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von János Stefan Buchwardt, 03.09.2018

Verneigung vor Helen Dahm

Verneigung vor Helen Dahm
Spätromantische Radierungen, die Druckgrafiken der 1910er-Jahre, die Zeit des Expressionismus bis hin zum Faschismus – mit Helen Dahm kann man eine Kunstgeschichte der Moderne nachzeichnen. – «Mohn», 1911, Öl auf Leinwand, 68 × 88,5 cm, Privatbesitz, | © SIK-ISEA, Zürich

Mit dem Titel «Helen Dahm – Ein Kuss der ganzen Welt» präsentiert das Kunstmuseum Thurgau eine reich bestückte Werk-Retrospektive, deren Dauer bis weit in den nächsten Sommer reichen wird. Die dazugehörige Schau des Helen Dahm Museums in Oetwil am See widmet sich der Biografie der Künstlerin und ausgewählten Selbstporträts.

Die 1878 in Kreuzlingen geborene Helen Dahm hat eigenwillig gelebt, geliebt und gearbeitet. Was sie grenzgängerisch und bahnbrechend angestossen und hinterlassen hat, gehört zu den Pioniertaten der Schweizer Moderne. Dass man den Hut längst nicht weit genug vor ihr gezogen hat, beweist die angelaufene umfassende Rückschau des Kunstmuseums Thurgau in Kooperation mit dem Helen Dahm Museum in Oetwil am See. Dort, auf der vom oberen Zürichsee abgewandten Seite des Pfannenstiels,lebte die Künstlerin fast fünf Jahrzehnte. Im dortigen Museum ist die Würdigung anlässlich ihres fünfzigsten Todestags mit dem Titel «Ich – Selbst – Helen Dahm» überschrieben.

Der Thurgauer Titel «Ein Kuss der ganzen Welt» geht auf Dahm selbst zurück, die die Worte im Jahr 1954 am Ende ihrer Rede anlässlich der Verleihung des Kunstpreises der Stadt Zürich im Mund führte. Sie war die erste Frau überhaupt, die damit prominent ausgezeichnet wurde. Bedeutende Reminiszenzen erfuhr sie 1953 im Zürcher Helmhaus und 1963 im Kunsthaus Zürich. Zurück zum Kanton Thurgau: Im grossen Stil hatte sich hier zuletzt die Kuratorin Elisabeth Grossmann für Helen Dahm stark gemacht. Jahrzehnte später und mit zweijähriger Vorbereitungszeit zeichnet nun Stefanie Hoch mit überbordendem Engagement und ansteckender Begeisterung für die ausserordentliche Präsentation verantwortlich.

Helen Dahm bewegte sich im Umkreis des Blauen Reiters. Sie gilt als Mystikerin der Blumenbilder und experimentierfreudige Tachistin. Sie war malende Gottsucherin ebenso wie eine bedeutende Landschaftsmalerin des Zürcher Oberlandes und frühe Indienreisende. – Ausschnitt aus «Selbstporträt als Malerin», 1927, Öl auf Leinwand, 73 x 64 cm,
Helen Dahm bewegte sich im Umkreis des Blauen Reiters. Sie gilt als Mystikerin der Blumenbilder und experimentierfreudige Tachistin. Sie war malende Gottsucherin ebenso wie eine bedeutende Landschaftsmalerin des Zürcher Oberlandes und frühe Indienreisende. – Ausschnitt aus «Selbstporträt als Malerin», 1927, Öl auf Leinwand, 73 x 64 cm, Kunstmuseum Thurgau

Eine Superkünstlerin

Sobald man sich fragt, an welchen Exponentinnen und Exponenten sich die Vorstellung eines Thurgauischen Kunstschaffens herauskristallisieren sollte, wird es unabdingbar, Dahm – etwa neben den Malern Adolf Dietrich und Carl Roesch – zu nennen. Mindestens seit den 1970er-Jahren gilt sie als eine der zentralen Künstlerpersönlichkeiten des Kantons. An ihrer Person lassen sich Vorstellungen von Frauenbewegung, Spiritualität und abstrakter Formensprache festmachen. Und genau das ist im Thurgau selbst gut möglich: Die hauseigene Sammlung des Kunstmuseums sei mit rund 170 Arbeiten gut bestückt. Stolz spricht der Museumsdirektor Markus Landert von Spitzenwerken und Spezialdingen auch in Randbereichen wie den frühen grafischen Blättern.

