von Markus Schär, 27.09.2018
Die Jäger der Thurgauer Schätze
Nach den Sommerferien bezogen sie schöne neue Büros. Die Thurgauer Archäologen geniessen im Kanton und auch weltweit eine hohe Wertschätzung – das verdienen sie sich seit einem Vierteljahrhundert.
«So ein Tempel!», schwärmt Urs Leuzinger. «Ich habe noch nie in einem Büro mit elektrischen Storen und indirekter Beleuchtung gearbeitet.» Nach den Sommerferien zogen die Archäologen, die von Staates wegen im Dreck wühlen, nach Jahren in einem beengten Provisorium in das neue Verwaltungsgebäude an der Frauenfelder Schlossmühlestrasse ein. Noch sind die Räume blank, wo auch Jahrtausende alte Keramikscherben oder Knochensplitter aus dem Schlamm untersucht werden sollen. Nur auf dem Znünitisch liegen die Krümel eines Kuchens: Eine Frau brachte ihn vorbei, als Dank für die Dokumentation zu einer verpassten Führung, die ihr das Amt kundenfreundlich geliefert hatte.
In diesem gemäss den Architekten «in vieler Hinsicht zukunftsweisenden Bürogebäude» findet sich nur die Steuerverwaltung – standesgemäss in den oberen Stockwerken – neben dem Amt für Archäologie. Der Thurgau weiss sein reiches Erbe aus der Vorzeit noch zu schätzen. «Wir sind schweizweit das letzte Amt für Archäologie», sagt der Chef, Hansjörg Brem. «Alle anderen sind nur noch Abteilungen.»
Auch über die finanziellen Vorgaben kann er verwaltungs-untypisch nicht klagen. Der Anteil der Archäologie am Kulturbudget, früher ein Viertel, hat sich zwar aufgrund des Ausbaus der Kulturförderung auf 12 Prozent halbiert. «Es ist Ehrensache, dass wir mit dem Geld auskommen», hält Hansjörg Brem aber fest. «Ich sage meinen Leuten immer: Das sind die Rahmenbedingungen – wir machen das Optimum daraus.»
Als Mediengeile preisen sie Sensationsfunde an
Den Goodwill, den sie im Kanton geniessen, haben sich Hansjörg Brem, 58, und Urs Leuzinger, 52, seit einem Vierteljahrhundert verdient. Einerseits pflegen sie auch als Nicht-Thurgauer respektvoll sein reiches Erbe. Hier fanden sich seit 1862 im «Pfahlbauer-Fieber» einige der international bedeutendsten Siedlungen. Ja, der legendäre Konservator Karl Keller-Tarnuzzer (1891–1973), der sich im sparsamen Kanton mangels Lohn als Versicherungsinspektor durchbringen musste, gab dank seinen Grabungen mit polnischen Internierten im Zweiten Weltkrieg gar der Pfyner Kultur den wissenschaftlichen Namen.
Anderseits sorgen die Archäologen von heute immer wieder für Aufsehen, vom «Sensationsfund» eines Silberschatzes im Tägermoos (Südkurier) bis hin zu «Stonehenge am Bodensee» (Focus), den «mysteriösen Steinhügeln» im Wasser zwischen Bottighofen und Romanshorn. Und sie wissen ihre Erfolge als «mediengeile Lärmibrüeder» (Selbsteinschätzung) zu verkaufen.
Bilderstrecke: Was alles im Thurgau gefunden wurde
Der Eine macht Wissenschaft aus Geissebölleli
«Ich wusste nicht, wie die Hauptstadt des Kantons heisst, als ich in den Thurgau kam», grinst Urs Leuzinger. Der Abkömmling einer Glarner Familie, der in Basel aufwuchs und die Schulen bis zum Doktorat durchlief, konnte sich als Altsteinzeitler auch nur knapp erinnern, «dass es mal Pfahlbauer gab», als man ihm 1993 eine Aushilfsstelle bei den Ausgrabungen in Arbon anbot. Was die Jungforscher «im verseichtesten Sommer des Jahrhunderts» unter meterdickem Lehm hervorholten, erwies sich aber als Glücksfall: ein Pfahlbauerdorf aus dem 34. Jahrhundert vor Christus, nur fünfzehn Jahre bewohnt, doch im nassen Boden bestens erhalten. «Die Geissebölleli», schwärmt Urs Leuzinger, «stanken noch nach Scheisse.»
Für die Auswertung der Schätze aus der Zeit, als Ötzi lebte, zog der Anfänger Spezialisten aus aller Welt bei. Und sie kamen gerne nach Arbon, um die einzigartigen Funde von Speiseabfällen bis hin zum Kuhfladen zu analysieren. Einen grossen Teil der wissenschaftlichen Dokumentation, gut tausend Seiten in drei Bänden, schuf Urs Leuzinger aber selber, und dies innert zehn Jahren, immer als Aushilfe angestellt. Was er vorlegte, findet heute noch weltweit Beachtung: «Arbon-Bleiche 3 ist eine never ending story. Inzwischen gibt es mehr Sekundär- und Tertiärliteratur darüber als unsere eigenen Arbeiten – ich korrespondiere auch mit Universitäten in Israel und den USA.»
