von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter, 19.12.2017
«Die Verdienste der Künstler werden nicht gewürdigt»
In Deutschland haben kürzlich dramatische Zahlen zum Einkommen von Künstlern die Runde gemacht. Demnach liegt das durchschnittliche Einkommen spartenübergreifend bei 12.372 Euro. Im Jahr. Wie ist die Lage in der Schweiz? Nicht viel besser, sagt Alex Meszmer von Visarte, dem Berufsverband der visuell schaffenden Künstlerinnen und Künstler in der Schweiz
Interview: Michael Lünstroth
Herr Meszmer, nach einer neuen Statistik verdienen Künstler in Deutschland dramatisch wenig mit ihrer Kunst. Wie ist die Lage in der Schweiz?
Die Lage sieht in der Schweiz nicht viel besser aus. Suisseculture, der Dachverband der Schweizer Berufsverbände der Kulturschaffenden, hat dazu 2006 und 2016 eine Umfrage erhoben. Laut der Studie von 2016 liegt das Durchschnittseinkommen von Schweizer Kulturschaffenden bei etwa 40'000 Franken und der Wert ist seit 2006 gesunken.
40 000 Franken im Jahr klingt jetzt im Vergleich zu den Zahlen aus Deutschland erstmal nicht so schlecht. Warum kann man davon nicht leben in der Schweiz?
Nun erst einmal sind diese 40'000 Franken das Gesamteinkommen im Durchschnitt, also Einkommen, dass Kulturschaffende aus ihrer künstlerischen Tätigkeit plus zusätzliche Erwerbsquellen erreichen. Es gibt nur sehr wenige Kulturschaffende, die ‚nur’ aus den Einkünften ihres künstlerischen Engagements leben können. Die Regel ist, dass man/frau einen bis mehrere Zusatzjobs hat. Betrachten wir das Gesamteinkommen der Künstler und vergleichen es mit dem Schweizer Durchschnittseinkommen, das 2016 bei 59'000 Franken lag, so sieht man, dass der Durchschnitt der Schweizer Künstler nur zweidrittel davon erreichen können. Und das nur mit zusätzlichen Jobs. In diesem Fall muss man von einer prekären Situation sprechen. Aber um auf ihre Frage, warum man davon nicht leben kann in der Schweiz zurückzukommen: Das ist grundsätzlich schon wenig Geld und dazu kommt, dass Mieten, Lebenshaltungskosten, Material, Dienstleistungen in der Schweiz teurer als im benachbarten Ausland sind.
Das heisst, Künstlerinnen und Künstler arbeiten heute im Prinzip an der Armutsgrenze.
Vielleicht zum Vergleich: die Armutsgrenze in der Schweiz lag 2016 bei 27'000 Franken, in Deutschland bei 10’700 Euro. Nach der Definition der EU gilt als arm, wer über weniger als 60 Prozent des mittleren gesellschaftlichen Einkommens verfügt, das wären eigentlich 35'400 Franken in der Schweiz – wir bewegen uns in einem Bereich, in dem es sehr schnell prekär wird.
Sind bestimmte Sparten besonders betroffen? Welchen Künstlerinnen und Künstlern geht es besonders schlecht?
Es gibt Unterschiede in den verschiedenen Sparten. Bei den Musikern, Schauspielern und Tänzern liegt der Prozentsatz, die ein Einkommen von über 24'675 Franken erreichen bei 48 Prozent und mehr. Aber für Musiker, Schauspieler und Tänzer gibt es auch Festanstellungen. Im Prinzip sind alle Freischaffenden betroffen, spartenübergreifend, wobei bildende Kunst und Literatur, vielleicht noch die Fotografie, das sind die wirklich armen Künstler. Betrachten wir die Bildende Kunst genauer: Etwa 21 Prozent der befragten bildenden Künstlerinnen und Künstler erreichen ein Durchschnittseinkommen von 24'675 Franken (und mehr), 43 Prozent erreichen ein Einkommen über 10'000 Franken - zu denen zählen die 21 Prozent von vorhin dazu. Dies bedeutet vor allem auch, dass Künstlerinnen und Künstler sehr viel mehr arbeiten müssen, um mit ihrer Arbeit ein Einkommen zu erzielen. Und das bedeutet auch, dass Künstlerinnen und Künstler für Notlagen oder für die Zeit im Alter nicht gewappnet sind, da sie nicht vorsorgen können.
