von Jeremias Heppeler, 15.12.2022
Die Tücken der Vielfalt
Die Zeitschrift „Mauerläufer“ bündelt einmal im Jahr das literarische Schaffen im Dreiländereck. In der aktuellen Ausgabe sind auch wieder Thurgauer Autor:innen vertreten. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)
Offen gesagt: Ich hatte im Zuge dieser kritischen Auseinandersetzung erstmals eine Ausgabe des „Mauerläufer" in der Hand. Kein Vorwissen, keine Vorurteile, das erhöht die Spannung ungemein, als das Paket eintrudelt und fachgerecht aufgerissen wird und … wow!
Die am Bodensee verlegte Literaturzeitschrift ist bereits auf den ersten Blick eine umwerfende Schönheit. Hochwertiges Papier, hochwertiger Druck, ein Layout auf Höhe der Zeit, eigenwillig, eigenständig, irgendwie klassisch, irgendwie aufregend, irgendwie Internet.
In Zeiten in denen wir auch Literatur nicht selten digital auf anonymen Bildschirmen aufbereitet verschlingen, erinnert uns der „Mauerläufer", der auch haptisch zu überzeugen weiss, spielerisch an den Zauber, der guten Printprodukte immer noch innewohnt. Die Grafikerin Eva Hocke hat hier wirklich nahe am Maximum operiert. Fantastisch.
Die Herausgeber:innen widersprechen sich
Die Vorfreude jedenfalls ist jetzt da, zuckt durch Finger und durchs Hirn und … was?
Im Vorwort des Mitherausgebers Hanspeter Wieland heisst es:
„Krieg ist nicht Krieg und zwei und zwei nicht hier. Ist fünf oder drei, manchmal alles zusammen. 'Du mußt Dir mehr Mühe geben beim Lernen, im Denken.' Freiheit ist Verschwörung, Widerstand Schwurblerei. Die Mitte ist randständig geworden. Soll eine Zeitschrift sich treu bleiben? Weiß nicht - Soll es der Einzelne? Ja."
Wie bitte? Diese kryptischen Zeilen verwirren nachhaltig - zumal im vorangegangenen Vorwort von Mitherausgeberin Chris Inken Soppa und dem anschliessenden Inhaltsverzeichnis sowohl Thema als auch Konzept längst pointiert eingeführt worden waren. Warum nun die plumpe Verschwörungsrhetorik? Warum der verschachtelte Verweis darauf, dass sich die Zeitschrift vermeintlich nicht mehr treu sei?
Schwer zu ertragender Text
Wielands eigener Text „Sorry, ihr Hunde” stösst dann später ins selbe Horn. Nur schwer zu ertragen. Auf allen Ebenen. Die zuvor vermiedene Google-Suche wird nun doch bemüht und führt uns ins eigene Haus: Mit Blick auf die letzte erschienene Ausgabe des „Mauerläufer" hatte der Thurgaukultur-Kollege Buchwardt den Blick auf einen unsäglichen, von Verschwörungsmythen nur so triefenden Text von Volker Demuth geworfen und dabei auch die Publikationsentscheidung der Redaktion stark kritisiert.
Der Background-Check macht nun umso vorsichtiger, unterstreicht aber auch den Verdacht, dass sich die „Mauerläufer"-Redaktion mit Blick auf den Umgang mit dem im Zuge der Corona-Krise viel diskutierten Freiheitsbegriff, nicht immer einig scheint. Einen derartigen Verwirrmoment ins Vorwort zu stellen erscheint mindestens unglücklich.
Ein gefühlvoller Nachruf
Ein Bärendienst für alle nachfolgenden Texte, die als Rezipient nur irgendwie tastend gelesen werden - auch wenn sich „Mauerläufer” auch durch eine Vielzahl an Positionen auszeichnet und es schlicht unfair wäre, all diese über einen einzelnen Kamm zu scheren.
Die Zeitschrift, die mit einem gefühlvollen Nachruf auf die Mitherausgeberin Hippe Habsch beginnt, wird in dieser Ausgabe unterteilt in abstrakte Kapitel, die Titel tragen wie „wird das Holzhaus ja schwimmen auch bachrunter” oder „sirrt die Stromleitung Unter der du gehst” und der Zeitschrift eine wunderbare Nicht-Struktur verleiht, fast wie eine Strassenkarte, die die Wegverzweigungen von Zeit zu Zeit ändert.
Vor uns aber ein Dickicht aus Text, die man am besten zufällig konsumiert, sprich: einfach aufschlagen und schauen, wohin die Reise führt. Doch weil wir den Thurgau im Titel tragen, werfen wir kurze Blicke auf die Thurgauer Autor:innen des aktuellen Mauerläufers.
Die Beiträge der Thurgauer Autor:innen
Magdalena Obergfell aus Kreuzlingen entwirft mit „Der Morgen fällt aus den Wolken” eine verträumte Anordnung, ein Text, der noch nicht so richtig aufgewacht scheint und darin seine Stärke findet. Ruth Erat (Arbon) erzählt „Im Strom” eine gläserne, fast zerbrechliche Kurzgeschichte voller Verweise und Erinnerungen, die auf sich selbst und nicht zuletzt auf das Erinnern verweist.
