von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter, 17.04.2023
Zwischen den Zeilen
Musik, Virtual Reality, Hörspiel, Literatur: Sarah Elena Müller zählt zu den vielseitigsten Künstlerinnen ihrer Generation. Am Donnerstag liest sie in Frauenfeld aus ihrem Debütroman „Bild ohne Mädchen“. (Lesedauer: ca. 5 Minuten)
Pro Jahr erscheinen in der Schweiz rund 12.000 neue Bücher. Natürlich sind nicht alle davon gut. Und doch gibt es immer wieder Neuerscheinungen, literarische Debüts, die leuchten. Weil sie einen neuen Ton finden, ungewöhnliche Zugänge schaffen und damit heraus ragen aus der Masse. Ein solches Buch ist der Autorin Sarah Elena Müller gelungen. In „Bild ohne Mädchen“ (erschienen im Limmat Verlag) schildert sie den Fall eines sexuellen Missbrauchs an einem Kind und legt dabei Stück für Stück die gesellschaftlichen Mechanismen offen, die dazu führen, dass solche Verbrechen oft geheim und ungesehen bleiben.
Die Ausgangslage in Müllers Roman beschreibt ein 5-jähriges Mädchen, das von seinen Eltern nicht richtig gesehen wird, weil Vater und Mutter in ihren beruflichen Welten beschäftigt sind. Aufmerksamkeit bekommt das Mädchen stattdessen im Haushalt der Nachbarn Ege und Gisela. Stundenlang verbringt sie ihre Nachmittage dort zwischen Video, Fernsehen und Freundlichkeiten. Und ihre Eltern fragen sich nicht wirklich, was ihre Tochter bei den Nachbarn eigentlich macht.
Und plötzlich - ein Roman!
Dass ausgerechnet die 32-jährige Sarah Elena Müller diesen Roman geschrieben hat, verblüfft. Vor allem wenn man sich ihre bisherige Vita anschaut. Musik, Virtual Reality, Hörspiel und Theater finden sich dort. Sie arbeitete stets interdisziplinär und oft spartenübergreifend. Ein Roman schien nicht unbedingt das zu sein, was zu ihr passte.
Sarah Elena Müller lacht kurz auf, wenn man ihr diesen Eindruck im Gespräch schildert. „Stimmt schon. Der Roman ist das klassischste, was ich bisher gemacht habe“, sagt sie dann. Und trotzdem ist er jetzt da, dieser Roman. Wobei - was heisst schon jetzt? „Für mich ist er nicht erst jetzt da. Für mich hat er die vergangenen acht Jahre zuhause auf mich gewartet mit seiner Aura. Das war fast wie eine Freundschaft oder ein:e Mitbewohner:in, er war immer da“, erinnert sich die Autorin.
Bild ohne Mädchen - Benennung from Sarah E. Müller on Vimeo.
Per Ausschlussprinzip zur Kunst
Dass die in der Ostschweiz aufgewachsene Müller überhaupt den Weg in die Kunst gefunden hat, war eher zufällig. Eigentlich wollte sie Biologin werden. Wegen einer Rechenschwäche wurde daraus aber nichts. Auch der zweite Berufsplan, Illustratorin, scheiterte. „Das Kunststudium (erst in Zürich, später in Bern, d. Red.) schien mir eine gute Übergangslösung. Während dieses einen Jahres des Kunststudiums habe ich zurückgefunden zum Schreiben, es war als hätte ich mich wieder mit einem früheren Zwilling vereint. Ich bin dann in der Kunst geblieben, auch aus Freude am experimentellen Charakter, den so ein Kunststudium hat“, erinnert sich die Autorin.
Dem Schreiben ist sie seither aber auch treu geblieben. Aber nicht nur. „Bei mir ist die Grundlage für mein Spartenhopping eine riesige Neugier und auch eine Lust daran, selbst technische Dinge zu durchschauen. Ich finde es spannend, ein System zu ergründen, dass sich jemand anders ausgedacht hat und zu überlegen, was könnte ich damit machen?“, sagt Sarah Elena Müller. Ob das nun ein Roman oder Virtual Reality sei, sei am Anfang egal.