Stehen auch in der Schweiz Künstlerinnen schlechter da als Künstler?
Der Unterschied ist laut Umfrage interessanterweise nicht so gross. 70 Prozent der Männer sind hauptberuflich Künstler, 52 Prozent erzielen ein BVG relevantes Einkommen. Bei den Frauen ist das Verhältnis Haupterwerb zu Einkommen 62 Prozent zu 43 Prozent. Die wahren Unterschiede lassen sich aus dieser Statistik nicht herauslesen. Studien aus Grossbritannien und Deutschland zeigen jedoch, dass Künstlerinnen finanziell deutlich schlechter gestellt sind.
"Wir sind ja keine Prostituierten, die sich jeden Tag auf der Strasse feilbieten.": Alex Meszmer im Gespräch mit Thurgaukultur.ch über Künstlereinkommen und die Frage, ob sich Künstler zu schlecht verkaufen. Bild: Sascha Erni
Direkt gefragt: Warum verdienen Künstler so wenig?
Weil sie nicht darüber sprechen oder besser: weil sie nicht darüber sprechen dürfen. Wir hören von exorbitanten Summen, die Schauspieler oder Musiker für renommierte Auftritte oder Verträge bekommen oder lesen über Millionen, die für Kunstwerke in Auktionen bezahlt werden – das prägt die Vorstellung von Kunst und das prägt auch die Vorstellung vom Leben als Künstler. Isabelle Graw beschreibt in ihrem Buch "Der grosse Preis", Künstlerinnen und Künstler als die Vorbilder der neoliberalen Gesellschaft: kreativ, frei und sozial nicht abgesichert – und jeder Manager eifere dem nach.
Wieso wird darüber nicht gesprochen?
Darüber zu sprechen, wie die eigene finanzielle Situation wirklich aussieht, das ist ein Tabu. Künstler müssen heutzutage erfolgreich sein. Es will niemand hören, dass es einer Künstlerin schlecht geht. Ich habe den Eindruck, dass noch sehr häufig die Einstellung anzutreffen ist, dass der oder die selber schuld sei, wenn es einem schlecht geht und mann/frau ja auch hätte etwas Ordentliches lernen können. Aber ich nehme Sie jetzt einmal beim Wort, denn ich finde, verdienen ist metaphorisch interessant: Warum verdienen Künstler so wenig? Weil sie einer Gesellschaft so wenig wert sind!
Sie sagen: Künstler müssten eigentlich mehr verdienen. Warum?
Zuerst einmal braucht es überhaupt so etwas wie Mindeststandards, denn die gibt es so gut wie nicht. Als der irische Künstlerverband vor etwa fünfzehn Jahren begann Umfragen zur finanziellen Situation von Künstlern zu machen, waren die Verbandsvertreter selber über die Ergebnisse überrascht, denn so schlecht hatten sie sich die Situation nicht vorgestellt. Es ist auch heute noch oft so, dass von der Putzfrau bis zur Aufsicht, vom Caterer, über den Vernissageredner, die Techniker für den Aufbau, die Grafiker, die die Einladungskarte machen – alle werden für ihre Leistungen und vor allem für ihre Arbeit bezahlt. Die Künstler nicht. Wie oft habe ich den Satz schon gehört: „Wenn wir Künstlern eine Ausstellung in unserem Museum / unserer Kunsthalle ermöglichen, erhöhen wir die Aufmerksamkeit für ihr Werk, das sie dann besser verkaufen können. Deswegen bezahlen wir den Künstlern kein Honorar.“ Es scheint dabei keinen zu stören, dass ohne die künstlerische Arbeit alle anderen Tätigkeiten nicht möglich wären. Die Verdienste der Künstlerinnen und Künstler werden nicht gewürdigt, sonst wären jegliche Diskussionen über Honorare obsolet.
Liegt der geringe Verdienst vielleicht auch daran, dass sich Künstler zu schlecht verkaufen?
