von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter, 30.09.2020
Wozu Kulturpolitik?
Kultur ist nicht alles, aber ohne Kultur ist alles nichts: Warum Städte und Gemeinden heute ein grosses Interesse an aktiver Kulturpolitik haben müssen. Und wie die ganze Gesellschaft davon profitiert.
Eigentlich ist die Sache ganz einfach: Wer am Sinn von Kultur und Kulturpolitik zweifelt, der muss nur zweimal ein beliebiges Jugendtheater-Projekt besuchen. Einmal am Anfang, einmal am Ende. Oft liegen Monate dazwischen, aber was in dieser Zeit passiert, ist essentiell für unsere Gesellschaft. Weil die jungen Menschen dort lernen, sich auseinanderzusetzen. Mit Themen, Menschen, Herausforderungen. Weil viele hier oft zum ersten Mal so etwas wie Anerkennung erfahren und für sich neue Horizonte entdecken.
Wer dann, beim zweiten Besuch, erkennt, wie die jungen Menschen durch das Ausprobieren von Rollen, das Austesten von dem, was möglich sein könnte und in der Auseinandersetzung mit Themen innerlich gewachsen sind, der wird den Wert von kultureller Bildung nie wieder geringschätzen.
Und das ist nur eine von drei Ebenen auf der Kultur und Kulturpolitik wirken. Wenn man so will, könnte man dies die individuelle Ebene nennen. Also jene Ebene, in der kulturelle Bildung zur Menschwerdung jedes Einzelnen beitragen kann. Kulturpolitik macht solche Projekte wie die des Kinder- und Jugendtheater erst möglich, in dem sie in so etwas wie einem Kulturkonzept definiert, welche inhaltliche Ausrichtung eine städtischen Kulturpolitik mit all ihren Schwerpunkten haben soll und wie das kulturelle Profil einer Stadt aussehen soll.
Wie Stadt und Gemeinschaft von Kultur profitieren
Die beiden anderen Ebenen haben eine über das Individuum hinausgehende gemeinschaftliche Wirkung: Kultur als Motor der Stadtentwicklung und Kultur als Ort, an dem gesellschaftliche Diskurse ermöglicht werden und Fortschritt verhandelt wird. Also jener Ort, an dem man gemeinhin darüber spricht, in welcher Gesellschaft wir eigentlich leben wollen.
Starten wir mit dem Kapitel „Kultur & Stadtentwicklung“: Die Unesco hat das Thema vor zwei Jahren erkannt und einen 300-seitigen Bericht über die Kultur als Faktor für die Entwicklung von Städten erarbeitet. Eine der Lehren daraus: «Kultur ist die DNA einer Stadt. Kulturelles Erbe trifft hier auf zeitgenössische Kunst und Kultur. Zusammen sind sie der Herzschlag urbaner Weiterentwicklung und Innovation. In Städten kommen Menschen zusammen, um sich auszutauschen, Neues zu kreieren und produktiv zu sein. Städte sind Treiber menschlicher Entwicklung. Kultur muss deshalb integraler Bestandteil von Stadtentwicklungsstrategien sein, um urbane Räume nachhaltig zu entwickeln und ihren Einwohnern eine bessere Lebensqualität zu ermöglichen», forderte damals Karin von Welck, Vorstandsmitglied der Deutschen UNESCO-Kommission, in einer Medienmitteilung. Ziel solle es sein, den Menschen in den Mittelpunkt aller planerischen Überlegungen zu stellen.
Städte sollten von sich aus ein hohes Eigeninteresse an einer solchen Politik haben. Denn: Städte mit einem pulsierenden Kulturleben werden in allen Rankings immer als besonders lebenswerte und attraktive Städte wahrgenommen. Wer im Wettbewerb der Städte und im Ringen um kluge Köpfe für Unternehmen und Verwaltung vor Ort vorne dabei sein will, der braucht eine gute Kultur-Infrastruktur mit der er punkten kann. Weiche Standortfaktoren nennen Ökonomen das. Dabei sind sie viel mehr: Wer will schon in einer Stadt leben, in der nichts los ist? Eben.
Was man von Brecht und Schiller auch heute noch lernen kann
Weniger konkret, aber nicht weniger wichtig ist eine andere Aufgabe, die Kultur für die Gesellschaft übernimmt: Die Ermöglichung des Selbstgesprächs der Gesellschaft darüber, wie wir eigentlich miteinander leben wollen und welche Werte uns wichtig sind. Künstlerinnen und Künstler verarbeiten aktuelle und gesellschaftlich relevante Themen in ihrer Arbeit. Durch ihre Herangehensweise eröffnen sie oft neue Perspektiven auf scheinbar altbekannte Themen.
Zwei Beispiele: Jede neue Aufführung eines Brecht-Klassikers kann uns dazu veranlassen, über den gesellschaftlichen Umgang mit Ungerechtigkeit neu nachzudenken. Jede neue Aufführung von Schiller oder Shakespeare kann dabei helfen, Machtfragen neu zu debattieren. Dazu kommen zeitgenössische AutorInnen und KünstlerInnen, die auf alte Fragen vielleicht ganz neue Antworten finden - jenseits der Klassiker. Oder ganz neue Fragen unserer Zeit überhaupt erst aufwerfen. All das eröffnet letztlich das gesellschaftliche Gespräch aufs Neue, es ermöglicht Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Wie genau das ausgestaltet wird, ist Aufgabe der Kulturvermittlung. Aber die Leitplanken dafür kann Kulturpolitik im Zusammenspiel mit den Kulturinstitutionen setzen.
