von Maria Schorpp, 14.02.2019
Ausgezeichnet
Zsuzsanna Gahse erhält in diesem Jahr den Schweizer Grand Prix Literatur für ihr Gesamtwerk. Sie lebt seit zwanzig Jahren mit ihrem Mann und ihren Texten im Thurgau.
Ein Text hat es bei Zsuzsanna Gahse gut. Texte dürfen ein Eigenleben haben, sie bestimmen mit, welchen Weg sie nehmen. Sie besitzen nachgerade menschenähnliche Eigenschaften. Zum Beispiel das Wort „nirgendwo“. „Es gibt kaum ein traurigeres Wort als ‚nirgendwo‘“, sagt Zsuzsanna Gahse, und man möchte ihr sogleich zustimmen. Stimmt, „nirgendwo“ klingt sehr traurig.
Und so geht es weiter. Zsuzsanna Gahse lauscht der Sprache nach bis hin zu den Buchstaben, den Lauten. Das wird sie auch gemeinsam mit den Studierenden machen, die in Salzburg zu ihrer dreiteiligen Poetik-Vorlesung kommen, die zu halten sie eingeladen wurde. Darauf freut sich die Autorin, die in diesem Jahr den mit 40.000 Franken dotierten Schweizer Grand Prix Literatur für ihr Gesamtwerk erhält. Von zwei anderen Poetik-Vorlesungen in Bamberg und Dresden weiß sie, dass sich junge Leute gegenüber dem, was sie „Versuchsmöglichkeiten“ nennt, sehr aufgeschlossen zeigen.
«Ich bin immer sehr froh, wenn eine Jury die Moderne erkennt.»
Zsuzsanna Gahse, Autorin, über den Grand Prix Literatur (Bild: Maurice Haas)
Zsuzsanna Gahses Werk ist schon mit zahlreichen Preisen gewürdigt worden. Auf Wikipedia lassen sich 16 Auszeichnungen nachzählen, sehr renommierte wie die Aufnahme in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. Auch der Thurgauer Kulturpreis, den sie 2010 erhielt, ist darunter. Und jetzt der Grand Prix Literatur, eine ganz besondere Wertschätzung: „Ich bin immer sehr froh, wenn eine Jury die Moderne erkennt.“ Auch die Begründung gefällt der Preisträgerin – dass das Spielerische herausgehoben und das „Spiel mit dem Sound“ herausgehört wurde. „Der Preis gilt nicht nur mir, sondern einer Art von Literatur. Das finde ich besonders schön.“ Literatur, die sich zum Beispiel über Gattungsgrenzen hinwegsetzt. Ihr eigenes Schreiben sieht Zsuzsanna Gahse zwischen Lyrik und Prosa. Und vielleicht ist auch das ein Zeichen für den Respekt, den sie dem Text, der Sprache gegenüber empfindet. Denn Grenzen behindern die freie Entfaltung der Kräfte.
Wird Zsuzsanna Gahse zu ihrer Literatur befragt, kommt sie schnell auf die Autorinnen und Autoren zu sprechen, die ihr gefallen und sie auch beeinflusst haben. Bei manchen Namen wird sie richtig aufgeregt. Bei Natalie Sarraute zum Beispiel. Mit 96 Jahren hat die Vertreterin des Nouveau roman noch einen Roman veröffentlicht, in dem Wörter wie lebendige Wesen agieren. „Aufmachen“ heißt der Roman. Darin kommen andere Wörter zu Besuch, und, wie im Menschenleben, werden die gefährlichen Kandidaten hinter einer Wand weggesperrt. Manchmal rufen sie „aufmachen“. „So etwas geistreiches Szenisches, so etwas mag ich sehr.“ Das ist Zsuzsanna Gahse.
Reinhören: Lara Stoll liest Zsuzsanna Gahse
Oder Georges Perec, von dem es ein Buch gibt, in dem der Vokal „e“ nicht vorkommt. Mit derselben Einschränkung wurde es aus dem Französischen ins Deutsche übertragen, wobei anzumerken ist, dass in beiden Sprachen das „e“ der häufigste Vokal ist. „Stellen Sie sich vor, in welcher Zwangsjacke der Übersetzer steckt.“ Sie weiss, wovon sie spricht, die Autorin ist auch Übersetzerin ungarischer Schriftsteller, darunter Péter Esterházy und Péter Nádas. Wenn man Zsuzsanna Gahse gegenübersitzt, gibt es viele Gelegenheiten zu staunen. Manchmal meint man auch, ein kleines Zeichen des Amüsements um ihren Mund herum und in ihren tiefen blauen Augen zu erkennen.