Mit einem blossen Knicks unsererseits und seitens der Künstlerin ist es also nicht getan. «Ein Kuss der ganzen Welt» ist beeindruckende Geste und geschickt gewählter Titel zugleich. Eine Art Vermächtnis, das weit über Einheimisches und Regionales hinausgreifen will. Dahms Gesamtwerk ist grosser Wurf und hat in der Tat das Zeug, Millionen zu umschlingen, um aus Schillers Ode «An die Freude» zu zitieren. Sie hat geraucht, sich in Liebesdingen nicht um Männer geschert. Sie entscheidet sich für ein Landleben im Zürcher Oberland. Auf ihrer spirituellen Suche nach dem Elysischen im Irdischen trifft sie zeitlebens rigorose Entscheidungen. Nicht zuletzt aus Liebeskummer verkauft sie ihren Besitz und reist nach Indien. Noch in hohem Alter misst sie sich an der Modernität der Kunstströmungen der Nachkriegszeit.

Originalton Dahm: «Ich fange jeden Tag an, als wäre es der erste und zugleich der letzte. Das ist die grosse Spannung zwischen Geburt und Tod, ist die Verantwortung über unser Leben, ist die Polarität, der grosse Rhythmus.» Fotoausschnitt: Helen Dahm mit Seifenblasen, undatiert,
Originalton Dahm: «Ich fange jeden Tag an, als wäre es der erste und zugleich der letzte. Das ist die grosse Spannung zwischen Geburt und Tod, ist die Verantwortung über unser Leben, ist die Polarität, der grosse Rhythmus.» Fotoausschnitt: Helen Dahm mit Seifenblasen, undatiert, Fotograf unbekannt,Nachlass Regula Witzig, Oetwil am See

Unglaublich experimentell

Es gibt durchaus viele Materialien und Publikationen über die 1968 im Männedorfer Spital verstorbene Malerin, Grafikerin, Zeichnerin und Objektkünstlerin. Trotzdem noch Neues über Dahm herauszufinden, war erklärtes Ziel eines ganzen Projektteams. So zeigt das (im Verlag Scheidegger & Spiess) begleitend erschienene und sorgfältig gestaltete Ausstellungsbuch etwa nie gesehene Leihgaben. Verdienstvoll ist es auch, Dahm für einmal auch in den jeweiligen Kontext der Zeit gestellt und Bezüge zu Zeitgenossen wie Arnold Böcklin, Paul Klee oder Paula Modersohn-Becker herausgearbeitet zu haben. Da die Künstlerin nie bei einem Stil stehengeblieben ist, lässt sich mit ihr quasi eine Kunstgeschichte der Moderne nachzeichnen.

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Zweifellos gehört Helen Dahm zu den unermüdlichsten und kreativsten Künstlerfiguren der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Noch in ihrer letzten Lebensphase macht sie sich gemeinsam mit ihrer Zeitgenossenschaft auf die Suche nach extremen Formen des malerischen Ausdrucks und bringt so die Malerei für sich gewissermassen an einen Endpunkt. Die Ausstellung im Kunstmuseum erstreckt sich über fünf Räume, in denen nach Themenkreisen bestimmte Motive genauer beleuchtet werden. Im Korridor folgt man einer biografischen Linie, von der Zeit in Kreuzlingen bis hin zu den abstrakten Werken der späten Jahre. Selbst- und Frauenbilder nehmen für sich ein, mystische Landschaftsdarstellungen und Lichtgestalten faszinieren. Auch begegnet man eindrucksvollen kunstgewerblichen Arbeiten, mit denen Dahm nicht unmassgeblich ihren Lebensunterhalt bestritt.

Fotoausschnitt: Helen Dahm mit einer ihrer Katzen, 1955/56, Foto: Emil Spühler, Zürich, Nachlass Regula Witzig, Oetwil am See

 

Ausschnitt aus «Rosen in weisser Schale», um 1930, Öl auf Leinwand, 80 x 74 cm, Kunstmuseum Thurgau

 

Helen Dahm, ohne Titel, undatiert, 55 x 42 cm, ungerahmt, Privatbesitz

 

Ausstellungsdauer

Termine: Die Ausstellung ist bis zum 25. August 2019 im Kunstmuseum Thurgau zu sehen. Die Öffnungszeiten:  Bis 30. September: Montag bis Sonntag, 11 – 18 Uhr; 1. Oktober bis 30. April: Montag bis Freitag, 14 – 17 Uhr sowie Samstag und Sonntage, 11 – 17 Uhr.

 

Weiterlesen: Ein ausführliches Interview mit der Kuratorin Stefanie Hoch über Leben und Schaffen von Helen Dahm, eine Tonaufnahme von Helen Dahm sowie viele weitere Bilder aus ihrem Werk finden Sie hier: https://www.thurgaukultur.ch/magazin/die-pionierin-3716  

 

  

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