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von Jeremias Heppeler, 14.11.2019

Verloren in Buenos Aires

Verloren in Buenos Aires
David Nägeli aka Daif in seinem Atelier in Buenos Aires | © Jeremias Heppeler

Der Frauenfelder Künstler David Nägeli lebt seit einigen Monaten mit einem Atelierstipendium in der argentinischen Metropole. Unser Korrespondent Jeremias Heppeler hat ihn dort besucht. Eine Geschichte über das Verloren-Sein in der Fremde und die Frage, ob Kunst Sinn macht, wenn Gesellschaften implodieren.

Da sitzen wir jetzt also, mitten in La Boca, Buenos Aires. Am anderen Ende der Welt. David Nägeli aka Daif, der hier ein halbes Jahr mit Atelierstipendium lebt, hat Kaffee aufgebraut und führt in bester MTV-Cribs-Manier durch Casa Suiza, seinem temporären Zuhause. Drei Ateliers für drei Künstler. Ein offener Salon. Eine Dachterrasse. Riesig! Einige Tage später werde ich das ausgeklügelte Alarmsystem auslösen, ein Polizeieinsatz kann nur knapp verhindert werden. So ganz ohne ist es nicht in La Boca, der  Heimatwurzel der weltberühmten Boca Juniors, jenem von italienischen Zuwanderern geprägten Hafenviertel.

Es liegt fernab der Hochglanzstrassen der Stadt, wo sich Bar an Bar reiht, wo man sich den Bauch mit Hochglanzsteaks und blutroten Hochglanzwein vollschlagen kann. Und doch hat die Gentrifizierung auch hier schon ihre gold-beringten Finger ausgestreckt, zahlreiche Galerien haben sich angesiedelt, die wenige Meter entfernten Usina del Arte ist ein Blockbusterkulturzentrum wie es im Buche steht.

„Es fühlt sich irgendwie auch scheisse an, wenn man in diesem mega-fetten Kolonialhaus sitzt und das Gefühl hat, drumherum fängt die Welt an zu brennen.”

David Nägeli aka Daif

Später essen wir bei Emilio. Emilio ist so ein Typ, für den man einst den Begriff «Original» erfunden hat.  Ein Allesundjedenkenner. Das Herz und Gedächtnis des Quartiers. Besitzer des letzten Club Social der Stadt. Längst hat er sich an die im Halbjahrestakt wechselnden Schweizer gewohnt, mit seiner herzlichen Art verankert er sie in La Boca, dort wo sich nur selten Touristen hin verirren. Früher war es hier anders, erzählt Emilio. «Jeder hat jeden gekannt, man hat sich abends auf der Strasse getroffen. Gegrillt. Musik gemacht. Aber die Zeiten ändern sich eben.»

Er klingt nostalgisch, aber nicht verbittert. In seinem Restaurant, das auf den ersten Blick und nach unseren verqueren mitteleuropäischen Standards ein wenig herunter gekommen scheint, hängt ein Aquarellportrait vom Chef persönlich, stilecht am Holzkohlegrill - gemalt von der Thurgauer Künstlerin Carole Isler. Das Essen ist im Übrigen fantastisch. Heute gibt es Hähnchenschnitzel überbacken mit Pizzabelag, ein wildes Mashup, das Argentinien aber irgendwie punktgenau beschreibt. Das archaische Fleisch als Grundlage, darauf andockend die traditionellen Einflüsse der Zuwanderer.

Emilio. Ein Typ, für den man einst den Begriff "Original" erfunden hat. Bild: Jeremias Heppeler

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Isolationsbewältigung: Daif hat schon zwei EPs aufgenommen

Zu Beginn seines Aufenthaltes hat Daif sich schwer getan mit diesem Land. Es fehlte an Sprache und damit an gegenseitigen Verständnis. Dazu die permanenten Sicherheitswarnungen.  Also hatte er sich eingeschlossen, im Atelier dieses immensen Kolonialismus-Tempels, wo er ein Mini-Studio installierte, wo der Greenscreen für Videodrehs in Fetzen von den Wänden hängt  und urtypisch für ihn kurzerhand zwei Eps aufgenommen.

Die erste heisst "Geister und Ruuschgift" und erschien Anfang November und das Gefühl der anfänglichen Isolation ist beinahe körperlich zu spüren. Mittlerweile spricht der Rapper spanisch und Argentinien erschliesst sich ihm Stück für Stück, wie einem Computerspiel, in welchem man die unterschiedlichen Level freispielen muss.

Für die Argentinier geht es gerade um alles

Mein eigener Aufenthalt in Argentinien fällt in eine politisch bewegte, ja mit Hochspannung aufgeladene Zeit, eingeklammert in die Wahlen in der Schweiz und die Wahlen in Argentinien. Während Daif mich durch die Stadt führt, während wir Empanadas essen und Dosenbier trinken, beginnt der gesamte südamerikanische Kontinent zu brodeln. In Chile herrscht Ausnahmezustand. Und während wir tiefenentspannt auf das miserable Wahlergebnis der SVP anstossen, geht es für die Argentinier um alles. Um das Elementarste.

