von Jeremias Heppeler, 09.03.2019
Der liebste Feind
Als der Wolf letztes Jahr in den Thurgau zurückkehrte, kamen mit ihm alte Ängste. Die Gründe dafür liegen auch in unserer Kulturgeschichte. Ein Essay über die blutige Spur des Wolfes in Märchen und Erzählungen.
Im November des vergangenen Jahres macht ein Mann am Ottenberg (zwischen Weinfelden und Berg) eine schreckliche Entdeckung. Ein unbekannter Täter hatte hier über Nacht im Blutrausch gewütet und acht Opfer gefordert. Die meisten von ihnen haben die Nacht nicht überlebt. Der Modus Operandi des Täters wirft alsbald einen dringenden Verdacht auf, einen wirklichen Beweis kann aber erst ein DNA-Test erbringen. Denn der mutmassliche Täter hat einen entscheidenden Fehler begangen: Während der Tat hinterliess er seinen Speichel in den Wunden seiner Opfer. Die Speichelprobe wird umgehend ins Laboratoire de Biologie de la Conservation der Universität Lausanne geschickt. Wochen später bestätigen die DNA-Experten den Verdacht der Behörden. Der Täter, naturgemäss ein Streuner und Herumzieher, ist zu diesem Zeitpunkt bereits über alle Berge.
Die geschilderten Ereignisse markieren keinesfalls den spektakulärsten Kriminalfall in der Geschichte des Thurgau, nein, diese Begebenheiten erzählen die Geschichte der Rückkehr des Wolfes nach 200-jähriger Abstinenz im Kanton. Wobei das so auch nicht ganz richtig ist, denn bereits zwei Jahren zuvor hatte ein Wolf im Thurgau, ja in der ganzen Schweiz, für Aufsehen gesorgt. Auch damals hatten mehrere gerissene Schafe in der Region den Verdacht auf einen Wolf gelegt. In der Folge konnte dieser sogar punktgenau ermittelt werden. Sein Name: M75. Der Problemwolf. Das Problem: Das junge männliche Tier, verwurzelt in Italien, hatte sich offensichtlich auf Nutztiere spezialisiert und auf seinem Streifzug durch die Schweiz innerhalb weniger Monate über 50 Weidetiere gerissen - Zäune und sogar Stalltüren hatten dabei nur ein geringfügiges Hindernis dargestellt. Die erste Erkenntnis: Der Wolf wird immer dann zum Problem, wenn er zu clever ist.
Die Fronten in der Debatte sind verhärtet
Die Kantone Appenzell Ausserrhoden, St.Gallen, Tessin und Graubünden gaben M75 in der Folge zum Abschuss frei. Vergebens. Eine Online-Petition gegen den Abschuss sammelte über 20 000 Stimmen. Vergebens. M75 verschwand so schnell, wie er gekommen war, die Mutmassung, dass es sich bei dem wenig später in Süddeutschland aufgetauchten Wolf Odin um den Schweizer Serientäter handelte, konnte nie abschliessend geklärt werden.
Was bleibt, ist die Debatte um M75 / Odin. Eine Debatte, die nach den Attacken vom November wieder in zahlreichen Artikeln aufkochte, deren Fronten und Scheuklappen aber vollends verhärtet sind. Es ist die unerbitterliche, emotional höchst aufgeladene Auseinandersetzung zwischen Nutztierhaltern und Tierschützern, die als solche längst zum Politikum reifte. Wenn Sie sich an dieser Stelle fragen, was diese Überlegungen ausgerechnet auf einer Kulturseite wie thurgaukultur.ch zu suchen haben, bitte ich sie noch um wenige Sekunden Geduld.
Zwischen Faszination und Angst
Denn der Wolf hat sich wie kein zweites Tier in die Kunst- und Kulturgeschichte der Menschheit eingeschrieben und diese in einzigartiger Art und Weise geprägt. Besonders erscheint dabei, dass es teils Jahrhunderte alte Narrative im gegenwärtigen Diskurs an die Oberfläche schwemmt. Hier zeigt sich, dass Wolf immer ambivalent wahrgenommen wurde. Einerseits mit immenser Faszination, andererseits mit schlichter und durchdringender Angst. Tatsächlich markiert das Raubtier in dieser Doppellung einen regelrechten semantischen Widerspruch: Während er auf der einen Seite für einen fast familiären Einklang des Menschen mit der Natur steht, tritt er auf der anderen Seite aber als direktes Symbol für deren Unberechenbarkeit in Erscheinung.
Verlassen wir also zunächst die ohnehin festgefahrene Gegenwartsrealität und erforschen die soeben aufgezeichneten, konträren Erzählstränge. Zunächst lässt sich feststellen, dass es bei historischen Einordnung des Wolfes vor allem regionale Unterschiede gibt. In der Mythologie Nordamerikas und in den Sagen Skandinaviens tritt der Wolf als Menschenfreund auf Augenhöhe oder gar als Beschützer in Erscheinung. Im römischen Gründungsmythos war es dann eine liebevolle Wolfmutter, die die beiden ausgesetzten Menschenkinder Romulus und Remus liebevoll säugte und so ihr Überleben sicherte. Überhaupt ziehen sich die Erzählungen von sogenannten Wolfskindern durch die gesamte Menschheitsgeschichte - besonders populär natürlich im zigfach verfilmten Literaturklassiker "Das Dschungelbuch". Innerhalb dieses Diskurses jedenfalls wird der Wolf zur Ersatzmutter, zum Tier, das dem Menschen im Sozialen erschreckend ähnelt. Das Rudel wird mit der Familie gleichgesetzt und nicht umsonst wurde aus dem domestizierten Wolf dann später der vermeintlich beste Freunde des Menschen. Doch es geht auch anders. Ganz anders. Speziell in Frankreich und im deutschsprachigen Raum ist der Wolf in der Kulturhistorie eindeutig als Bestie, ja als expliziter Menschenfeind verordnet.
