrener Leserinnen und Leser, selbst mit einer Zuordnung zur Nationalliteratur der Qualität des Stoffes nicht gerecht zu werden, bestärkte ihn in seinem Tun und Einsatz.

 

Ricco Bilger (rechts): «Ich habe Leute erlebt, die ein Bild von Schweizer Literatur hatten und erstaunt darüber waren, dass sich ausserhalb von Grössen wie Dürrenmatt, Frisch oder Walser eine Erzählung herumtreibt, die niemand kennt und die doch alle kennen sollten.» | Bild: János Stefan Buchwardt

Gross und zeitlos

Wie schön und erbaulich zu hören und zu wissen, dass es jemandem gelungen ist, eine regelrechte Schule der Wahrnehmung zwischen zwei Buchdeckeln zu bringen. «Es ist mir», so Bilger, «ein dringliches Bedürfnis, diesen absolut modernen, avantgardistischen und gleichzeitig in einer aus der Zeit gefallenen Ruhe geschriebenen Text zum Publikum zu bringen.» So brachte er also kurzerhand, aber wohlüberlegt die dritte Auflage dieser Fussreise heraus.

Brechbühls Verdienst besteht darin, einerseits adaptiert zu haben, wer dieser Mann Dietrich gewesen ist, andererseits herauszustreichen, wer er nicht war. Dass es dem Buch gelänge, betont Bilger, die literarische Kunstfigur aus der Betrachtung einer letztendlich idyllischen Geschichte herauszulösen, darin läge das Grosse und Zeitlose. Das kleine grosse Werk möge doch wieder ein neues und junges Publikum finden und als unabdingbarer Maturastoff gehandelt werden.

Anzweiflung der Idylle

Bemerkenswert an diesem Berlinger Herbstnachmittag war also gerade auch das kurze Schlaglicht darauf, ob Dietrich aus dem paradiesisch Ländlichen heraus verstanden werden dürfe. Natürlich, holte der Verleger verwinkelt aus, sei er das Kind einer Welt gewesen, aus der heraus das entstanden ist, was ihn gelehrt hat, sich auf das zu beschränken, was er ins Bild bringen konnte und wollte. Nämlich ein persönliches Zeugnis akribischen Sehens und hingebungsvollen Hinhörens.

Dass man nach der Lektüre der «Fussreise» nicht mehr umhinkomme, die persönlichen Härten Dietrichs, etwa als Taglöhner oder Holzfäller, aber auch der Weltgeschichte, deren Teil er war, bei einer Werkerörterung mitdenken zu müssen, sei ein weiteres Verdienst Brechbühls. Dessen wie Dietrichs Sachlichkeit wird zur innigen Sachbezogenheit, beider Realismus wird offen oder nebelhaft und vielleicht «naiv» zum alt- wie neumeisterlichen Juwel eines Weltverständnisses.

 

Oben: Der Schauspieler Thomas Sarbacher beim Vortrag aus der «Fussreise mit Adolf Dietrich». Unten: Beat Brechbühl im Gespräch ... | Bilder: Dieter Langhart/János Stefan Buchwardt

 

Buchbestellungen können auf dem Webshop vorgenommen werden: www.bilgerverlag.ch

 

Beat Brechbühl

1939 im Kanton Bern geboren, Schriftsetzer, Redakteur, Grafiker, Gestalter, Verlagsmitarbeiter (Herstellungsleiter für den Diogenes-Verlag und Leiter des Zytglogge-Verlags), Gründung des Waldgut-Verlags und des Bodoni-Druckateliers in Frauenfeld, Mitbegründer der Frauenfelder Lyriktage, Mitorganisator der Frauenfelder Buch- und Handpressen-Messe in Frauenfeld  etc.

 

Sein Werk umfasst Bücher in Prosa und Lyrik, Kinderbücher oder einen Krimi wie den «Kneuss». Für sein schriftstellerisches Werk wurde er vielfach ausgezeichnet: Preis der Schweizerischen Schillerstiftung, Bodensee-Literaturpreis, Kulturpreis des Kantons Thurgau, Buchpreis der Stadt Bern, Anerkennungspreis der Stadt Frauenfeld, Literaturpreis «Naim Frashëri» für sein Lebenswerk.

 

 

 

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