Wir sprechen mit Manuel, selbst Künstler, der mit seinem Kollektiv eine nahe gelegene Galerie betreibt über die anstehenden Wahlen. Er beschreibt eine massive, eine allgegenwärtige Traurigkeit, die sich in den vergangenen Jahren über das argentinische Volk gelegt habe. Präsident Mauricio Macri hat das Land sprichwörtlich an den Abgrund geführt. Die Staatsschulden sind horrend, ein Drittel der Argentinier lebt unter der Armutsgrenze. Und sehnt sich mit allem Sehnen nach Wandel. Doch der ist nicht einfach: Seit der peronistische Gegenkandidat Alberto Ángel Fernández und die ehemalige Präsidentin Cristina Kirchner, die als Vize kandidiert, bei dem Vorwahlen klar in Front lag, scheint die Inflation kaum noch aufzuhalten. Und überhaupt: Ob es mit den Peronisten definitiv besser werden wird, scheint mehr als fraglich.*

Sackgassen jedenfalls, wohin das Auge reicht. Und mittendrin Daif, der sich selbst und seine Situation als "huere privilegiert" bezeichnet. Der sich fragt, ob es überhaupt einen Zweck hat, hier als Schweizer Künstler Kunst zu schaffen.

Die eigenen Ängsten und die Sprachlosigkeit der Argentinier

“Es fühlt sich irgendwie auch scheisse an, wenn man in diesem mega fetten Kolonialhaus sitzt und das Gefühl hat, drumherum fängt die Welt an zu brennen.” Teilweise habe er sich regelrecht geschämt für seine Rolle. Aber was kann man, was kann er dagegen tun? "Im Endeffekt kann ich doch nur Songs schreiben?"Und ja, vermutlich ist genau das der Grund, warum es sinnvoll ist, Künstler um die Welt zu schicken. Weil es dir den Kopf verdreht und dabei auf neue Blickwinkel, weil es deine eigene Rolle umstellt, dich zum Beobachter und Flaneur macht, dich aufkratzt und anfixt. Und das hat nichts mit blosser Inspiration zu tun, sondern mit konsequenten und anhaltenden Hinterfragen des eigenen Ichs.

Daif ist hier nur zu Teilen ein Tourist, er muss hier leben. Ihn treibt es durch die Mühlen des Landes, ihn konfrontiert es mit der eigenen Sprachlosigkeit, mit den eigenen Ängsten, aber auch mit der Sprachlosigkeit der Argentinier. Also muss man irgendwie Worte finden. Gemeinsame. Eigene. Also muss man zum Chronisten werden, zum Spiegelbild und Spiegelhochhalter.

„Ich finde es für mich eigentlich unerträglich, Touristin zu sein.“

Jessica Jurassica, Autorin

So wie Jessica Jurassica. Die allzeit mit Sturmmaske auftretende Heimatliteratin aus dem Appenzell hat mit Daif das Kollektiv dieyungenhurendothiv gegründet und eine Spoken Noise Tour durch die Schweiz gespielt. Teile des zugehörigen Videos drehten die beiden Künstler in Buenos Aires und man hat das Gefühl, dass Jessica Jurassicas Ankunft die Dynamik für Daif veränderte.

Jessica Jurassica schreibt Blogbeiträge auf TripAdvisor

Die gemeinsamen Reiseerlebnisse hat sie in Blogartikeln auf TripAdvisor greifbar gemacht. Während die Plattform eigentlich als soziales Netzwerk und digitale Bewertungsplattform fungiert, auf der sich Touristen über zu kaltes Essen und überlaufene Strände beschweren, installiert die Autorin genau hier ihr persönliches Spiegelkabinett, welches das eigene Dasein als Tourist und Beobachter konsequent (de)fragmentiert.

Sie sagt: “Ich finde es für mich eigentlich unerträglich, Touristin zu sein.” Sie schreibt: “Denn diese Flussmündung bietet nicht nur eine Heimat für die eine oder andere seltene, bald ausgestorbene Delfinart, sondern auch für das eine oder andere kathartische Moment. Sie vereint nicht nur Süss- mit Salzwasser, sondern versöhnt jene, die an seinen Ufern sitzen und raus aufs Wasser schauen, mit der eigenen urmenschlichen Traurigkeit. Vielleicht wird der Rìo de la Plata ja eines Tages tatsächlich silbern sein, wenn man ihm hin und wieder eine Träne schenkt.” 

Wenn das Restaurant „Bodensee“ zum Sehnsuchtsort wird

An einem Abend essen wir im Restaurant “Bodensee”, gegründet von deutschen Einwanderern zwischen den Weltkriegen. Wir sind eher zufällig darüber gestolpert, auf Google Maps und dann hat es uns beinahe magisch angezogen, dieses vermeintliche Stück Heimat, das uns verbindet: Thurgau, Konstanz, Appenzell, Buenos Aires. Und dann sitzen wir da und essen Kässpätzle, Schupfnudeln und Currywurst aus einem alternativen Universum.

Die Rezepte haben sich mit den Jahren und Jahrzehnten zersetzt, in Bruchstücke und Spuren, bis kaum etwas übrig blieb ausser die Namen und der Geist. Anstatt in Chimichurri tunken wir das Weissbrot in Senf. Von den Wänden grüsst Helmut Rahn. Und Jessica Jurassica sagt: “Manchmal denke ich, ich wäre lieber daheim geblieben. Dort gibt es auch Spannungen, aber dort habe ich wenigstens meinen legitimen Platz.”

*Am Ende gewinnen die Peronisten knapp. Der scheidende Präsident Macri lädt seinen Nachfolger auf ein Essen ein. Die Menschen tanzen auf der Strasse. Der grosse Knall bleibt (zumindest zunächst) aus.

Weiterlesen: Wie andere Thurgauer Künstlerinnen und Künstler wie Sarah Hugentobler (Belgrad) und Niculin Janett (New York City) ihr Atelierstipendium erlebt haben, können Sie in dem Text «Raus aus der Enge, rein ins Leben» nachlesen
 
 

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