Die blutige Spur des Wolfes im Märchen
In der deutschen Märchen- und Sagenwelt etablierte sich der Wolf als formidabler Antagonist, der durchtrieben und gefrässig nach dem Leben unserer friedliebenden Helden trachtete. In "Rotkäppchen" verspeist er die Grossmutter und die Titelheldin, in "Die drei kleinen Schweinchen" müssen zwei Drittel der Protagonisten dran glauben und in "Der Wolf und die sieben Geisslein" verschluckt Isegrim gleich sechs unschuldige Zicklein. Noch blutiger geht es in Frankreich zu. Besonders anschaulich ist der weltberühmte Fall der Bestie von Gévaudaun, der zwischen 1764 bis 1767 über 100 Menschen zum Opfer gefallen sein sollen. Obwohl zeitgenössische Quellen definitiv Übergriffe und Unglücksfälle zu dieser Zeit nachweisen, gilt es heute als gesichert, dass sich im Bezug zu der Bestie Mythos und Realität vermischen und dass dieser Vorgang bis heute in Form von Verschwörungstheorien und naturwissenschaftlichen Theorien (die Liste der Verdächtigen reicht von adeligen Serienmördern bis hin zu ausgebrochenen Tüpfelhyänen) anhält. Innerhalb dieser Diskussionen münden tieflaufende Verwurzelungen in der Populärkultur, wie etwa die Horrorfigur des Werwolfs, der später wiederum als Zuschreibung für menschliche Übeltäter wie den Serienmörder Fritz Haarmann herhalten musste. Und schon ergibt sich ein kreisförmiges Muster.
Der böse Wolf ist meist männlich und allein unterwegs
Worin aber gründet die so unterschiedliche Wahrnehmung des Wolfes? Zunächst einmal muss festgehalten werden, dass der Wolf ein überaus anpassungsfähiges Tier ist, das sowohl in Rudeln, als auch als Einzelgänger lebt, welches sich auf verschiedenen Kontinenten und unterschiedlichen Klimazonen etablierte und seinen Lebensstil sowie sein äusseres Erscheinungsbild je nach Lebensraum verändert. Wolf ist nicht gleich Wolf. So ist es durchaus möglich, dass der Wolf in dünn besiedelten Regionen wie Skandinavien und im Nordamerika der amerikanischen Ur-Einwohner in friedlicher Symbiose lebte, während es im dichter besiedelten Mitteleuropa zu Konkurrenzsituationen und Auseinandersetzungen zwischen Mensch und Tier kam (auch wenn Angriffe auf Menschen in der Geschichte nachgewiesenermassen eine absolute Ausnahmeerscheinung waren). Lohnend mit Blick auf diese These erscheint auch die Unterscheidung zwischen Rudeltier und Einzelgänger: Der böse Wolf ist nämlich meist männlich und alleine unterwegs, die Isolation transformiert ihn zum blutrünstigen Monstrum, während die positiv konnontierten Wolfsfiguren meist im Rudel, als Mutterfiguren und als hochgradig soziale Lebewesen beschrieben werden.
Fest steht: Die Angst vor dem Raubtier, das zeigt der Blick auf die Märchen, saugt der Mitteleuropäer sprichwörtlich mit der Märchen-Muttermilch auf. Sie wurde von Generation zu Generation vererbt, selbst als der Wolf in hiesigen Regionen längst ausgestorben war. Seine Rückkehr triggerte diese Urängste nun umgehend - auch weil die eingangs persiflierte Berichterstattung wohlwollend die alten Bestien-Narrative aufnimmt und sie sich innerhalb der Gegenwart zu Eigen macht. Was früher der Lagerfeuer-Mythos leistete, übernimmt heute der Facebook-Post: Der Wolf als zu überführender Mörder. Der Wolf als Bestie im Blutrausch. Der Wolf als Problem.
Nachklapp: Der Autor dieser Zeilen hat eine klare Position zur Rückkehr des Wolfes. In Zeiten von anhaltenden Artensterben und nicht zu verleugnender Umweltzerstörung durch den Menschen, ist es eine wohltuende Ausnahmeerscheinung, dass sich Tiere wie der Wolf, aber auch Luchse oder Bären ihre natürlichen Lebensräume zurück erobern. Darüber sollten wir glücklich sein. Dennoch müssen die Ängste der Bauern und Tierhalter an dieser Stelle ernst genommen werden - hier ist die Aufgabe der Politik, sie beim Schutz ihrer Tiere zu unterstützen und etwaige Verluste adäquat zu ersetzen.
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