Die hehren Ziele der Kulturpolitik
Es gilt die inhaltliche Kunstfreiheit, das heisst die Kulturinstitutionen bestimmen autonom ihr Programm. Wenn aber im Betrieb etwas strukturell schiefläuft, wenn Bilanzen aus dem Ruder laufen oder MitarbeiterInnen unzufrieden sind, muss Kulturpolitik so nah am Betrieb sein, dass sie entweder direkt eingreifen kann oder zumindest aus eigener Anschauung die Lage beurteilen kann, ohne auf Aussagen Dritter angewiesen zu sein.
Was Kulturpolitik manchmal so schwierig macht, ist, dass sie sich im Spannungsfeld von Staat, Markt und Gesellschaft bewegt. Wesentliche Anspruchsgruppen für KulturpolitikerInnen sind KünstlerInnen, die Kulturinstitutionen und die Bevölkerung, also das potenzielle Publikum. Interessen sind da nicht immer deckungsgleich, Kulturpolitik braucht oft langen Atem.
Allgemeine Ziele von Kulturpolitik sind Bildung, Kunstförderung, Ermöglichung von gesellschaftlicher Teilhabe und Integration. Zentrale Aufgabe von Kulturpolitik ist es zunächst, Kunst und Kultur zu fördern und zu ermöglichen. Es geht darum, infrastrukturelle Grundlagen für Kulturbetriebe, aber auch für Künstlerinnen und Künstler zu sichern und kulturfreundliche Rahmenbedingungen in Politik und Gesellschaft zu schaffen.
Warum Kulturförderung ein so schwieriges Geschäft ist
Wichtigstes Instrument für Kulturpolitiker ist das der Kulturförderung. Es gibt unterschiedliche Modelle, unterschiedliche Ansätze. Als Grundsatz mag gelten: Kulturpolitik soll Projekte subventionieren, die die BürgerInnen zu üblichen Marktpreisen kaum nachfragen würden. Daraus ergibt sich auch der Bildungsauftrag, den geförderte Kulturinstitutionen übernehmen.
Daraus zu schliessen, dass nur gefördert werden kann, was eigentlich niemanden interessiert, wäre falsch. Kluge Kulturpolitik hält Nischen am Leben, verkriecht sich aber nicht in ihnen. Ohnehin ist das Feld von förderungswürdige Kultur in den letzten Jahrzehnten immer unübersichtlicher geworden. Der Kulturbegriff ist im Wandel. Der lange Zeit reflexhaft betonte Unterschied zwischen ernsthafter und unterhaltender Kultur, ist so heute kaum noch aufrechtzuerhalten. Im besten Fall sind Kulturprojekte heute ernsthaft und unterhaltsam. Auch Hochkultur und Populärkultur kann man heute nicht mehr so einfach trennen. In beiden Feldern gibt es spannende, innovative Projekte ebenso wie es langweilige und überholte Ansätze gibt.
Immer wichtiger: Nischenkultur und Populärkultur gemeinsam denken
Deshalb sollte Kulturpolitik immer beides im Blick haben: Nischenkultur und Populärkultur. Subventionsgerechtigkeit ist ein Schlagwort in dieser Debatte. Es meint, dass nicht nur Besucher einer bestimmten kulturellen Sparte in den Genuss staatlich vergünstigter Tickets kommt. Die Spielarten von Kultur sind so vielfältig und divers, wie es ihr Publikum ist. Kulturförderung muss das berücksichtigen, will sie kein Akzeptanzproblem bekommen.
Was heisst das nun alles unterm Strich? Aktive Kulturpolitik hat ein großes Potenzial unser Leben besser zu machen. In drei Schritten: Kulturelle Bildung stärkt den Einzelnen, ein pulsierendes Kulturleben stärkt Stadt und Region und der über Kultur ermöglichte Diskurs stärkt Gemeinschaft und Gesellschaft und macht Fortschritt erst möglich. Es sollte im Interesse eines jeden politischen Akteurs sein, dazu einen Teil beizutragen.
Wie der Text entstanden ist
Diesen Text gäbe es in dieser Form und vor allem gerade jetzt nicht, wenn nicht die SPD Konstanz unseren Redaktionsleiter Michael Lünstroth gefragt hätte, was Kulturpolitik heute eigentlich soll und warum kluge Kulturpolitik wichtig ist. Die Genossen hatten offenbar länger nach einem verständlichen Beitrag zu diesem Thema gesucht - und keinen gefunden. Dieser Text ist Lünstroths Antwort auf die von der SPD aufgeworfene Frage. Falls ihr euch nun fragt, weshalb der Ortsverein einer deutschen Partei, den Redaktionsleiter eines Schweizer Kulturportals um Rat fragt, dann ist das schnell erklärt: Vor seinem Engagement bei thurgaukultur.ch war Michael Lünstroth zehn Jahre lang Lokalredaktor in Konstanz. Die Kontakte haben bis heute gehalten und so entstand die erneute Verbindung. Ein Honorar gab es für den Text von der SPD nicht, der Beitrag entstand allein aus der Überzeugung, dass das Thema wichtig ist.
Weitere Beiträge von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter
- Konstanz, wir müssen reden! (26.05.2023)
- Die verlorene Ehre eines Bauern (25.05.2023)
- Zehnmal Zeit für Entdeckungen (17.05.2023)
- Wie wir uns weiter entwickelt haben (01.05.2023)
- Das 127-Millionen-Paket (02.05.2023)
Kommt vor in diesen Ressorts
- Kulturpolitik
Kommt vor in diesen Interessen
- Essay
- Kulturförderung
- Kulturvermittlung
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