Die Empörung zwischen den Zeilen
Ihr Erstlingswerk ist auch deshalb so überraschend, weil es die Leser:innen erstmal vor den Kopf stösst. „Bild ohne Mädchen“ bietet keinen leichten Einstieg, kaum Figuren mit denen man sich schnell identifizieren könnte. Überhaupt stellt sich die Frage: Sind das überhaupt echte, eigene Charaktere oder sind das alles nur Stellvertreteter für gesellschaftliche Rollenbilder? Auch die Sprache bleibt kühl und zurückhaltend. Die Empörung über den langsam sich entfaltenden Kindesmissbrauch muss man zwischen den Zeilen suchen.
Für die heute in Bern lebende Autorin war das eine programmatische Entscheidung. „Ich wollte den emotionalen Tonfall der Sprache zurücknehmen und stattdessen lieber stilistisch etwas erzeugen, was mit dem Thema zu tun hat“, erklärt Sarah Elena Müller diesen Kniff. Sie wollte, dass die Leser:innen genau das erleben, was auch die Figuren in ihrer Geschichte erleben: „Dass sie immer wieder Hinweise überlesen, oder vielleicht wahrnehmen, aber falsch deuten. Und je nach persönlichen Voreinstellungen sieht man etwas zwischen den Zeilen oder in einem Begriff oder überliest es. Ich wollte den Effekt des „Die-Schwere-des-Übergriffs-nicht-sehen-wollen“ in die Stilistik verschieben und nicht per emotionalem Direktzugang für die Leser lösen“, sagt Müller.
„Ich wollte den emotionalen Tonfall der Sprache zurücknehmen und stattdessen lieber stilistisch etwas erzeugen, was mit dem Thema zu tun hat.“
Sarah Elena Müller, Autorin (Bild: Laura Stevens)
Das bedeutet natürlich nicht, dass die Autorin das Schicksal ihrer Figuren kalt lässt. Sie habe sehr wohl Phasen gehabt, in denen sie auch heftigen Gefühlen im Schreiben ihren Raum gegeben habe. „Aber ich habe sie hinterher sehr konsequent wieder rausgestrichen“, sagt Müller. Die Grundfrage, die sie sich dabei immer wieder gestellt habe, lautete: „Willst du die emotionale Autorität hör ausleben, oder willst du es nicht lieber deinem Publikum überlassen? Sie habe sich für Letzteres entschieden, „weil mich das auch literarisch mehr interessiert“.
Unverbrauchte Sprachbilder
So sehr man gerade am Anfang mit diesem distanzierten Stil fremdeln kann, so sehr holt einen die Autorin über ihre Sprache auch wieder zurück. Sie schreibt zupackend, klar und viele ihrer Sprachbilder sind so grossartig, weil sie plastisch, präzise und unverbraucht daher kommen.
Zum Beispiel gleich am Anfang als die Autorin beschreibt, wie das Mädchen von den Nachbarn zurückkehrt in ihre Wohnung: „Das Kind schüttelt die Starre des Fernsehens ab. Schüttelt die Bilder und Töne aus sich heraus, damit die Eltern nicht merken, dass es sich heimlich bei den Nachbarn damit angefüllt hat. Dann stösst es mit frischem Gesicht das Wohnzimmer auf.“
Man liest es und denkt: Ja, genau so muss man das schreiben.
Acht Jahre lang hat Sarah Elena Müller an diesem Roman gearbeitet. In dieser Zeit kann man sich auch in der Handlung verlieren. Verzweifeln, dass man nicht weiter kommt. So verbissen daran arbeiten, dass nichts besser, sondern alles nur komplizierter wird.
Sarah Elena Müller ist all diesen Fallen elegant ausgewichen. Weil sie die Geduld hatte, darauf zu warten, bis alles stimmte. Und weil sie einen Plan hatte, was sie eigentlich erzählen will.
