von Inka Grabowsky, 10.09.2019
Der Schelm 2.0
Peter Höner vollendet mit dem Roman „HG Neunzehn. Der wunderbare Ausflug des Salvador Patrick Fischer in die analoge Welt“ ein vor Jahrzehnten begonnenes Projekt. Er fabuliert sich durch diverse Wirklichkeiten.
„Eigentlich wollte ich einen klassischen Schelmenroman schreiben“, erklärt der Schriftsteller aus Iselisberg. „Ein naiver Protagonist sollte in die Welt ziehen und Abenteuer erleben, die ihn prägen und ihm als Ich-Erzähler Gelegenheit geben, die Wirklichkeit kritisch zu überzeichnen. Dann habe ich überlegt, wie eine solche Figur heute aussieht, und bin auf den Computer-Nerd gekommen.“ Sein Salvador Patrick Fischer hat gerade die Matura geschafft und vertreibt sich die Zeit bis zum Informatik-Studium in der virtuellen Welt. In der Sicherheit seines Jugendzimmers lebt er ein Leben „in jeder nur denkbaren Wirklichkeit.“ Seine Freunde sind das Smartphone Herbert, seine Instagram-Persona Salfie19 und die virtuelle Honey16. „Auf den Kopf gefallen ist er nicht“, charakterisiert ihn sein Schöpfer, „aber zwischenmenschliche Beziehungen sind ihm völlig fremd.“
Seine immerhin real existierende Mutter ist besorgt um ihn, erntet aber nur Verachtung. In dieser Situation bekommt er über einen online-Chat die Einladung von einem ihm unbekannten HG19, sich einem Abenteuer im analogen Alltag zu stellen: „mein lieber. geh nach frankreich, besuche château-verjean-les-deux-églises. entdecke die welt und berichte darüber. abfahrt: zürich hb: 09.32, gleis 32.“ HG19 hat alles minutiös durchgeplant und reagiert scheinbar spontan auf jeden Fortschritt, den Salvador macht.
Aus eigener Erfahrung und mit Recherchehelfern
„Ich habe vor zwanzig Jahren das Thema Computerspiel entdeckt“, erzählt Peter Höner. „Damals hat mich das Strategiespiel Caesar III fasziniert. Man selbst war Gouverneur und musste die Umwelt der Figuren des Spiels gestalten. Mal jammerten sie, mal waren sie zufrieden – jedenfalls sagten sie in jeder Situation etwas Passendes. Ich bin nie ganz dahintergekommen, wie das programmiert wurde. Als mir die Zeit fehlte, habe mit dem Spielen aufgehört. Doch anlässlich des Romans habe ich mich jetzt wieder damit auseinandergesetzt.“ Hilfreich zur Seite stand ihm dabei Jermaine Jerome, der erwachsene Sohn seiner Lebensgefährtin Michèle Minelli, der gern Online-Abenteuer spielt. Deshalb ist ihm der Roman gewidmet.
Viele Interpretationsmöglichkeiten
Die analoge Welt, die Salvador Patrick Fischer entdecken soll, ist verwirrend. Und das nicht nur, weil HG19 als allwissender Regisseur unerklärlicherweise die Fäden zieht. Der Protagonist träumt, gerät durch einen Joint auf einen seltsamen Trip oder stolpert in künstlerische Video-Installationen. Seine Wirklichkeit ist nur in wenigen Szenen eindeutig. „War ich jemals wirklich wach“ ist der erste Teil überschrieben, und viele der 15 Szenen – auch die erotischen - lassen vermuten, dass sich das gesamte Erleben ausschliesslich im Kopf des Protagonisten abspielt. Der zweite Teil, der sich unter dem Titel „Zwischen Herzstillstand und Hirntod“ dem Sterben widmet, wirkt dagegen realistisch und wird linear erzählt. Vor dem Eintritt ins Jenseits müssen die Verstorbenen aller Religionen durch Sicherheitskontrollen, wie wir sie von Flugplätzen kennen. Das ist zwar keine romantische Vorstellung, bietet aber Gelegenheit für viel Satire. (Ein Romancier mag sich nicht von seinen Büchern trennen und verleibt sie sich buchstäblich ein, um sie mitzunehmen.) Züge führen ins Inferno, in Strafkolonien, nach Niflheim oder Folkvangr. Hier erst versteht der Schelm seinen faustischen Auftrag: herausfinden, was die Welt im Innersten zusammenhält.
