von János Stefan Buchwardt, 03.12.2020
Ein Makel bleibt
Layout vom Feinsten, exquisite Textzusammenstellung spannender AutorInnen: Die neue Ausgabe der grenzüberschreitenden Literaturzeitschrift «Mauerläufer» überzeugt. Wäre da nicht dieser eine Text. (Lesedauer: ca. 7 Minuten)
Hut ab, wenn ein der Wort- und Bildkunst verpflichtetes Jahresheft mehrheitlich so schmackhaft daherkommt, dass einem schon beim Durchblättern und Anlesen Geist und Sorgfalt entgegenspringen. Es grenzt an Meisterhaftigkeit, wie intensiv (auch) diese siebte «Mauerläufer»-Ausgabe durchdrungen ist: von guter Bildeinbettung und Textauslese, von grafischer Farbigkeit und typografischer Üppigkeit.
Was 176 Seiten, betitelt mit «Der fremde Blick», unter der selbstverliehenen Etikette «regional, radikal, randständig» zusammenhält, beeindruckt fast durchgehend. Ausgewogen und wertbeständig verschreiben sich gestalterische und inhaltliche Ebenen des Heftes einem verbindungsstiftenden wie originären Duktus «des Fremden in der Welt, um uns herum und in uns selber».
Eine Balance zwischen Dezentem und Schallendem umgesetzt zu haben, ist Verdienst der Bad Saulgauer Grafikerin Eva Hocke samt der ehrenamtlich arbeitenden Herausgeberschaft und Redaktion. Als da wären: Hippe Habasch, Jochen Kelter, Katrin Seglitz, Chris Inken Soppa und Hanspeter Wieland. Grosso modo gebührt den Mitwirkenden Respekt – weit über die Landstriche vom Allgäu bis zum Hegau, weit über das Oberschwäbische und das deutsche, österreichische und Schweizer Bodenseeufer hinaus.
Auch mehrere Thurgauer AutorInnen sind vertreten
Viele Pluspunkte also für das Gros der Seiten. Im quantitativen Durchlauf entdeckt man erfreulicherweise auch eine Handvoll im Thurgau sesshafter Künstlerinnen und Künstler: die mit mindestens 30 Publikationen ausgestattete Zsuzsanna Gahse aus Müllheim, Conrad Steiner aus Berg, der schreibende Schauspieler und Theaterregisseur Hans Gysi aus Kreuzlingen; Ruth Erat, Kunstschaffende aus Arbon; Kelter aus Gottlieben, seinerseits Lyriker, Erzähler und Essayist.
Metropolen wie Berlin, München und Wien sind vertreten. Geschlagene 58 Kürzestbiografien werden aufgelistet, nicht alle stellen einen Beitrag für diese siebte Ausgabe bereit. Über den Thurgau hinaus schickt die Schweiz den Lehrer und Logopäden Niels Zubler aus Schaffhausen, von dem man schon in der Literaturzeitschrift «orte» zu lesen bekam, und die literarisch schreibende, langjährige Kulturredaktorin Irène Bourquin aus Winterthur ins Rennen. Hinzu kommen Stefan Keller, Historiker, Journalist, Autor und Herausgeber aus Zürich, und die in Istanbul geborene Lyrikerin Simay Alsan samt dem fotografierenden Autor Manfred Schiefer aus St. Gallen.
Highlights des Befremdlichen und Staunenswerten
Wo Zwiesprachen stimulierend Grenzen abtasten und visuelle und literarische Werke auffallend reich korrespondieren, lassen sich ausgesprochene Highlights des Befremdlichen und Staunenswerten ausmachen. Ein Gastarbeiter aus dem Balkan etwa erlebt die «Seegförni» von 1963. Blicke schweifen über andersgeartete Länder und Territorien, über die eigene Heimat und das Phänomen der Entfremdung. Die unbekannte Welt der Geheimdienste, eigenes Fremdwerden, aber auch thematisch ungebundene Texte gehorchen literarischen Qualitäten.
Simay Alsans «Briefe an die Tante» sprechen vom Frieden des Grüns in der Schweiz. Wo die Schatten der Bienen auf dem Balkon wahrgenommen werden, sei Glück im Spiel. In «Schlossferien» erzählt Irène Bourquin von einem Thurgauer Anwesen, das einen Sommer lang zum Mehrgenerationen-Feriendomizil wird.
