von Markus Schär, 08.01.2020
Für Gotteslohn in der Textilfabrik
Es herrschte ein Geist klösterlicher Zucht: Die Historikerin Verena Rothenbühler erforscht die Geschichte der Mädchenheime im Thurgau.
Auf ein Glockenzeichen mussten die Mädchen aufstehen, sich waschen und anziehen sowie das Bett machen, alles in Stillschweigen. Darauf folgte das gemeinsame Gebet, erst dann das Frühstück. Und auf ein weiteres Glockenzeichen mussten sich die bis zu hundert Insassinnen besammeln zum Marsch in Dreierkolonne durch das Dorf – nicht in die Kirche, sondern in die Fabrik.
«Der Geist, der im Mädchenheim herrschte, lässt sich wohl am besten als ‹klösterliche Zucht› beschreiben», sagt Verena Rothenbühler: Allerdings diente dies nicht dem Lob des Herrn, sondern dem Profit der Textilindustrie. Die freischaffende Historikerin, Vizepräsidentin des kantonalen Historischen Vereins, spürt gerne dem Verschwiegenen in der Vergangenheit nach. So schrieb sie die Geschichte der kantonalen Strafanstalt in der Komturei Tobel 1811-1973. Und so forscht sie seit zehn Jahren zu den Mädchenheimen für italienischsprachige Textilarbeiterinnen im Thurgau. Diese Arbeit stellte sie als «Museumshäppchen» im Historischen Museum vor.
«Die Haus- und Tagesordnung, an die sich die Mädchen strikt halten mussten, erinnert an den Tagesablauf in einer Kaserne.»
Verena Rothenbühler, Historikerin
Mädchenheime gab es in Arbon, Bürglen, Pfyn, Steckborn und Münchwilen sowie, als wohl bekanntestes, in Weinfelden: Das Marthaheim südlich des Bahnhofs, einst gleich neben der Stickerei Klauber, diente danach als Gewerbeschule und dient heute als Bildungszentrum für Gesundheit und Soziales. Wie bei den anderen dieser Häuser erinnert fast nichts mehr an den ursprünglichen Zweck. «Es gibt kaum Informationen zu diesen Einrichtungen», stellt die Historikerin fest, «und ihre Geschichte ist relativ schlecht erforscht.»
Bekannt ist in der Wirtschaftsgeschichte, dass im ausgehenden 19. Jahrhundert in der Ostschweiz, gerade auch im Thurgau, ein Boom der Stickerei herrschte. Aufgrund der technischen Revolution der Schifflistickmaschinen wuchsen grosse Fabriken heran, so in Arbon das Stickereiwerk Heine & Co mit bis zu 2000 Arbeitenden. 1910 war die Stickerei, die in den Kantonen St. Gallen, Appenzell und Thurgau über 60’000 Personen beschäftigte, denn auch das grösste Exportgeschäft der Schweizer Industrie.
Die Fabrikanten nutzten die Notlage der Mädchen aus
Dafür brauchten die Fabriken ausländische Arbeitskräfte; 1910 betrug deshalb der Ausländeranteil im Thurgau 19 Prozent (heute 25 Prozent). Und weil die Fabrikanten die Löhne drücken und Konflikte mit den kämpferischen einheimischen Stickern meiden wollten, holten sie immer mehr junge Mädchen, erst aus dem Tessin, dann vor allem aus Italien. Diese 14- bis 18-jährigen, die aufgrund der Notlage ihrer Familien den Lebensunterhalt oder die Aussteuer selber verdienen mussten, kamen als Arbeiterinnen in die Mädchenheime.
Geführt wurden diese «Marienheime» zumeist von Nonnen des Klosters Menzingen im Kanton Zug. In dessen Archiv stiess Verena Rothenbühler zufällig auf spannende Dokumente, vor allem zum bis 1963 betriebenen Heim in Münchwilen, dessen Insassinnen in der heute noch bestehenden Tüllfabrik arbeiteten: «Auch wenn in diesen Archivunterlagen vor allem die Perspektive der Obrigkeit, der Schwestern und der Fabrikherren, abgebildet ist, lässt sich daraus doch auch einiges über die Lebens- und Arbeitsbedingungen dieser jungen Fabrikarbeiterinnen in Erfahrung bringen.»
«Die Schwestern überwachten das religiös-sittliche Betragen der Mädchen und erzogen sie zu getreuer Pflichterfüllung, zu Tüchtigkeit, Sparsamkeit und Reinlichkeit.»
Verena Rothenbühler, Historikerin
«Die Haus- und Tagesordnung, an die sich die Mädchen strikt halten mussten, erinnert an den Tagesablauf in einer Kaserne», stellt Verena Rothenbühler fest. «Die Schwestern überwachten das religiös-sittliche Betragen der Mädchen und erzogen sie zu getreuer Pflichterfüllung, zu Tüchtigkeit, Sparsamkeit und Reinlichkeit.» Wenn die Arbeiterinnen nach zehn bis elf Stunden in der Fabrik in Dreierkolonne ins Heim zurückmarschiert waren, mussten sie den Haushalt besorgen, im Kochen, Nähen, Stricken und Flicken angelernt. Mit den Einheimischen durften sie keinen Kontakt aufnehmen; wenn sie durchs Dorf gingen, mussten sie den Rosenkranz beten. Und bei Betriebsfesten brachen die Nonnen mit ihnen auf, wenn der Tanz begann.
Für die strenge und meist monotone Arbeit, vor allem Wickeln von Spulen für die Webmaschinen oder Aufspannen von Tüll auf die Rahmen, gab es einen kargen Lohn: 29 Rappen in der Stunde, während die einheimischen Frauen einen durchschnittlichen Stundenlohn von 36 Rappen erhielten. Und vom Tageslohn von rund 3 Franken ging fast die Hälfte für Kost und Unterkunft im Heim weg. Noch billiger arbeiteten nur die Nonnen, die das Heim für ein jährliches Honorar von 300 Franken führten. «Es ist kaum übertrieben», meint Verena Rothenbühler, «hier von einem Himmelslohn statt einem irdischen Verdienst zu sprechen.»
In den 1960er Jahren wehrten sich die Mädchen gegen die Zustände
Auch die Dumpinglöhne halfen allerdings den meisten Fabrikanten nicht weiter, als die Stickerei nach dem Ersten Weltkrieg in die Krise rutschte. Die Stickerei Klauber in Weinfelden gab so schon 1924 auf. Das Marienheim in Münchwilen hielt sich im Thurgau am längsten. Doch 1964 wehrten sich «le ragazze del Marienheim» gegen die strenge Hausordnung der fast achtzig Jahre alten Nonnen, die das Heim führten; sie forderten mehr Essen und freien Ausgang. Die Leitung der Tüllfabrik, die ihre billigen Arbeiterinnen nicht verlieren wollte, übernahm deshalb die Führung, schloss das Heim aber noch im selben Jahr. «Die Zeit der Mädchenheime», weiss die Historikerin, «war in den 1960er-Jahren abgelaufen.»
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