Den Bericht darüber soll er im Himmel abliefern. Auch hier geht es erstaunlich irdisch zu. Peter Höner stellt sich sogar vor, dass die göttlichen Tribünen vom Thurgauer Temporär-Bauten Spezialisten Nüssli aus Hüttwilen errichtet wurden. Der Fall aus den Wolken am Ende des dritten Teils mit dem Namen „61 vor HG Neunzehn“ könnte das Erwachen aus einem skurrilen Albtraum markieren, ein «Game Over» oder eine Transition auf ein neues Level. „Das sind alles mögliche Lesarten“, sagt der Autor. „Die Leser sind aufgefordert, sich selbst einen Reim darauf zu machen.
Christliche und andere Bezüge
Natürlich fällt der Name des Protagonisten auf. „Salvador“ - also der Retter, der Heiland – heissen hierzulande nicht viele Menschen. „Ebenso wie bei seinem Nachnamen Fischer in Anspielungen auf ‚Menschenfischer‘ wollte ich meine Figur in der christlichen Welt ansiedeln, auch wenn sie selbst überhaupt kein religiöses Wissen mitbringt. Den Rufnamen Patrick habe ich gewählt, weil das ein gängiger normaler Name ist.“ Salvador zeigt sich im Laufe der Lektüre allerdings eher als ein Odysseus als ein Jesus. Er ist ein Spielball der Götter. „Ich habe das in Erwägung gezogen, aber dann doch beschlossen, dass der Name Odysseus ein Spoiler wäre. Er macht die Interpretation zu eindeutig.“ Anspielungen im Text gibt es trotzdem: Eine junge Frau im Schloss gemahnt den umherirrenden Salvador explizit an Circe.
Vollendet nach 20 Jahren
Peter Höners Arbeit wurde durch die Kulturstiftung des Kantons Thurgau per Entscheid des Stiftungsrats aus dem Herbst 2018 mit 7000 Franken unterstützt. Dass Höner das Geld bekommt, obwohl er selbst Mitglied des Stiftungsrats ist, liegt am Zeitpunkt seiner Gesuchstellung: Erst seit dem 1. Januar 2019 gilt, dass Stiftungsräte keine eigenen Gesuche mehr einreichen dürfen.
„Das hat mir ermöglicht, den Roman endlich fertig zu schreiben. 1998 habe ich damit angefangen – und einige Passagen sind auch wirklich so alt.“ Das Projekt war lange liegen geblieben, bis Michèle Minelli ihn ermunterte, es fertigzustellen. «Dann habe ich endlich die Szenen im Jenseits geschrieben und sehr viel Spass daran gehabt.“ Die Endfassung mit ihren nur 190 Seiten ist auf die Essenz zusammengekürzt. „Anfänglich war noch viel mehr Novalis drin, weil mich der Dichter mit seiner Vorstellungswelt sehr geprägt hat.“ Ganz raus ist der Romantiker nicht: Sein Zitat „Lernt den Sinn des Todes fassen und das Wort des Lebens finden“ setzt den Grundton des Romans. Nun bedient sich Höner gleichermassen auch bei Brecht, lässt sich von Dantes Inferno inspirieren oder spielt mit Märchenmotiven. Je belesener der Rezipient, desto mehr Freude wird er daran haben.
Layout und Lesungen von Höner selbst
Ein Teil des Romans, die Erzählung „Die indische Prinzessin“, ist 1998 bereits in der Edition Howeg veröffentlicht worden. Dementsprechend hat Peter Höner dort nun auch „HG Neunzehn“ herausgebracht. „Das hatte auch den Vorteil, dass ich das Buch mitgestalten durfte. Ich habe mir eine blaue Fadenheftung gewünscht und sogar das Layout gemacht – und war überrascht, wie aufwändig das war.“ Das Cover hat Manuela Müller illustriert. Wer nicht nur den haptischen Genuss möchte, kann sich das Buch – oder andere Werke von Höner – persönlich vorlesen lassen. Der Autor und Schauspieler hat das Angebot von privaten Sofa-Lesungen lanciert. Pro Zuhörer zahlt man 25 Franken. „Ich komme auch für eine Person, wenn ich die Zeit habe. Es lohnt sich immer, mit seinen Lesern in Kontakt zu kommen.“
Buchpremiere ist am 12. September ab 19.30 Uhr im Cabaret Voltaire in Zürich, Eintritt frei. Am 30.Oktober liest Peter Höner in Steckborn aus dem neuen Roman. Den Autor buchen: Termin für die Sofa-Lesungen gibt es über doodle: https://doodle.com/poll/n562yrqy8tgiqa5w
Peter Höner
HG NEUNZEHN
Der sonderbare Ausflug
des Salvador Patrick Fischer in die analoge Welt
220 Seiten 120 x 170 mm, broschiert, offene Fadenheftung
Umschlaggestaltung Manuela Müller
CHF 30.-
ISBN 978-3-85736-332-0
Von Inka Grabowsky
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