Was meinen Sie mit schlecht verkaufen? Wir sind ja keine Prostituierten, die sich jeden Tag auf der Strasse feilbieten. Ich habe in den letzten zehn Jahren viele Argumente gehört – es gäbe zu viele Künstler, es gäbe zu viel Kunst, es gäbe zu wenig gute Künstler und natürlich auch immer wieder das mit dem schlecht verkaufen – letztendlich kann man das drehen und wenden wie man will. Das Kunstumfeld ist ein Haifischbecken und es ist äusserst kompetitiv. Isabelle Graw zieht nicht umsonst die Parallele zum Neoliberalismus, denn in der Kunst und auch in weiten Bereichen der Kultur sehen wir uns den Vorgaben des neoliberalen Markts unterworfen. Die Künstler waren seit dem Moment davon betroffen, als sie sich entschlossen, autonom von Auftraggebern zu sein, also mit Beginn der Moderne. Dazu kommt, dass sich der Kunstmarkt in den letzten Jahren radikal verändert hat. Inzwischen trifft es auch die Galerien und die Kuratoren. Wenn wir nur auf die ART Basel blicken, sehen wir die Spitze des Eisbergs. Dort wird ‚Bluechip-Art’ gehandelt – Kunst die als wertsteigerndes Element angesehen und wie Aktien gehandelt wird. Das hat nichts mit Qualität zu tun, da geht es nur um sichere Werte. Neuerungen kommen dort nicht vor, denn Experimente verunsichern den Markt und es gibt dort auch keine spannende Kunst.
Müssten Kulturschaffende selbstbewusster mit ihren Talenten auftreten, um auf dem Markt zu bestehen?
Das sind die Argumente neoliberaler Governance: Selbstbewusstsein als Credo, um besser zu arbeiten, schöner zu werden und natürlich: sich selbst am besten zu verkaufen! Wir Künstler schlagen uns damit schon sehr lange herum. Der erste, der öffentlich darüber sprach war Chris Dercon in einem Interview mit dem Monopol Magazin 2010. Er wies auf die Prekarisierung der Kulturschaffenden hin, die sich von Projekt zu Projekt mit temporären Jobs durchkämpfen. Es sind aber nicht nur die Künstler, Kuratoren, Kulturmanager, sondern auch Designer, IT Fachleute und andere Branchen, in denen die Arbeit vermehrt in temporäre Projekte aufgeteilt wird. Das führt dann zu temporären Anstellungen ohne soziale Absicherung. Was Gewerkschaften in den letzten 150 Jahren hart erkämpft haben, wird gerade allenthalben fröhlich abgeschafft. Vielleicht ist deshalb auch so bemerkenswert, welche Veränderungen bei den Künstlerverbänden vor sich gehen. Das Berufsbild Künstler und die damit verbundenen Schwierigkeiten stehen mehr und mehr im Mittelpunkt und neben Dienstleistungen und politischer Lobbyarbeit steht bei den Verbänden verstärkt die Frage nach sozialer Sicherheit im Vordergrund. Wenn wir Künstlerinnen und Künstler, wie Isabel Graw das in ihrem Buch konstatiert, das Vorbild für die neoliberale Arbeitswelt sind, dann können wir das auch ändern! Umfragen und Studien, die die prekäre finanzielle Situation der Kulturschaffenden klarstellen und die paying artists campaign sind ein erster Schritt dazu.
Was steckt hinter dieser Kampagne?
In Schweden wurde 2009 ein entsprechendes Gesetz verabschiedet und immer mehr europäische Künstlerverbände schliessen sich der paying artists campaign an, die schlicht verlangt, dass staatlich geförderte Kunstinstitutionen Künstlern Honorare bezahlen. Die visarte Schweiz hat sich der Kampagne auch angeschlossen und wir haben 2016 eine Leitlinie zur Vergütung von Leistungen Bildender Künstlerinnen und Künstler herausgegeben. Das ist erst der Anfang, denn es sind nicht nur die Ausstellungsmacher und die Vertreter aus der Kulturförderung, die es zu überzeugen gilt, sondern durchaus auch die Künstler selbst.
Bei der Arbeit: Alex Meszmer (links) kämpft nicht nur im Verband Visarte für Künstler, er ist auch selbst künstlerisch tätig. Das Bild zeigt ihn mit Reno Müller in ihrem Transitorische Museum in Pfyn. Bild: Michael Lünstroth
Was könnte man sonst an der Situation ändern?