Ruth Erat und Zsuzsanna Gahse beeindrucken mit hochberührenden Kompositionen: «Für immer hier» ist ein Lebensresümee mit finalem Aufbruch. Der Text «Tonspur» greift das Singen einer Äthiopierin in Romanshorn auf und wird sich selbst zum verschenkten Lebensgesang. Zitat Gahse, die einzelne Wörter zu kleinen Instrumenten werden lässt: «Jedenfalls kann man die Sprache, zumindest einzelne Wörter, mit Liedern ködern. Auch die Sprache ist Musik, zusammen mit einem Lied noch mehr, sage ich mir. …»
Der Untergang des Monds
Im Gedicht «Hannibal schläft» spricht Hans Gysi von orangen Kakteenträumen und ferngesteuerten Elefantenreihen. Stefan Kellers «Bernrain» handelt vom Kind eines Kameltreibers aus Mekka, mit «Afrikaforscher» klagt er das zurechtgebogene Gewissen in kolonialistischen Zusammenhängen an. In Jochen Kelters Prosaprojekt-Ausschnitt «Die Ankunft» holpert der Leser mit dem Protagonisten durch schweizerische und badische Gepflogenheiten.
Manfred Schiefer giesst seine Erfahrung des Multikulturellen in sechs gewandte Foto- und Wortsequenzen und hält uns, über ein Toggenburger Asylheim hinaus, den Spiegel der Fremde vor. Mit der Gedichtzeile «Der Untergang des Monds» von Niels Zubler ist sogar ein ganzes Kapitel überschrieben. Conrad Steiners neun Monotypien bestehen trotz der direkten Nähe zu einem prekären Text, um den es sich im Folgenden dreht.
Am Ende ein unerträglicher Text
Regelrecht sträflich ist es, dass die Redaktion sich zum Schluss vergisst und Raum für schlagwortartige Aufgeladenheit und ein Vorgaukeln literarischen Durchtränktseins bietet. Im Lockdown-Text «Uckermärkische Notizen» des in Berlin lebenden Oberschwaben Volker Demuth macht sich der freie Autor und Medienwissenschaftler zum frühzeitigen Anheizer einer sich gegenwärtig immer stärker vollziehenden Radikalisierung in Richtung Corona-Widerstand.
Heimische Verantwortlichkeiten bezüglich Corona-Entscheiden mit «Hitlerismus»-Vergleichen zu belegen und das inzwischen breitgetretene Phänomen des Herunterspielens der Gefahren um Covid-19 zu bedienen, ergibt ein tendenziöses Zerrbild. Demuths Rechtfertigung, man müsse ja nicht immer politisch korrekt sein, und der redaktionelle Entscheid, intern umstrittene Passagen dennoch abzudrucken, lassen aufhorchen.
Da heisst es beispielsweise: «Und das Bild, das dieses Land in der … schwersten Krise seit Bestehen der Republik (bisher noch nicht ein Drittel der Toten, wie sie die letzte ernste Grippewelle hervorrief) und den stärksten Einschränkungen von freiheitlichen Grundrechten seit dem Hitlerismus abgibt, ist das einer folgsamen Nation.» Oder: «Das Volk verlangt nach Führung, und was vor kurzem ein Regierungsvertreter war, übt sich jetzt in der unerwarteten, doch erregenden Rolle, Führer zu sein.»
Hausgemachte Selbstdisqualifikation
Wir werden Zeuge einer unsäglichen Auftragsarbeit mit hausgemachter Selbstdisqualifikation. Der Weg zu aktuellen Corona-Leugnern, die von einer angeblichen Neuauflage von (NS-)Ermächtigungsgesetzen sprechen, ist nicht weit.
Tröstlich andererseits, dass es Demuth neben so viel Qualität kaum gelingen will, die schöne siebte Ausgabe zu überschatten. Denn es gibt ja auch die anderen Stimmen: So lassen sich etwa die über das ganze Heft verstreuten Bildbeiträge zum Lockdown-Thema in ihrer kreativen Offenheit und Abstraktion nicht mit pullernden Aufwiegelungen innerhalb einer Kultur alternativer Wahrheiten gleichsetzen.
Mehrheitlich ein ausgefeiltes Vergnügen
Keine Frage: Die Mehrzahl der Künstlerpositionen ist spürbar gut gesetzt. Sie interagieren, legen Assoziationen frei und überraschen wohltuend. Ein ausgefeiltes Vergnügen hier, ein bewegendes Räsonnement dort, das die Liaison mit den Stoffvorgaben und Layout-Prinzipien nicht zu scheuen braucht.
Und dennoch: Glaubt die Redaktion allen Ernstes, ihren misslichen Schritt durch eine Offenlegung divergierender interner Argumente reichlich entschärft haben zu können? Literatur mit Warnhinweisen zu versehen, wie es die Verantwortlichen machen, um das Abdrucken einer fabrizierten Doppelbotschaft zu decken, ist ein fingiertes Spiel auf Kosten der schreibenden Kollegenschaft.
Die hingegen spricht derart konsequent für sich, dass der Spuk sich schnell einmal in Luft auflöst. Vom Text eines frühen Corona-Rebellen aber hätte man die Finger lassen sollen.
Die aktuelle und alle anderen Ausgaben des Literaturheftes Mauerläufer gibt es per Mail über vertrieb@caracol-verlag.ch
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