von Anabel Roque Rodríguez, 27.10.2022
Was die Kunst mit uns macht
Die diesjährige Jungkunst Winterthur gibt sich eher unpolitisch. Die Malerei steht im Vordergrund. Gesellschaftskritik und Selbstreflexion finden dennoch ihren Platz. Die Werke junge Schweizer Kunstschaffender sind noch bis Sonntag, 30. Oktober, in der Halle 53 in Winterthur zu sehen. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)
Die Jungkunst, das ist vor allem viel ehrenamtliches Engagement. Um genau zu sein kommen in diesem Jahr 2000 ehrenamtliche Stunden für die Organisation der Ausstellung zusammen, erklärt Andrina Keller, die Teil des Kuratoriums ist.
Überhaupt wird schnell klar, wie viel Arbeit hinter den vier Tagen (die Schau ist vom 27. bis 30. Oktober zu sehen) steckt: «In diesem Jahr haben wir 340 Bewerbungen gesichtet und 24 ausgewählt.
Bewerbungen gingen aus der gesamten Schweiz und aus den Grenzgebieten ein. Bedingung ist, dass die Künstler:in in der Schweiz geboren oder hier lebend sein muss. Wir haben schliesslich im zweiten Schritt die Studios besucht. Das klingt nach viel Aufwand, aber uns liegt der Austausch mit den Künstler:innen am Herzen. Es ist auch wirklich schön, dass wir Sprachgrenzen überwinden konnten», gibt Andrina Keller einen Einblick.
Gesellschaftskritik ja, aber nicht unbedingt eine politische Schau
Geht man durch die grosse Halle, begegnen einem einige gesellschaftskritische Themen: Da sind zum Beispiel die grossen stark saturierten Fotografien von Zoé Aubry. Die einzelnen Aufnahmen erinnern an Himmel, rufen durch ihre Farbigkeit Gefühle hervor und man erkennt, dass sie aus einer Vielzahl an Einzelblättern bestehen.
Die vermeintliche Schönheit wird schnell in Trümmer zerschlagen, wenn man den Kontext der Arbeiten erfährt: Die Künstlerin beschäftigt sich seit Jahren mit der medialen Darstellung von Femiziden, also der Tötung von Frauen und Mädchen aufgrund ihres Geschlechts. Es sind feministische Reflexionen, aber auch Einblicke in die Art und Weise der Berichterstattung.
Von sensationsgeilen Medien
Bei den Arbeiten auf der diesjährigen Jungkunst geht es im Speziellen um den Mord an einer Mexikanerin, die von ihrem Ehemann im Februar 2020 getötet wurde.
Um den von den Medien sensationsgeil inszenierten Bildern der Frauenleiche etwas entgegenzusetzen, kreierte eine Twitter-Userin den Hashtag #IngridEscamillaVargas unter dem «schönere Bilder» geteilt werden sollten. Die Installation zeigt eine Auswahl dieser «schöneren Motive» und lenkt zugleich den Blick auf die Verantwortung von Medien in ihrer Berichterstattung insbesondere bei Morden aufgrund des Geschlechts.
Die Installation und Performance der in Israel geborenen und in Bern lebenden Künstlerin Aviv Szaba zeigt inspiriert von ihren eigenen gelebten Erfahrungen Einblicke in das Thema Migration.
Die Installation zeigt eine hängende Schweizer Flagge, darunter befindet sich ein Weg begrenzt mit Absperrbändern und Pfosten, wie er gerne in Behörden oder am Flughafen genutzt wird. Sofort wird die Assoziation an das Zusammenkommen von Menschen aus unterschiedlichen Kontexten ermöglicht.
Was bedeutet Identität in Zeiten der Globalisierung?
Von hinten zeigt sich dann, dass die Flagge aus unzähligen Waschetiketten aus Kleidungsstücken besteht.
Der Eindruck hinterlässt Fragen: Wie sieht Identität in Zeiten von Globalisierung aus? Welche Spuren hinterlassen zufällige Begegnungen in Wartebereichen? Wie sehr teilt man Gemeinsamkeiten mit Menschen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben?
