von Maria Schorpp, 07.09.2022
Fuss fassen in der Einsamkeit
Usama Al Shahmani stellte bei den 6. Weinfelder Buchtagen seinen neuen Roman vor. Im Rathaussaal erzählte er von Dafer und davon, wie etwas gewinnen und etwas verlieren sich gegenseitig bedingen. (Lesezeit: ca. 3 Minuten)
Interessante Frage ganz zum Schluss: Wo ist die Grenze zwischen verlieren und gewinnen? Interessant auch deshalb, weil Usama Al Shahmani seinem Protagonisten den Namen Dafer gegeben hat. Das ist Arabisch und heisst so viel wie „Sieger“, einer, der erreicht hat, was er sich vorgenommen hat, wie Usame Al Shahmani seiner Lesung in Weinfelden selbst vorausschickte. Der Autor stellte bei den Weinfelder Buchtagen sein neues Werk „Der Vogel zweifelt nicht am Ort, zu dem er fliegt“ vor.
Usama Al Shahmani war schon poetischer drauf
Katharina Alder, die Initiatorin der Weinfelder Buchtage, vermochte dann im Anschluss an die Lesung nicht viel Insiderwissen aus dem Autor herauskitzeln. Er wollte sein Schreiben nicht selbst interpretieren, was kaum überraschen konnte. Texte von solcher Poesie interpretieren am besten die Lesenden selbt.
Obwohl: Usama Al Shahmani war schon poetischer drauf, das ist der Literaturfachfrau Alder nicht entgangen. Vielleicht ist es die Balance zwischen der Bildhaftigkeit der Sprache und ihrer Direktheit, die den tiefen Eindruck der Neuerscheinung bewirkt.
Schachspielen gegen sich selbst
Was eine Diktatur, was Krieg mit den Menschen macht, das kommt sehr nahe in der Geschichte Dafers, den man am Tisch sitzend in seiner Wohnung in Weinfelden antrifft. Zerrissenheit pur: „Ihm ist, als klopfe er an die Tür seines Exils, wie so manchen Tag. Weder wird die Tür geöffnet, noch hört er auf zu klopfen.“
Worauf er sich erinnert, dass er in seiner Jugend im Irak gegen sich selbst Schach spielte: „Und immer fragte er sich am Ende, wer nun das Spiel gewonnen hatte. Eine Antwort fand er nicht, aber er wusste, wie es war, Sieger und Verlierer gleichzeitig zu sein.“
„Und immer fragte er sich am Ende, wer nun das Spiel gewonnen hatte."
Usama Al Shahmani
Erwanderung der Fremde
Wie in anderen Büchern Al Shahmanis, der 2002 als Asylsuchender aus dem Irak in die Schweiz kam, geht es auch im neuen Buch um den Verlust von Heimat, von Sprache – und der Eroberung der Fremde, einer neuen Sprache. Vom Empfangszentrum in Kreuzlingen bis zu seiner Ankunft in der neuen Heimat Schweiz ist es ein Kampf durch schmerzliche Einsamkeit, die er sich jedoch Schritt für Schritt auf eine erstaunliche Weise einrichtet: nicht sich resignierend zurückziehend, sondern in ihr im wahrsten Sinne des Wortes Fuss fassend, indem er sich die umgebende Natur erwandert.
Ständig verschwinden Menschen
Es gehört einige literarische Fingerfertigkeit dazu, wie der in Frauenfeld lebende Autor die Schrecken der Diktatur unter Saddam und die neuen Zeiten der iranischen Revolution 1979 ins Bild setzt. Ständig verschwinden Menschen in seiner Umgebung. Aschuak, eine erstaunlich emanzipierte Frau, Freundin der Grossmutter und Apothekenbesitzerin, die Auto fährt, Stöckelschuhe trägt und unverheiratet ist, verkauft eines Tages ihren ganzen Besitz und verlässt auf immer die Stadt.
Oder der Schüler Haider, der aus Versehen das Porträt Saddams mit eine Schuh abschiesst und dafür in die Foltermaschinerie der Diktatur gerät, die erbarmungslos Rache an dem kleinen Jungen nimmt. Und nicht zuletzt wird auch Dafers Bruder entführt und kehrt nicht mehr zurück.
Ein Theaterstück mit Folgen
Von letzterem hat Usama Al Shahmani im ehrwürdigen Rathaussaal Weinfeldens nicht gelesen. Auch nicht die Passagen im Buch, die von Dafers Flucht aus dem Irak erzählen. Bei der Wahl der Auszüge aus seinem neuen Roman scheint es dem Autor eher um das Thema Heimat als um die Vertreibung daraus gegangen zu sein.
Wer die Biografie Usama Al Shahmanis auch nur grob kennt, weiss, warum Dafer fliehen musste. Als Student in Basra hatte er ein regimekritisches Theaterstück verfasst, das er aufgrund der Überredung durch einen Freund einreicht. Zu seiner Überraschung wird es aufgeführt. Mit den bekannten Folgen.
Die Rückkehr des Ajatollah
Beeindruckend auch, wie Entwicklungen in der Erinnerung konsequent aus der Sicht des Kindes geschildert werden. Eines Tages lässt eine Szene im Fernsehen die Mutter erstarren: „Ein alter großgewachsener Mann, der einen schwarzen Turban und eine graue Galabija trug, stieg langsam und vorsichtig eine Flugzeugtreppe hinunter.“ Wie die Lesenden selbst erschliessen müssen, ist es das Jahr 1979, die Rückkehr des Ajatollah Khomeini in den Iran. Ein paar Tage später verbietet die Mutter, dass Mädchen und Jungen gemeinsam spielen und am Tisch essen.
Leer, leerer, am leersten
Und dann im schnellen Wechsel wieder diese kleinen Beobachtungen. Eine Mutter, die im Zug ihre Kinder toben lässt, während sie telefoniert. Ganz unschweizerisch findet das Dafer. Auch die wie nebenbei hingeworfenen Sprachvergleiche des studierten Literaturwissenschaftlers sind bemerkenswert. Dass es im Arabischen die Steigerung des Wortes „leer“ gibt – leer, leerer, am leersten. Dagegen: „Leer ist leer, sagt der deutsche Geist.“
„Was könnte jetzt passieren, was denkst du?"
Leere empfand er, als seine Grossmutter gestorben war, eine kleine Person mit grosser Persönlichkeit, die ihn als kleines Kind mit selbst erfundenen Geschichten in den Schlaf wiegte. „Manchmal brach sie ab, schaute ihn an und fragte: ‚Was könnte jetzt passieren, was denkst du?‘“
„In jedem Gewinn geht etwas verloren und umgekehrt“, sagte der Autor am Ende der Lesestunde in Weinfelden. In jedem Verlust steckt also auch ein Gewinn. Davon handelt Usama Al Shahmanis neuer Roman.
Der Vogel zweifelt nicht am Ort, zu dem er fliegt
Usama Al Shahmani
Der Vogel zweifelt nicht am Ort, zu dem er fliegt
Limmat Verlag, Zürich, 2022, 176 Seiten.
Von Maria Schorpp
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