Riskante Entscheidungen der Autorin
Dabei traf sie durchaus riskante Entscheidungen. Ihren Figuren weder mit Namen noch mit all zu viel Identifikationsfläche für die Leser:innen auszustatten, hätte auch schief gehen können. Für Müller gab es nach der Recherche fast keine Alternative dazu. „Ich wollte die Erlebnisse verschiedener Personen und verschiedener Quellen in dieses portotypische Kind einspeisen. Das entsprach auch dem Urzustand des Kindseins. Bei dem das Geschlecht erstmal unerfahrbar ist und für das Kind auch nicht interessant“, erklärt die Autorin.
Auch fast alle anderen Figuren sollten in einem prototypischen Zustand bleiben, „damit die jeweiligen gesellschaftlichen Rollenerwartungen mitgelesen werden“, so Müller. Dass sie demgegenüber ausgerechnet die Täterfamilie mit Namen identifiziert solle dabei helfen zu verstehen, „dass Gisela & Ege ein Epizentrum sind, zu dem das Kind immer wieder zurückkehrt.“
Bei der Deutungsarbeit will sie schon mitreden
Interessant an dem Gespräch mit Sarah Elena Müller ist auch, dass sie sich Zeit nimmt, ihr Werk selbst einzuordnen. Wo andere Autor:innen ihre Arbeit beendet sehen, und sich lieber zurückziehen, geht die 32-Jährige die Extrameile. In der Deutung und Auslegung ihrer Arbeit will sie schon mitreden. Weil sie eine Verantwortung gegenüber ihren Rechercheergebnissen und ihren Gesprächspartner:innen verspürt. Aber auch, weil sie weiss, dass jede Besprechung etwas auslöst: „Es hat immer einen Einfluss, wenn irgendwer über irgendwen etwas aussagt. Das ist dann da als Spur für die, die später bewerten.“
Parallele zum Teichtmeister-Fall
Ihr Debüt ist jedenfalls sehr freundlich im Feuilleton aufgenommen worden. Es gab Besprechungen in grossen und renommierten Zeitungen, Radiosender in Deutschland und der Schweiz haben berichtet. Vielleicht hatte Sarah Elena Müller auch ein bisschen Glück, dass die Veröffentlichung ihres Romans zeitlich mit dem Fall Teichtmeister zusammenfiel.
Dem Wiener Burgtheater-Schauspieler Florian Teichtmeister wird der Besitz von kinderpornographischen Darstellungen vorgeworfen. Der Prozess gegen ihn begann eine Woche nach Erscheinen von „Bild ohne Mädchen“, einige Besprechungen verweisen explizit auf den Fall.
Im Sommer arbeitet sie im Thurgau
Die Autorin selbst arbeitet inzwischen längst wieder an anderen Projekten. Auch ein neuer Romanstoff braut sich in ihrem Kopf zusammen, aber richtig spruchreif ist es noch nicht. Das Mensch-Tier-Verhältnis könnte eine Rolle spielen. Künstliche Intelligenz ebenso. Wenn sie im Sommer ihr Stipendium im Literaturhaus Thurgau verbringe, wolle sie sich damit vertiefter auseinandersetzen.
Ob die öffentliche Aufmerksamkeit für das Debüt jetzt den Druck für ihre künftige Arbeit erhöhe? Sarah Elena Müller zögert kurz und sagt dann: „Das finde ich gerade noch raus. Aber Druck? Weiss nicht.“ Es wäre ohnehin eher nichts, was die 32-Jährige verunsichern könnte. Es würde sie vermutlich eher anspornen: „Mir gefiel der Zustand, dass ein Manuskript zuhause auf Vollendung wartet und vor sich hin gärt.“
Das Buch & die Lesung
Sarah Elena Müller: Bild ohne Mädchen. Roman. Limmat Verlag
208 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
Februar 2023
SFr. 30.–, 26.– € / eBook sFr. 23.–
sofort lieferbar
978-3-03926-051-5
Am Donnerstag, 20. April, 19:30 Uhr, liest Sarah Elena Müller, im Frauenfelder Bücherladen von Marianne Sax. Tickets gibt es hier.
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