Eine wichtige Stellschraube ist die staatliche und private Kulturförderung. Kulturförderung ist eine Investition in die Zukunft. Grossbritannien hatte ein erfolgreiches Image als Cool Britannia. Der Kultursektor blühte, als 2008 die Regierung Cameron übernahm und die Kulturförderung bis zur Unkenntlichkeit zusammenstrich. Dieser massive Einschnitt wird durch den Brexit noch verstärkt werden, denn viele Kulturinitiativen konnten nur durch den intensiven internationalen Austausch – und damit die Möglichkeit auf andere Fördertöpfe zugreifen zu können – und durch EU Gelder überleben. Das ist eine weitere Stellschraube: der internationale Austausch ist fundamental für Künstlerinnen und Künstler. Der Thurgau und die Schweiz sind zu klein, um als Künstler zu überleben. Deswegen ist der Beitritt der Schweiz zum EU Kulturprogramm so wichtig – auch wenn das kaum einer hören will. Auf den Markt ist kein Verlass. Die ART Basel mag jedes Jahr Verkaufserfolge feiern – den Künstlerinnen und Künstlern hilft das nicht, denn sie haben davon so gut wie nichts. Selbst die grossen Namen nicht, nebenbei gesagt, weil der Bundesrat und das Schweizer Parlament die Einführung des Folgerechts nicht für nötig halten. Die Verkaufserfolge kommen nur dem Kunsthandel zugute. Künstler teilen da das Los der Produzenten, wie zum Beispiel Bauern, und haben nichts von den grossen Gewinnen. Die Wertschöpfung in Kultur und Kunst ist sehr gross. Wir sind es gewohnt aus wenig viel zu machen und bescheiden zu leben. Einsparungen im Kulturbereich gehen sofort ans Eingemachte und verschärfen die Situation, weil das Wenige, das es gibt, so wichtig ist. Sparen macht alles kaputt.
Was kann jeder Einzelne - Künstler wie Publikum - tun, um etwas zu verändern?
Die Künstler? Weiterarbeiten! Das Publikum? Kunst kaufen! In Kunst und Künstler investieren! Wann haben Sie das letzte Mal ein Kunstwerk gekauft? Ich meine nicht ein Massendruck von IKEA oder eine Reproduktion aus einer Postergalerie, sondern ein Original von einer/m professionellen Künstler/in?
Das ist schon eine Weile her.
Sehen Sie. Das ist etwas, das jeder tun kann. Auch Galerien freuen sich, wenn sie bei Ausstellungen Kunst verkaufen – so hilft das Publikum mit, dass es weiterhin Galerien geben wird. Man kann seine Wohnung dekorieren oder man kann sie mit Kunst aufwerten. Dekoration ist für den Moment und wird dann weggeworfen. Kunstwerke machen jeden Tag Freude und bleiben einem ein Leben lang erhalten.
Weiterlesen: Mehr zu den Zahlen aus Deutschland gibt es hier
Was macht eigentlich Visarte?
visarte ist der Berufsverband visuelle Kunst der Schweiz und hat etwa 2500 aktive Mitglieder. Der Verband feierte 2016 sein 150-jähriges Jubiläum und setzt sich ein für die Interessen der Künstlerinnen und Künstler und seit 2016 auch Kuratorinnen und Kuratoren in der Schweiz. Die visarte Schweiz hat 18 Regionalgruppen, die sich auf regionaler Ebene für Kunst und Künstler engagieren und die visarte ist Mitglied bei verschiedenen nationalen und internationalen Verbänden und Netzwerken. Im Internet: http://www.visarte.ch
Alex Meszmer war 2004 bis 2010 Vorstandsmitglied der visarteost und ist seit 2007 Mitglied des Zentralvorstands der visarte Schweiz. Er betreut die Ressorts Kommunikation, Publikation und internationale Beziehungen. In seiner Funktion als Vertreter der Schweizer Künstler ist er seit 2012 Vorstandsmitglied und seit 2015 Vizepräsident von Culture Action Europe, dem grössten Kulturnetzwerk Europas, das die Interessen des Kultursektors in Brüssel vertritt.
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