von Maria Schorpp, 01.11.2022
Mit dem Nichts im selben Zimmer
Im Theaterhaus Thurgau bringt das Theagovia Theater mit seiner Inszenierung „Sterben muss man können“ den Horror des Menschen angesichts des Todes auf die Bühne und hat die Lacher auf seiner Seite. (Lesedauer: ca. 3 Minuten)
Beim Versuch, den Tod aus dem Leben zu verbannen, ist der Mensch erfinderisch. Die dabei wohl meistgenutzte Technik ist die der Verdrängung durch Geschäftigkeit. Das funktioniert sogar noch, wenn sich der Tod, in einer Kiste verstaut, bereits im selben Raum befindet. Der Ritus der Beerdigung mit all seinen organisatorischen Erfordernissen könnte geradezu für diesen Zweck erfunden worden zu sein – unter anderem. Wie Danielle unablässig die Stuhlreihen geraderückt, kann man in ihr solch eine Verdrängungskünstlerin vermuten.
Das gesamte Trauerstück „Sterben muss man können“ ist der Versuch, durch schwarzen Humor das Grauen zu bannen. Die Theateradaption des Theagovia Theaters in Weinfelden geht auf die britische Filmkomödie „Sterben für Anfänger“ zurück und kann bestens mithalten mit schnellen filmischen Szenenabfolgen.
Klopapierhalter einmal anders
Mit der Tür und den beiden Fensterrahmen auf Rollen (Bühne von Walter Keller) wird erstaunlich vieles möglich. Durch Hin- und Herschieben entstehen immer neue Szenarien, die ihren eigenen Witz entfalten. Darstellende spielen Klopapierhalter oder Kräuterregal, so spart man Requisiten und kriegt noch Lacher obendrauf.
Nicht fehlen darf selbstverständlich die Kiste, der Sarg mit dem Toten. Der Verstorbene ist Jamie, der von den Hinterbliebenen mit allen Ehren in die Ewigkeit verabschiede werden soll. Dass dabei einiges schiefgeht darf vorausgesetzt werden. Es beginnt denn auch mit dem Klassiker, dass nämlich vom Beerdigungsinstitut zuerst der falsche Tote angeliefert wird. Die Kunst dabei ist, das Publikum mit dem Erwartbaren zu überraschen, was Regisseur Björn Reifler in seiner Inszenierung im Theaterhaus Thurgau in Weinfelden immer wieder aufs Neue gelingt.
Alle tragen ihr Päckchen
Da ist die Stühle rückende Tochter Danielle, die vom Willen besessen ist, durch Perfektion die menschliche Fehlerhaftigkeit zu übertünchen. Isabel Schenk gibt ihr als sich aufopfernde Tochter Kontur, die sich ausnutzen lässt und längst verbittert ist. Aber, wen wundert‘s, alle Trauergäste haben ihr Päckchen zu tragen.
Ihre Schwester Rachel etwa, die gefeierte Schriftstellerin aus New York (Janice Oertly), die in der ersten Klasse angeflogen kommt, sich aber nicht an den Kosten für die Beerdigung beteiligen will; oder Tessa (Mona Walter), die ihre Drogengeschäfte nicht im Griff hat. Mit weitreichenden Folgen: Steven (Luca Zimmermann) nimmt statt einer beruhigenden Valium-Tablette ein Halluzinogen ein, was für den Running Gag des Abends und zu guter Letzt für eine Flitzer-Einlage sorgt.
Wer ist der Unbekannte?
Sehr zur bitterbösen Komik trägt auch Cornelia Blask bei, deren Helen in hypochondrischer Qual sich selbst das Leben zur Hölle auf Erden macht. Streitereien um Parkplätze angesichts des Todes eingeschlossen. Richtig vehement wird es dann mit dem Auftauchen eines Unbekannten. Wie sich herausstellt, ist es Paul, der heimliche schwule Freund des Verstorbenen, der für sein Schweigen einen Teil der Erbschaft beansprucht. Andi Metzgers Rolle wird bis zum Schluss einen entscheidenden Beitrag zum Spass des Publikums liefern.
Die Inszenierung von Björn Reifler hat durchaus den Effekt im Auge, den einen oder anderen Schenkelklopfer inbegriffen. Da gibt es die resolute, stockschwingende Tante im Rollstuhl, den eitlen Gecken Norman oder die Pfarrerin in Eile. Warum auch nicht, zumal ab und an durchscheint, was mit diesen Menschen nicht stimmt.
Lauter kleine um sich selbst kreisende Planeten
Da riechen sie ständig an ihren Händen, wenn sie mit den menschlichen Ausdünstungen zu tun haben, und schütteln sich vor Ekel. Überhaupt sind sie nicht in der Lage, bei all ihren Wünschen und Sehsüchten etwas anderes als sich selbst gelten zu lassen. Lauter kleine Planeten, die um sich selbst kreisen.
So kommt der Verdacht auf, dass sie ihre Trauer nicht verstecken, sondern gar nicht erst empfinden. Nur das Erschrecken angesichts des Todes können sie nicht einfach ignorieren. Ihr Entsetzen über die vernehmlichen Lebenszeichen aus dem Sarg gilt wohl nicht nur der unheimlichen Situation, sondern auch der Ahnung, wie es ist, einmal nicht mehr zu sein. Da kann Lachen ein Ausweg sein.
So geschehen bei der Premiere im Theaterhaus Thurgau. Das Theagovia-Ensemble erhielt zu Recht grossen Applaus.
Weitere Vorstellungen
Am 5., 6., 12., 13., 19., 20., 25. und 26. November 2022, jeweils um 20.15 Uhr. Karten unter 071 622 20 40 oder www.theaterhausthurgau.ch
Von Maria Schorpp
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