Der in Müllheim lebenden Zsuzsanna Gahse gelingt mit „Einrichtung” eine prägnante Beobachtung zwischen den Zahlen Eins und Zwei, ein Stück über Identitäten und wie sie sich unverrückbar verrücken lassen. Der Ermatinger Jochen Kelter wirft indes einen Blick auf die Auswirkungen von Lockdown-Situationen auf Brauchtümer, die sich ins Geheime verpflanzten: „Letzte Fastnacht”.
Hans Gysi (Märstetten) offenbart mit „Schau” ein zärtliches Gedicht über das Verlorengehen und Verloren gegangen sein, ein Kleinstmoment, von dem beinahe befürchtet, er könnte während des Lesens zerbrechen. Sehr schön! Margit Koemeda aus Ermatingen versinkt schlussendlich unaufgeregt in einem Aquarell namens „Sommerfantasie”.
Arbeiten von Student:innen inklusive
Ein aussergewöhnliches Kapitel markiert „darüber hinaus: auf dem Rücken liegend aufs Meer hinaus”, welches Arbeiten von Kommunikationsdesign-Student:innen der FH Dortmund versammelt, die dazu angehalten waren, Interviews zum Themenfeld „Strom / Strömung” zu führen und diese dann zunächst zu Reportagen und dann zu Cut-up-Texten zu verarbeiten.
Das Kapitel bricht mit dem Rest der Publikation, vor allem, weil auch die Anordnung und Gestaltung der Seiten bei den Student:innen lag, die diese Aufgabe zwar mit grosser Hingabe und überaus souverän meisterten, im Vergleich mit Eva Hockes Arbeit aber ein wenig abfallen.
Ein konsequenter Schritt
Besonders präsent wirkt der Bruch, weil neben den literarischen Cut-Up-Texten auch eine Reportage zur gesellschaftlichen Lage am Bodensee und einem Interview zum Thema Queerfeminismus das Kapitel abrunden.
Beide Arbeiten sind gelungen, die Frage, ob eine Literaturzeitschrift ihnen den richtigen Rahmen bietet, muss aber gestellt werden. Der Ansatz jungen Autor:innen eine aussagekräftige Plattform zu geben, sollte aber definitiv als richtiger und konsequenter Schritt gewertet werden. Mehr davon!
Am Ende erscheint der „Mauerläufer” als vielschichtige und komplexe Publikation, die uns konsequent ins Gedächtnis ruft, wie vielfältig sich Literatur auffächert, wenn sie nur darf. Der mächtige Literaturbetrieb ist eben vor allem ein Betrieb, der unmöglich dieser Vielfalt gerecht werden kann. Unzählige Stimmen bleiben ungehört, surren im Dunkeln.
Ein kleines Abenteuer
Umso wichtiger sind wertige Literaturzeitschriften wie diese, die formale Experimente fördern, nach dem Ungewöhnlichen und Merkwürdigen schürfen. Hier lesen wir uns durch Kürzesttexte, Interviewexperimente, Lyrik und Kurzgeschichten ohne zu wissen, was uns auf der nächsten Seite erwartet.
Auch wenn hier das Rad nicht neu erfunden wird, so ist es doch aufregend, sich als Leser oder Leserin auf dieses kleine Abenteuer zu begeben, das uns zumindest eine Vielzahl an ungewöhnlichen Rad-Entwürfen präsentiert. Das diese nicht alle funktionabel sein können, versteht sich wiederum von selbst. Müssen sie aber auch nicht. Viel eher gilt das Motto: Loslaufen! Egal wie …
Hier ist der Mauerläufer erhältlich
per E-Mail unter
oder online unter
https://caracol-verlag.ch/series/mauerlaeufer/
oder bei diesen Buchhandlungen und Museen:
- Kartause Ittingen / Kunstmusuem Thurgau / Shop / Warth
- Bücher zum Turm / Bischofszell
- Bücherladen Marianne Sax / Frauenfeld
- Gutenberg Buchhandlung / Gossau
- Bodan AG / Kreuzlingen
- Bücherfass / Schaffhausen
- Buchhandlung zur Rose / St. Gallen
- Comedia / St. Gallen
- klappentext / Weinfelden
- Obergass Bücher / Winterthur
Preis 15 CHF
ISBN 978-3-9819985-3-5
Die Zeitschrift im Internet: http://www.mauerlaeufer.org
Weitere Beiträge von Jeremias Heppeler
- Sehenden Auges in den Sturm (08.05.2023)
- Die Superkraft der Literatur (17.04.2023)
- Auf zu neuen Welten! (27.03.2023)
- Über Leben (06.07.2022)
- Die Festival-Hauptstadt der Schweiz (23.06.2022)
Kommt vor in diesen Ressorts
- Literatur
Kommt vor in diesen Interessen
- Kritik
- Belletristik
- Lyrik
Ähnliche Beiträge
Die Ignoranz des Westens
Die deutsch-georgische Autorin Nino Haratischwili las in Frauenfeld aus ihrem Roman „Das mangelnde Licht“ und erzählte von den Menschen in Georgien in den Chaosjahren des Umbruchs. mehr
Die Superkraft der Literatur
Der 23. April ist der Welttag des Buches. Zeit, daran zu erinnern, wie viel Magie zwischen zwei Buchdeckel passen kann. mehr
Zwischen den Zeilen
Musik, Virtual Reality, Hörspiel, Literatur: Sarah Elena Müller zählt zu den vielseitigsten Künstlerinnen ihrer Generation. Am Donnerstag liest sie in Frauenfeld aus ihrem Debütroman. mehr