Der Andere weicht den Fettnäpfchen aus
«Mit Leuzi war es Liebe auf den ersten Blick», scherzt sein Mitstreiter Hansjörg Brem. (Beide Archäologen, wohlgemerkt, sind verheiratet, beide mit Archäologinnen.) Der heutige Amtschef kam 1996 als Adjunkt in den Thurgau, aufgewachsen in Thalwil am Zürichsee, aber immerhin mit einer Mutter aus Weinfelden, mit Erfahrung beim Graben in Pfyn und mit Grundkenntnissen der Kantonshauptstadt. Und zusammen bilden die beiden Archäologen – in fetteren Jahren bekannt als Dick und Doof – seither ein Traumpaar.
Urs Leuzinger, der im vorläufig letzten Meisterleibchen des FC Basel am Tisch sitzt, legt nach einer Stunde Gespräch (von insgesamt drei) Wert auf die Feststellung, dass er noch keine einzige Fussball-Metapher gebraucht habe. Und dann braucht er gleich eine: «Er ist der Clubpräsident», meint er zu seinem «perfekten Amtschef». «Ich bin der Goalgetter.» Das heisst: Urs Leuzinger, der nebenbei als Privatdozent an der Universität Innsbruck lehrt, macht weiter mit an der Forschungsfront. Hansjörg Brem, als SP-Mitglied auch mit politischer Erfahrung, hält seinem Kollegen wie dem ganzen Team den Rücken frei, indem er intern Fettnäpfchen des Verwaltungsbetriebs vermeidet und extern Auseinandersetzungen mit Grundbesitzern oder Anwohnern vorbeugt: «Ich habe in den letzten zehn Jahren als Amtschef nie eine negative Rückmeldung zu Mitarbeitern bekommen» – zumindest, wie er lächelnd präzisiert, «von ausserhalb der Verwaltung.»
Bilderstrecke: Wo in den vergangenen Jahren gegraben wurde
Eine Multikulti-Truppe stiftet im Thurgau Identität
Vor allem «steht die Multikulti-Truppe immer für den Thurgau auf der Matte», ob es um die Präsentation des Kantons an der Olma oder um die Qualifikation der Pfahlbauten zum Unesco-Welterbe geht: «Die Thurgauer sind viel weltoffener als die Basler», sagt der Basler Leuzinger, «hier hiess es noch nie, wir seien fremde Fötzel.» Dafür und für die grosszügigen Bedingungen, die sie geniessen, danken die Archäologen, indem sie ihre Arbeit immer zuerst den Thurgauern zeigen. So stellen sie den sensationellen Silberschatz aus dem Tägermoos gleich im Museum für Archäologie aus, das Urs Leuzinger leitet; erst dann schreiben sie die wissenschaftliche Publikation, «die auch im Münzkabinett in Paris gelesen wird».
Das bedeutet, wie Hansjörg Brem zusammenfasst: «Wir haben mitgearbeitet am Image, das der Thurgau heute hat – wir stiften Identität.» Was aber bringt die Arbeit der Archäologen dem Kanton konkret? Die Antwort auf diese Frage – die der Redaktor dem Reporter mitgab – ist so lang, dass sie einen weiteren Artikel braucht.
Weiterlesen: Teil 2 des Artikels können Sie hier lesen: Dort stellen wir Ihnen die wertvollsten Funde aus dem Thurgauer Boden vor.
Weitere Beiträge von Markus Schär
- Weshalb das Virus den Thurgau am wenigsten trifft (02.04.2020)
- Für Gotteslohn in der Textilfabrik (08.01.2020)
- Wie Peter Stamm sein Weinfelden sieht (07.11.2019)
- «Historiker sind keine Richter» (23.09.2019)
- Bohren nach dem Rätsel (11.06.2019)
Kommt vor in diesen Ressorts
- Wissen
Kommt vor in diesen Interessen
- Archäologie
Ähnliche Beiträge
Wachturm aus spätrömischer Zeit in Schlatt entdeckt
Ende Januar 2023 bestätigte eine Sondiergrabung eine durch Funde und Geländeaufnahmen ausgelöste Vermutung: Im Schaarenwald am Rhein liegen Reste einer weiteren Befestigungsanlage. mehr
Der grüne Faden
Das Archäologie-Museum in Frauenfeld widmet sich im Rahmen der Museumkooperation «Grüne Fürsten am Bodensee» der Rolle Napoleons III. als Archäologie-Förderer. mehr
#22aus22: Unsere besten Geschichten des Jahres
2022 geht zu Ende und wir blicken noch einmal zurück auf dieses Jahr: Mit den besten Texten aus unserem Magazin des Jahres. mehr