von Maria Schorpp, 06.08.2021
Eine emanzipierte Wirtin
Bei den Schlossfestspielen in Hagenwil kann sich die Titelheldin in Carlo Goldonis „Mirandolina“ ganz schön über die Ungerechtigkeit zwischen den Geschlechtern aufregen. Ausserdem ertönt ein Hoch auf den Sommer – allen Widerständen zum Trotz.
Erstaunlich, wie man auf solch einer doch recht kleinen Bühne einen richtigen Pool unterbringen kann. So in der diesjährigen Inszenierung bei den Schlossfestspielen Hagenwil. Vom Publikum aus zunächst gar nicht zu erkennen spritzt plötzlich Wasser auf: Der erste Kandidat ist ins gefüllte Becken gestolpert, dem er anschliessend tropfnass entsteigt. Wäre der aktuelle Sommer ein richtiger, hätte man es bei der Premiere von Carlo Goldonis „Mirandolina“ als Erfrischung schwitzender Mimen sehen können (die Bühne ist übrigens von Peter Affentranger). Wenn von oben jedoch der Regen zu hören ist, wie er auf das aufgespannte Schirmdach über dem Innenhof prasselt, friert es einen beim Zusehen fast mit.
Italien wie aus der Reisebroschüre
Das ist einerseits schade, Sommer ist jedoch andererseits mehr als Wetter. Er steht für Freiheit und Unbeschwertheit – wenn in Pandemiezeiten auch unter Vorbehalt. Auf jeden Fall ist das Ensemble auf der Bühne des Hagenwiler Wasserschlosses um Regisseur und Festspielleiter Florian Rexer entschlossen, so oder so und aktuell erst recht den Sommer zu feiern. Da geht’s im Video zuerst mal im Fiat Topolino gen Süden, und auf der Bühne singen sie eingangs „Felicitá“ von Al Bano und Romina Power. Wir sind in einem Italien, dem Schauplatz der Komödie, wie aus der Reisebroschüre für die nicht mehr ganz Jungen.
„Italien wie aus der Reisebroschüre für die nicht mehr ganz Jungen.“
Maria Schorpp
In Hagenwil ist denn auch eine „Mirandolina“-Fassung zu sehen, die sich mit Retrocharme interpretationsfreudig Textfreiheiten nimmt und sich damit ins Heute vorwagt. Florian Rexer und sein Team haben Goldonis Geist aufgegriffen und aus der feschen Herbergswirtin Mirandolina, die weiss, wie ein Mannsbild funktioniert, eine Frau gemacht, die ihr Wissen für ihre Revolte gegen die Männerwelt einsetzt. Die Spässchen, die sie mit ihren männlichen Gästen treibt, lassen sich durchaus als kleine Rachefeldzüge verstehen. Bigna Körner spielt das wunderbar bodenständig. Ihre Mirandolina im signalroten Petticoat-Kleid ist eine Frau, die als selbständige Unternehmerin erfolgreich ist und sich fragt, warum Männer sich eigentlich so viel einbilden.
Zwei Gecken kreisen um sich selbst
Sie hat allerdings auch einige Paradeexemplare um sich herum. Da ist der Marchese von Forlipopoli, der aus dem letzten Loch pfeift, was ihn nicht daran hindert, sich als grosser Gönner aufzuspielen. Daneben sein nicht weniger protziger Nebenbuhler, der Conte von Albafiorita, der mit Geld um sich schmeisst und meint, er wärs. Falk Döhler und Mischa Löwenberg lassen ihre beiden eitlen Gecken in ihrem Werben um die Wirtin schön um sich selbst kreisen, wobei ihnen Barbara Bernhardt mit ihrem Kostümbild kräftig unter die Arme gegriffen hat. Da schimmert und oszilliert es an den beiden Galanen, ob im Anzug oder Hausmantel.
Nicht nur das kleine weisse Hündchen Couchette, ein aussergewöhnlich geduldiges Exemplar seiner Gattung mit richtigem Namen Paul, erinnert an Lagerfeld und seine Katze Choupette. Mirandolina nimmt sich die mehr oder weniger blaublütigen Machos nicht nur als Bürgerin, sondern auch als emanzipatorisch beseelte Kämpferin zur Brust. Wenn sie sich mit ihrem Sinn für Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern an das Publikum wendet, kann man ihr einfach nicht widersprechen. Wobei Bigna Körner eine wunderbare Ironie an den Tag legt, was ihre Wirtin umso gewinnender macht.
Etwas Federleichtes ist im Spiel
Sehr amüsant auch die beiden Komödiantinnen, die in Hagenwil zu Schauspielstudentinnen geworden sind und durch Ramona Fattini und Sophia Sommer viel zum Spass der Inszenierung beitragen. Da ist etwas so Federleichtes im Spiel des Ensembles, das dem Sommer geschuldet ist und trotzdem in der Lage ist, die eine oder andere gelinde Botschaft zu transportieren. Die diversen Intrigen, mit denen man sich gegenseitig bei der Wirtin ausstechen will, scheitern nicht zuletzt an der Unlust der beiden Schauspielstudentinnen am Lügen. Schauspielern und Vorspiegeln falscher Tatsachen ist eben nicht dasselbe.
„Da ist so etwas Federleichtes im Spiel des Ensembles, das dem Sommer geschuldet ist und trotzdem in der Lage ist, die eine oder andere gelinde Botschaft zu transportieren.“
Maria Schorpp
Ausserdem sind da noch der Kellner Fabrizio von Marcel Zehnder und vor allem der Cavaliere Ripafratta von Sebastian Menges. An letzterem, einem Selfmademan mit Mutterkomplex und deshalb Frauenfeind, demonstriert Mirandolina, wie man – wenn es sein muss – Finten tatsächlich effektiv einsetzt. Gleichzeitig macht sie offensichtlich, was ihre männlichen Gäste allesamt zu viel haben und woran es ihnen mangelt: a. Eitelkeit und b. Selbsterkenntnis. Das ist alles komödiantisch auf die Spitze getrieben, hat aber nichtsdestotrotz eine gewisse Realitätsanbindung.
Jeanine Amacher als Mirandolinas Dienerin Gilda und Luca Zimmermann als Pooljunge Luca vervollständigen das bestens aufgelegte Ensemble, das den weiten Spagat zwischen Spass und Seitenhiebe auf reale Verhältnisse bis zum Schluss durchhält. Der eine oder andere landet in blinder Selbstüberschätzung noch im Wasser. Adriano Celentanos „Azzuro“ gehört das letzte Wort, und somit dem Sommer. Ob mit ihm auch dem Mannsbild, das ist hier sehr die Frage.
Videobeitrag von arttv.ch mit Interview mit Regisseur Florian Rexer
Schlossfestspiele Hagenwil
Weitere Vorstellungen von "Mirandolina" gibt es bis zum 4. September 2021. Karten sind unter www.ticketino.com erhältlich.
Von Maria Schorpp
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