Sie will, dass Textteile aufeinander prallen
Ganz viele solcher Beispiele von anderen, die ihr gefallen, hat sie parat, angefangen bei Kierkegaard und nicht endend beim österreichischen Autor Gert Jonke, den sie insbesondere für die szenischen Elemente in seinen Texten schätzt. Das Unausgeglichene ist ihr wichtig, sie will, dass Textteile aufeinanderprallen, um dann zu schauen, was passiert. Umgekehrt gefallen ihr Bücher nicht, „die meinen, die Wahrheit gepachtet zu haben. Als wüssten sie, was Gerechtigkeit ist“. Auch nicht die entsprechenden Leser, die mit „Geschichten vor der Wirklichkeit fliehen wollen“. In einem gelungenen Text muss ein „Doppelton“ zu hören sein, der ihn vor der Eindeutigkeit bewahrt. Das ist Zsuzsanna Gahses „Ich weiss, dass ich nichts weiss.“
Mit zehn fing Zsuzsanna Gahse an, Deutsch zu lernen. Ihre Eltern waren nach dem niedergeworfenen Aufstand 1956 aus Ungarn geflohen und zunächst in Wien gelandet. Wenn sie von der Zeit in der Stadt erzählt, klingt das so: Da gab es ein Mantelgeschäft, einen Schokoladenladen, eine Verkäuferin und einen jungen Mann. Als wäre man mitten auf einer ihrer „Erzählinseln“. Als ob man in eine Zauberwelt eintauchte. Als ungefähr Dreizehnjährige schrieb sie einen Roman, wahrscheinlich ihr einziges Buch, das dieser Gattungsbezeichnung wirklich entspricht.
Wie eine Kutscherin mit mehreren Zügeln in der Hand
Von Wien ging es jedenfalls nach Kassel, nach Stuttgart, Luzern und irgendwann nach Müllheim im Thurgau. Zsuzsanna Gahse kennt sich aus in den drei deutschen Landessprachen. Als österreichisch-deutsch-schweizerische Autorin, geboren in Budapest, möchte sie ihre sprachliche Zugehörigkeit verstanden wissen. „Für die Zeitschrift Mauerläufer habe ich mal geschrieben, dass ich mir vorkomme wie eine Kutscherin mit den Zügeln von drei Pferden in Händen. Es ist schön, diese drei verschiedenen Möglichkeiten zu haben.“
Seit rund 20 Jahren nun also Müllheim. 2004 kam ihr Buch „durch und durch“ heraus, das von „Müllheim/Thur in drei Kapiteln“ handelt. Davon, dass Müllheim ein Durchgangsort ist. Zsuzsanna Gahse wohnt in einem schönen alten Haus direkt an der Durchgangsstrasse, auf der „die Leute durchfahren, ohne sich umzuschauen“. Mittlerweile durch dreifach verglaste Fenster schaut sie nach draußen, mitunter auf den Wellenberg, auf dem in ihrem Buch „Jan, Janka, Sara und ich“ 10.000 Leute wohnen. Anklänge an gesellschaftspolitische Entwicklungen sind wichtig, Themen wie die Zubetonierung von Landschaft oder Überbesiedlung. In diesem Sinne versteht sie sich als politische Autorin.
Reinhören: Die Erzählerin Zsuzsanna Gahse
Sie mag den Südwesten. Sie findet, dass die Thurgauer näher am Schwäbischen dran sind als am Innerschweizerischen. Und schon ist man wieder bei der Sprache, bei den „interessanten Irritationen“, die zum Beispiel entstanden sind, als die damals erst österreichische-deutsche geborene Budapesterin auf das Schweizer Idiom stieß. Zsuzsanna Gahse betreibt mit Leidenschaft Sprachanalyse. In ihrem letzten Buch „Siebenundsiebzig Geschwister“ bringt sie ein Beispiel, das indoeuropäische Wort „gen“, auf das die „Gene“ genauso zurückgehen wie das „Kind“, das französische „gens“ oder das englische „kind“. „Wenn man das richtig einbettet, ist das für mich schon Literatur“, sagt sie. Wo könnte man besser beobachten, dass Sprache lebt, als in der Etymologie.
«Dem Text geht es, wie es dem Autor geht.»
Zsuzsanna Gahse, Schriftstellerin
Zsuzsanna Gahse ist beim Schreiben Behavioristin, sie beschreibt, was sie sieht. Das ist für sie aufschlussreicher als alles Psychologische. Möglicherweise kommt so auch das für ihre Texte typische Fliessen zustande. Ein Satz denkt den nächsten, aus einem Satz folgt ein nächster. „Dadurch beginnt man eine Unterhaltung mit sich selbst. Dieses Zuschauen, wie man sich mit den Gedanken weiterhangelt. Daran habe ich ein Riesenvergnügen.“ Zu ihrer ersten Poetik-Vorlesung in Bamberg ist ein Buch erschienen. „Wie geht es dem Text?“ steht darüber. Die Antwort von Zsuzsanna Gahse: „Dem Text geht es so, wie es dem Autor geht.“ Im kommenden Herbst wird ihr nächstes Buch erscheinen. Die Autorin, so viel lässt sich sagen, erfreut sich immenser Schaffenskraft.
Der Grand Prix Literatur
Der mit 40'000 Franken dotierte Schweizer Literaturpreis wird jährlich vom Bundesamt für Kultur (BAK) verliehen. Zsuzsanna Gahse erhält den Schweizer Grand Prix Literatur 2019 «für ihr originelles Werk zwischen Poesie und Prosa», wie es in einer Medienmitteilung heisst. Der Spezialpreis Vermittlung geht gleichzeitig an das Centre de traduction littéraire in Lausanne und das Übersetzerhaus Looren. Die Preisverleihung findet am 14. Februar 2019 in der Nationalbibliothek in Bern statt.
Video: Zsuzsanna Gahse in der «Sternstunde Philosophie»
Reinhören: Zsuzsanna Gahse erhält den Grand Prix Literatur
Von Maria Schorpp
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