Neben diesen Themen finden sich auch Werke zu territorialen Grenzen, queeren Bildwelten und Reflexionen mit dem Umgang von Medien und Technologie auf der Jungkunst. Es sind aktuelle und wichtige Themen, aber sie betreffen eben nur einen Teil der Arbeiten.
Die 16. Ausgabe der Jungkunst ist keine explizit politische Schau. Im Gegenteil beim Rundgang fällt auf, dass viel Malerei gezeigt wird und es immer wieder um formale Fragen, wie die Innovation des Mediums geht.
Mal kurz die Geschichte der abstrakten Malerei betrachten
Isabelle Fritz zeigt abstrakte Malerei im Zusammenspiel mit aufblasbaren Objekten. Ihre Bilder spielen mit den Elementen des Mediums: Farbe, Fläche und Dimensionalität, die sie auch manchmal durch das Anbringen von Gitterstrukturen in Relation setzt oder bricht.
In ihrem Interview im Jungkunst-Katalog spricht sie darüber, wie der Einsatz von unterschiedlichen Medien ihr Verhältnis zur Malerei reflektiert und es eben sein könne, dass ein aufblasbares Objekt dabei mit einem Augenzwinkern, die Geschichte der abstrakten Malerei betrachte.
Grenzen des Mediums ausloten
Auch Luc Isenschmid lotet in seinen Arbeiten Grenzen aus. Bei ihm steht die Übersetzungsleistung von einem Medium (Performance oder Bewegung), in ein anderes (Digital oder in Zeichnung) auf Papier im Vordergrund. Es entstehen so interessante Dialoge und Fragen zu Perspektive, Raum und dem Verhältnis zwischen dem Analogen und der Digitalisierung.
Die Arbeiten von Trix Brechbühl reihen sich ein in das Ausloten der Grenzen ihres Mediums: analoge Druckverfahren und ihre Vorliebe für die Farbe Schwarz. Gerade bei analogen Techniken steht der Prozess stärker im Vordergrund, da hier das Handwerk entscheidend ist und vermeintliche Fehler zum nicht steuerbaren Prozess gehören.
Ihre Formen sind ein Einblick in verschiedene Techniken, die Einbeziehung von gescannten Objekten und digitaler Bearbeitungen, aber auch ein Abschweifen in weitere Techniken wie Siebdruck oder Zeichnung.
Überraschende Arbeiten mit klugen Konzepten
Gerade Arbeiten, die gesellschaftskritische Kommentare machen, können daran scheitern, ohne das erläuternde Konzept als eigenständige künstlerische Arbeit zu schwach zu sein.
Auch dieses Jahr zeigt sich bei einigen Arbeiten, dass das Konzept zu pädagogisch ist, die Ausarbeitung zu flach für ihre Brisanz scheint oder das Medium nicht zur Botschaft passen will. Aber das ist völlig in Ordnung, denn es braucht Experimentierorte an denen gezeigt werden darf, dass Kunstschaffen selbst ein Prozess ist.
Einblicke in den Alltag des Kunstbetriebs
Gerade in diesem Kontext reflektiert Rahel Zaugg über ihre Rolle als Konzeptkünstlerin und was bleibt, wenn Arbeiten nicht ausgeführt werden. Ihre Serie «Die Auswahl» zeigt Zu- oder Absagen der Künstlerin auf Ausschreibungen und thematisiert so künstlerische Praxis als Beruf.
Denn das Verständnis, dass Kunst eine Berufung ist führt leider häufig zu ausbeuterischen Praktiken bei denen die Kunstschaffenden am Ende weder Honorar noch die ominös versprochene «exposure» (Sichtbarkeit) erhalten.
Kunst als Beruf profitiert von Einblicken in Bewerbungsmodalitäten, dem gesunden Umgang mit Zu- und Absagen oder davon Honorare transparent zu machen, um so den Prozess zu entmystifizieren.
