von Maria Schorpp, 12.04.2023
Auf der Suche nach Antworten auf eine grosse Frage
Sieben Jugendliche proben im Frauenfelder Eisenwerk ihr selbst entwickeltes Stück „kurz vor frei“. Als Gefangene, im Gefängnis wie im Leben, stellen sie sich die Frage nach wahrer Freiheit – und das auf der Grundlage von Menschrechtsartikeln. (Lesedauer: ca. 3 Minuten)
Petra Cambrosio hat den Überblick. Was Aussenstehenden noch wie ein ziemliches Chaos vorkommt, scheint für sie eine ganz normale Probe auf dem Weg zu einer erfolgreichen Premiere zu sein. Dass sie die Souffleuse ist bei Texthängern – geschenkt. Dass sie sofort merkt, wenn eine oder einer der sieben Darstellerinnen und Darsteller nicht richtig bei der Sache ist, ist ihre Aufgabe als Regisseurin. Aber dass sie auf Anhieb sagen kann, wo jede einzelne Figur auf der Bühne zu stehen hat, wann sie mehr nach vorne, einen Schritt auf die Seite oder in die Mitte gehen soll, das ist frappierend. Als sehe sie, aber nur sie, auf dem Bühnenboden eine Skizze der Bewegungsabläufe.
In einer idealen Welt sollten alle Theaterfans einmal im Leben einen Probebesuch machen und das Erlebte dann mit der fertigen Inszenierung vergleichen. Es ist ein kleines Wunder, wie sich dann in kurzer Zeit eine gefühlte Unmenge von Einzelelementen zu einem Ganzen geformt hat. Eine Woche vor Ostern waren es noch zehn Tage bis zur Premiere von „kurz vor frei“, dem „Stück über Rechte, (Lebens-)Gesetze und Freiheit“, das das Junge Theater Thurgau entwickelt hat und nun bühnenfertig macht.
Ein Gefängnis ist Ort des Geschehens
Einen spannenden Stoff haben sich die sieben jungen Menschen zwischen 15 und 19 Jahren mit Petra Cambrosio, der Leiterin des Jungen Theaters Thurgau, im Frauenfelder Eisenwerk, vorgenommen. Jeder Figur liegt ein Artikel der UN-Menschrechtserklärung zugrunde. „Sie haben selbst für sich entschieden, welche Figur sie spielen wollen“, sagt die Regisseurin, die zwar mit gut vernehmbarer Stimme, aber auch in aller Ruhe ihr quirliges Ensemble beieinander hält. Was die Szenerie noch spannungsgeladener macht: Alle sind „Insassen“ eines Gefängnisses, ob als Gefangene, Wärterin oder – Fledermaus.
„Nichts ist freier als der Gedanke des Menschen“, sagt Onix einmal in einem Monolog. Onix ist die Fledermaus, die sich in den Mauern des Gefängnisses eingenistet hat und aus der Sicht des Tieres einen wesentlichen Faktor des Menschseins ergründet: Artikel 26 der Menschenrechte, das Recht auf Bildung. Um das zu unterstreichen, hat Jaromir Rist, der Darsteller, Textfragmente, etwa einen Aufsatz von Hannah Arendt über Freiheit, für seine Figur erhalten und damit gearbeitet.
Auf der Suche nach Antworten beim Spielen
Die Spielenden sind offen für ihre Figuren, das ist zu spüren. Gerade wird die Szene mit Monday geprobt, einer Frau, die wegen Drogenhandels seit einem Jahr im Gefängnis sitzt. Ihre Eltern spielen im Ursprung eine fatale Rolle. Die Inszenierung geht immer wieder auf die Vorgeschichte der Gefangenen ein, dann schlüpfen die Spielenden aus den Overalls und ziehen Strassenkleidung über. Lumi Probst hat sich für ihre Figur Artikel 3, das Recht auf Freiheit, ausgesucht. Dabei ist es nicht ihre Sache, fertige Überzeugungen auf die Bühne zu bringen. Sie ist beim Spielen selbst auf der Suche. „Mir geht es um den Hintergrund der Figur und warum sie im Gefängnis sitzt“, sagt sie.
Einmal jemand ganz Anderes sein
„Welche Rechte haben wir, wo sind sie uns genommen worden, wo verstossen wir selbst gegen Rechte unserer Gegenüber, wo fordern wir Recht für uns ein, oder wo sagen wir, ist halt so?“, formuliert Regisseurin Cambrosio die Fragestellungen, die bei der Entwicklung des Stücks immer wieder nach Antworten verlangten. Das hat etwas mit den Darstellenden gemacht.
„Sie haben selbst entschieden, wie nah sie an ihrem eigenen Leben entlang spielen“, sagt Petra Cambrosio. Es kommt sogar vor, dass in der Rolle das Gegenteil der eigenen Lebenswirklichkeit ausprobiert wird. „Sofia Rüegg spielt eine völlig versiffte Mutter, die ihr Kind schlägt. Ihr selbst ist das total zuwider, fragt aber, wo sie Verständnis für sie aufbauen kann.“
Auch queere Facetten haben sich unter das Figurenensemble gemischt. Da ist eine schwule Person, die im Knast sitzt, weil sie sich gegen einen Angriff gewehrt hat. Da ist eine Figur, die biologischer Mann ist, aber sich als Frau identifiziert. Alyah Broger hat Artikel 19, die Freiheit der Meinungsäusserung, für ihre Figur gewählt, „weil ich darauf aufmerksam machen möchte, wie heutzutage queere Menschen in unserer Gesellschaft behandelt werden“.
Wodurch entsteht wahre Freiheit?
Die von den Spielenden selbst verfassten Kernstücke sind ein Monolog und ein Haiku, in denen sie ihre Gedanken zu „ihrem“ Menschrechtsartikel ausdrücken. Dabei hat es sich aber längst nicht mit dem Mitdenken, immer wieder gibt es vor der Kulisse der fünf engen Gefängniszellen (Bühne von Eric Scherrer und Yves Gross) Austausch zwischen den Spielenden und der Regisseurin. Sicher einer der Gründe, weshalb die Facetten vielfältig sind. Auch eine Wärterin kommt vor, die in ihrem Leben nicht weniger gefangen ist als die Menschen, die sie bewacht. Letztlich dreht sich alles um die grosse Frage: Wodurch entsteht wahre Freiheit?
Für grosse Fragen braucht es nicht nur grossen Mut, sondern auch grosses Engagement. Die Jugendlichen, die eine Woche vor Ostern, in der acht Stunden am Tag geprobt wird, noch keine Ferien hatten, haben sich entweder Urlaub genommen oder wurden von der Schule auf Gesuch freigestellt. Die Stimmung ist fast ein bisschen euphorisch, klingt stark nach kreativem Chaos: „Das zeigt nur, dass wir es gut miteinander haben“, sagt Lumi Probst, „so verstehen wir uns auch im Stück gut und können gut miteinander kommunizieren.“
Die Aufführungstermine
Premiere ist am Freitag, 14. April 2023, um 20 Uhr im Eisenwerk in Frauenfeld.
Weitere Vorstellungen am 15. April um 20 Uhr, 16. April um 18 Uhr, 21. April, 22. April, 28. April und 29. April, jeweils um 20 Uhr.
Von Maria Schorpp
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