von Inka Grabowsky, 29.03.2023
Die Wahl der Qual
Wer Schauspieler:in werden will, muss Castings überstehen. Aber wie schafft man das? Das Casting für Florian Rexers Version des «Glöckners von Notre Dame» gibt Antworten. (Lesedauer: ca. 3 Minuten)
«Was – nein: Wer bist du?», stammelt Esmeralda, als sie Quasimodo das erste Mal im dunklen Kirchenschiff von Notre Dame begegnet. Und den Satz hört die Jury des Castings an diesen Nachmittag zehnmal, vorgetragen von zehn Jugendlichen, die alle mitspielen wollen bei der Neuinszenierung von «Der Glöckner von Notre Dame».
Sie und neun weitere Bewerber, die an einen anderen Termin auf die Probe gestellt wurden, sind dem Aufruf von Florian Rexer gefolgt, der für sein Wintertheater nach «Oli Twist» und «P. Pan» den nächsten legendären Stoff in Angriff nimmt.
Diesmal ohne Buckel
Das Publikum kennt die Geschichte eigentlich zu genüge: Nach der Romanvorlage von Victor Hugo aus dem Jahr 1831 entstanden diverse Theaterstücke und Filme, darunter die Disney-Variante von 1996. Dem Ostschweizer Publikum ist die 2021 aufgeführte Oper von Franz Schmidt bei den St. Galler Festspielen noch gut in Erinnerung.
Nun also nimmt sich der Theatermacher Rexer der Geschichte an. Ein Kern bleibt immer gleich: Im Glockenturm der Pariser Kathedrale lebt der einsame Quasimodo, der die Liebe seines Lebens rächt, die von einem eifersüchtigen Verehrer verfolgt wird.
Bei Rexer ist Quasimodo nicht körperlich beeinträchtigt. «Er ist für mich wie Kaspar Hauser ohne jede menschliche Gesellschaft aufgewachsen. Als illegitimer Sohn eines Mächtigen wird er vor der Welt versteckt.»
Mit jungem Alter Ego
Rexers Quasimodo (verkörpert von Stefan Gritsch) hatte nie eine Chance auf ein glückliches Leben. Er ist von der Gesellschaft ausgestossen. Als Erwachsener begegnet ihm in seinem Zuhause, in Notre Dame, der jugendliche Cedric. Er ist ein Strassenjunge, der sich selbst aus der Gesellschaft entfernt hat.
«Er hätte theoretisch Chancen, kommt aber aus sozial prekären Verhältnissen und kann sie deshalb nicht nutzen», so der Autor und Regisseur. Damit erklärt sich, warum Florian Rexer ein Casting für Jugendliche macht. Er braucht einen «Cedric», und Cedric braucht unter anderem eine Gang, mit der er durch die Pariser Strassen zieht.
Mit Begeisterung dabei
All das jedoch wussten die 19 Jugendlichen noch gar nicht, als sie sich beworben haben. Sie alle haben die vorgegebene Szene vorbereitet, obwohl keiner von ihnen die Esmeralda spielen wird. Das macht die erwachsene Schauspielerin Anja Brühlmann.
Trotzdem sind sie Feuer und Flamme. «Ich geniesse es, auf der Bühne meine Gefühle zu wechseln», sagt etwa die 13-jährige Lia aus Mauren, «sauer sein kann ich besonders gut». Und das muss sie dann natürlich sofort vor der Jury unter Beweis stellen. Hinterher sagt sie: «Am Anfang hatte ich vor allem Angst den Text zu vergessen, aber beim Spielen verging das. Das Casting war mega cool.»
An diesem Nachmittag gibt es für die Jugendlichen nur positives Feedback. Die Zu- oder Absage kommt dann später, denn auch wenn die Profis viele Rollen vorsichtshalber doppelt besetzen wollen, können sie nicht alle aufnehmen.
Gewaltiger Aufwand
Viele der Bewerber seien vorab abgesprungen, als ihnen klar geworden sei, wie viel Arbeit auf sie zukäme, so Projektleiter Andreas Müller. «Wir proben ab Mitte August an jedem Mittwochnachmittag und zusätzlich stehen noch fünf Probenwochenenden auf dem Plan.» Für 15 bis 20 Aufführungen zwischen Dezember und April muss man sich natürlich ebenfalls Zeit reservieren.
Die 19, die den grossen Effort leisten wollen, bekommen beim Casting eine Chance zu zeigen, was sie können. Jedes Mal, wenn jemand von einem Hobby neben dem Theaterspielen erzählt, wird Rexer hellhörig. Sein Stück ist schliesslich nicht fertig. Noch kann er Szenen einbauen, wenn er eine begabte Saxophonspielerin, einen Turner oder eine Jongleurin findet. Auch später sei er immer für Anregungen offen: «Wir üben nicht, wir proben», sagt er. «Ich brauche Ideen aus dem Team, und die probieren wir dann aus.»
Als die 14-jährige Ivy aus Mattwil also sagt, am liebsten wolle sie eine Rolle, in der sie brav und ehrgeizig sein dürfe, platzt es aus ihm heraus: «Ha – da kommt mir ein Gedanke!» Projektleiter Müller warnt: «Das Stück hat nur zwei Stunden mit Pause.»
Jung, aber nicht unerfahren
Katharina (13) aus Amriswil spielt nach ihrer Pflichtszene als Kür noch Loriots «Englische Ansage». Schnell erntet sie die ersten Lacher, so souverän ist ihr Vortrag. Ebenso wie Fynn, der für den «Cedric» vorgesehen ist, ist sie ein «alter Hase». Beide waren schon in vorherigen Rexer-Projekten dabei.
Heidi hatte nach ihrem ersten Engagement bei «Oli Twist» ein Jahr Pause gemacht, weil sie die Zeit nicht hatte. Jetzt hat sie sich wieder gemeldet. Ihre Mutter Barbara weiss also schon, was auf sie zukommt: «Auf jeden Fall viel Fahrerei», sagt sie mit einem Lächeln. «Aber Heidi hatte so viel Spass, dass wir es ihr wieder ermöglichen wollen.»
Es sei doch grossartig, wenn sich junge Leute intensiv für eine Sache einsetzten, meint die Mutter der bald 13-jährigen Milena aus Hauptwil. «Meine Tochter liebt Theaterspielen, und sonst gibt es nicht viele Gelegenheiten. Und wenn, dann kosten die viel Geld.»
Tatsächlich müssen die Kinder bei Florian Rexers Stücken nichts für ihre Ausbildung bezahlen. «Aber sie müssen vollen Einsatz zeigen», so Projektleiter Müller. Ausserdem freut sich das Team, wenn die Eltern beim Projekt mithelfen, sei es an der Abendkasse, beim Plakate-Aufhängen oder beim Schminken.
Die Aufführungen
Die Premiere findet am Mittwoch, 20. Dezember 2023, in Amriswil statt. Im 1. Quartal 2024 sind Auftritte in Frauenfeld, Sirnach und Weinfelden geplant.
Von Inka Grabowsky
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