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von Jeremias Heppeler, 31.03.2020

Kritiker vs. Künstler

Kritiker vs. Künstler
Obacht Obacht Band 2020: Louis Wälti, Yannick Streit, Tobias Rüetschi, Luca Harder, Rémy Sax. | © Jana Kohler

Rezension als Gesprächsangebot: Unser Autor hat das neue Album «diorama» der Frauenfelder Band Obacht Obacht besprochen. Und deren Bandleader Tobias Rüetschi bespricht seine Besprechung. Ein Versuch.

Tobias Rüetschi aka Obacht Obacht ist eine Einmannbandmaschine. Er macht alles selbst. Schreiben. Aufnehmen. Promoten. Videos. Merch. Konzept. Erst auf der Bühne wird aus Obacht Obacht die Obacht Obacht-Band, schliesslich hat Rüetschi ja nur zwei Arme. Die neue Platte «diorama» von Obacht Obacht ist ein ziemliches komplexes Ding geworden.

Und weil das mit Plattenbesprechungen meist so abläuft, dass entweder ein Ahnungsloser (sprich: der Kritiker) seine losgelösten Gedanken über die Scheibe stülpt oder ein Eingeweihter (sprich: der Künstler) sich in Interviewform entweder überinszeniert oder im Kreis herum rechtfertigt, haben wir dieses Mal unsere taufrischen Gedanken Bandleader Tobias Rüetschi, der auch Autor bei thurgaukultur.ch ist, direkt zum Frass vorgeworfen. Und er hat kommentiert. In Blau.

Ist das angestaubt oder doch ganz erfrischend?

Das Album beginnt mit einem Intro. Ganz klassisch. Instrumental. Knappe zwei Minuten. In Zeiten der bisindenletztenwinkeldurchdigitalisierung wirkt das ein wenig angestaubt, fast überflüssig. Hören wir Alben denn überhaupt noch in der richtigen, der vorhergesehen Reihenfolge? Oder eben doch nur im kompletten Zufallsmodus? Vorgegeben durch Playlists und Ranglisten? Und während ich diese Überlegungen an- und umdenke starte ich „diorama“ eben genau in diesem konkreten Startblock.

Schlussendlich kann dann jeder selbst entscheiden, wie das Album angehört wird. Streamen ist auch völlig okay. Das Album gehört nun den Hörer*innen, und die meisten von ihnen können und werden wohl auf die ursprüngliche Reihenfolge pfeifen. Aber das ist auch gut so! Frei nach Barthes: die Geburt der Hörer wird mit dem Autorentod bezahlt. Das Konzept hinter dem Album war einfach für mich wichtig, um eine gewisse Kohärenz hinein zu bringen. Ich hoffe natürlich, dass die Songs auch für sich alleine stehen.

Nostalgie trieft aus allen Winkeln

„auge zue“ wirft uns direkt in die Wäschetrommel, wirft die Schleuder an und saugt und Zeitmaschinen-mässig direkt in die 70er Jahre. Nostalgie jedenfalls trieft jetzt aus allen Winkeln, aber es ist gute Nostalgie, grimmige Nostalgie. Nostalgie, die eigentlich keine Nostalgie ist, sondern kratziges Zitieren und Neuanordnen. Es rauscht und raschelt.

Der Opener „auge zue” ist für mich wirklich ziemlich nostalgisch, nostalgisch in dem Sinne dass ich mich mit dem Album von unseren musikalischen Garage-Rock Eskapaden verabschiede um Platz für neue Genre-Experimente zu machen. Es ist somit auch soundmässig eher im Stil des letzten Albums gehalten, um einen sanften Einstieg ins neue Album zu geben.

Nichts hier wirkt verkrampft oder verbissen

Dann „monument“, das gleich abhebt wie ein Heissluftballon. Überhaupt ist es die Leichtigkeit, das Augenzwinkern, der Humor, die die erste Hälfte von „diorama“ so besonders macht. Nichts hier wirkt verkrampft oder verbissen, viel mehr spürt dann die schiere Lust am wegfliegen und rumprobieren, am schrauben und flicken. Eine wunderbare Inkonsequenz, die wir viel zu selten in Gitarrenmusik erleben.

Oh, dann ein Interlude. Und Interludes gibt es meistens nur auf Konzeptalben.

Puh, „in kontakt“ ist der stärkste Song der Platte. Irgendwie trippy, cloudy. Flauschig. Unter Strom. Und doch, zumindest hinterlegt, dann doch wenig grimmig, packend und zupackend. Erstmal Dauerschleife. Musik für klirrende Kälte und flimmernde Hitze.