Monster als rebellische Begleiter
Die Züricher Künstlerin Cecily Walti alias Gigax erinnert in ihrer Ästhetik etwas an Streetart, was vielleicht auch am genutzten Kartonuntergrund liegt. Ihre Motive sind wie Wimmelbilder in denen Monster, Gnome und bizarre Wesen auftauchen: mal zähnefletschend mit rausgestreckter Zunge, mal mit langen Krallen. Furchteinflössend sind sie in ihrer bunten Farbwelt aber eigentlich nie, im Gegenteil eigentlich möchte man gerne mehr erfahren über ihre Abenteuer, darüber wer sie sind und was sie machen.
Es könnten Illustrationen moderner Märchen sein, die vom Kapitalismus erzählen. Oder auch darüber was Kunstschaffende oft vermeintlich aushalten müssen. Die Monster sind für die Künstlerin geschlechtslos und eher sowas wie rebellische Begleiter und vielleicht auch Talismane für die Schrecken der Welt.
Augenzwinkern und Humor
Überhaupt ist ein bisschen Augenzwinkern ein guter Weg Geschichten anders zu erzählen und so in Erinnerung zu bleiben. Die Bernerin Alizé Rose-May Monod arbeitet mit queer-feministischen Inhalten.
In der ausgestellten Serie «Oups» zeigt sie auf rund bespannten Rahmen Textilien mit verschiedenen Elementen wie Katzen, Tennisschläger, eine Warnweste, die zu Alltagsmomenten und Geschichten aus der Pandemiesituation gehören.
Das Auflösen funktioniert entweder im Dialog oder man schafft als Betrachter:in einen Zugang zur Erzählung. Interessant an der Serie ist das Subtile: hier eine Kritik an Privilegien, dort ein Einblick in die Unerträglichkeit des Banalen und an anderer Stelle queere Lebensfreude.
Wie man junge Künstler:innen unterstützen kann
Die Jungkunst lädt zum Entdecken ein, hat überraschende Momente und bietet mit der Fülle an Rahmenprogramm auf jeden Fall ein Event für verschiedene Generationen. Wer die jungen Schweizer Künstler:innen unterstützen möchte: Die Werke aller Kunstschaffenden können übrigens auch erworben werden. Eine Tat, die für die jungen Ausstellenden Motivation und notwendige Finanzierung bedeutet.
Die Öffnungszeiten & das neue Kinderprogramm
Die Jungkunst Winterthur ist noch bis Sonntag, 30. Oktober, in der Halle 53 geöffnet. Die Öffnungszeiten:
Do 27. Oktober: 16 bis 24 Uhr
Fr 28. Oktober: 16 bis 24 Uhr
Sa 29. Oktober: 11 bis 24 Uhr
So 30. Oktober 2022: 11 bis 18 Uhr
Neu gibt es zusätzlich auch ein kostenloses Kinderprogramm bei der Jungkunst: Die Kinder-Tour für 5- bis 12-jährige ist ein öffentliches, einstündiges Programm mit der Kunstvermittlerin Elisa Bruder. Die Kinder bewegen sich am Samstag- und Sonntagnachmittag (13 und 14.30 Uhr) spielerisch durch die Ausstellung, gehen gemeinsam auf Entdeckungsreise und kommen so mit der Kunst in Berührung. Zudem gibt es auch eine interaktive Schnitzeljagd durch die Halle für Kinder jeden Alters. Gleichzeitig finden auch reguläre
Kunstführungen (für die Erwachsenen) statt. Weitere Infos und Uhrzeiten findet man hier:
Die Auswahl der Künstler:innen
Jeweils im Februar schreibt das Festival einen Open Call aus. Die Auswahl der Eingaben findet danach in zwei Stufen statt: Zuerst werden alle eingegangenen Portfolios vom Kurationsteam evaluiert und in einer zweiten Runde geht das Team auf Atelierbesuche durch die ganze Schweiz und wählt dann die aus ihrer Sicht 20 bis 25 vielversprechendsten Jungkünstler:innen für die nächste Ausgabe aus.
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