„ich verdampf“ könnte auf jeden Fall Preise für den besten Songtitel gewinnen. Der Song selbst sticht aus dem Gesamtkollektiv ein wenig heraus, weil er so eindeutige Postpunk-Spuren in sich trägt. Und zwar nicht diese Interpol / Editors-Verweise, sondern direkt in die frühen 80er. Hinterlegt die fast tanzbare Melodie, vordergründig zerkratzt und zerbeult wie ein Auto nach einem Hagelsturm. Extrem dunkeldüster.

Das ist mit das stärkste, was man von der Band bis dato gehört hat

Entsprechend faszinierend fällt dann der Kontrast zu „kalkuier risike“ aus, das beinahe funky durch die Boxen tänzelt, aber dann Obacht Obacht-stilecht auseinanderfährt. Gemeinsam mit „in kontakt“ und „ich verdampf“ ergibt sich hier, gefangen zwischen zwei Interludes, ein extrem dichtes Song-Triumvirat, ein dreiköpfiger Hund, das Herz der Platte und in der Kombination wohl das stärkste, was man bis dahin von Obacht Obacht gehört hat. Weil es gleichzeitig so elegisch verträumt nach hinten schaut, aber eben auch die Gegenwart im Blick hat und das alles vermischt zu etwas explizit neuartigen - alleine durch die Lyrics.

Da hast du ziemlich oft ins Schwarze getroffen mit deinen Annahmen, lieber Jeremias. Ziemlich speziell, den Künstler nach einem direkten Feedback zu einer Kritik zu fragen, aber eigentlich eine gute Idee, dieses Format mal ein wenig aufzufrischen.

Oh, und noch ein Interlude. Ist das wirklich ein Konzeptalbum?

Natürlich ist es ein Konzeptalbum. Ein Album ohne Konzept existiert meiner Meinung nach nicht. Sogar ein Sampler oder eine Compilation hat ein Konzept. Das Album als Medium ist sowieso ziemlich vorbelastet, ein durch und durch kapitalistisches Konzept, erfunden um den Warenfetisch der Massen zu befriedigen. Vor dem Album als physischem Objekt, also in Zeiten der klassischen Musik, waren dies Notenbücher, die veröffentlicht und verkauft wurden, von daher stammt auch noch der Begriff des ‚Publishers‘. Das Konzeptalbum, wie man es heute kennt, sehe ich darum als einen Versuch der Künstler*in, sich dieses Medium vollständig anzueignen. Ironischerweise lohnt es sich heutzutage (aus kapitalistischer Sicht) ja überhaupt nicht mehr, ein Album zu machen. Meiner Meinung nach um so mehr Grund also, wieder Konzeptalben zu machen.


Abgeschlossen wird dieses Album, das wirklich als Album erscheint und auch Album sein will und Album ist, von „morgegraue”, einem Song, der ein wenig vor sich hin plätschert, wie Gespräche um drei Uhr nachts. Eigentlich ist alles gesagt, aber es braucht noch diesen Abschluss, dieses Abschleifen und Abrunden.

Vom Clash zwischen Kunstwerk und Kapitalismus

Im Zeitalter der algorithmisierten Playlists wäre es ja eher schlau, jeden Song einzeln zu veröffentlichen, um die Exposition und auch die Anzahl Klicks zu maximieren. Diesen Clash zwischen künstlerischem Werk und kapitalistischen Systemen, den das Medium Album in sich trägt, will ich ein wenig sichtbar machen, in dem ich ein Album mache, welches eigentlich so konzipiert ist, um es am Stück durchzuhören (und daher besser auf Vinyl, Tape oder auch CD daheim wär), es jedoch nur digital veröffentliche. Dazu kommt, dass ich sowieso ein wenig mit Releaseformaten experimentieren will. Ich hab zur Musik noch eine Website und drei Videos gemacht (www.obachtobacht.net/diorama), die eigentlich dazu gehören. Die Idee ist aber natürlich nicht neu: es gibt auch in meinem Umfeld einige Künstler*innen, die sich von konventionellen Releaseformaten wegbewegen, wie zum Beispiel DAIF, der seine EP Molly und Speed 2019 als Kreditkarte herausgegeben hat. Das finde ich ziemlich spannend und weht bitternötigen frischen Wind in unsere Musikszene.


Das Album: Obacht Obacht „diorama“. Erschienen bei AuGeil Records. Reinhören geht hier:

 

Hinweis: Bandleader Tobias Rüetschi ist auch Korrespondent bei thurgaukultur.ch 
 
 

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