von Markus Schär, 16.05.2019
Thurgauer mit langen Fingern
Woher der zweifelhafte Ruf des Thurgaus kommt, erklärt das Historische Museum in seinem Jahresprogramm «Bartli & Most. Landvögte im Thurgau» mit zahlreichen Veranstaltungen, so mit einem Referat des Historikers Peter Niederhäuser.
«Er ist Thurgauer, aber er praktiziert nicht mehr», pflegte der verstorbene Bundesrat Jean-Pascal Delamuraz zu scherzen, wenn er im Bundeshaus einen Politiker aus Mostindien vorstellte. Und der Volkswirtschaftsminister aus der Waadt, also ebenfalls aus Untertanenland, meinte damit, dass die Thurgauer als berüchtigte Langfinger angeblich alles zusammenklauten.
Wie kamen die Leute aus der einstigen Gemeinen Herrschaft zu diesem zweifelhaften Ruf? Das Historische Museum setzt sich in seinem Jahresprogramm unter dem Motto «Bartli & Most. Landvögte im Thurgau» mit dieser Frage auseinander. Und der Winterthurer Historiker Peter Niederhäuser gab an einem der Vorträge in diesem Zyklus Antworten. Ihre Geschichte als Untertanen mit schlechtem Leumund interessiert offenbar so viele Thurgauerinnen und Thurgauer, dass der Gerichtssaal im Schloss Frauenfeld das Publikum nicht zu fassen vermochte.
Der Thurgau als „Museum des Spätmittelalters“
«Die Verschweizerung des Thurgaus» hiess das Thema, die Frage lautete also: Wie ging die Macht im Land von den habsburgischen an die eidgenössischen Vögte über? Und: Wie viel Macht übten die Landesherren eigentlich aus? «Es gibt zu diesen Fragen bis heute kein Überblickswerk», stellte Peter Niederhäuser fest. Das ist schade, denn im Thurgau herrschten von 1460 bis 1798 einzigartige Verhältnisse, als «Museum des Spätmittelalters», wie der Zürcher Professor Hans Conrad Peyer gerne frotzelte.
Im Mittelalter galt der Thurgau – also das Gebiet südlich von Bodensee und Rhein, das im Westen über Winterthur hinausreichte – noch als ganz gewöhnlich, ja nicht einmal bemerkenswert. Die Gerichtsrechte übten Klöster wie Reichenau und Städte wie Konstanz aus, die Landesherrschaft die Kyburger, die das Städtchen Diessenhofen gegründet und die Burg Frauenfeld gebaut hatten. Als sie 1264 ausstarben, ging die Herrschaft an Rudolf von Habsburg über, also den späteren König.
Entscheidende Konsequenzen aus dem Konstanzer Konzil
Die Habsburger, mit Stammsitz im Aargau, wachten da schon über Gebiete vom Elsass bis ins Tirol; um den Thurgau kümmerten sie sich kaum. «Wir können nicht von einer drückenden Fremdherrschaft reden», stellte Peter Niederhäuser deshalb fest. Die Rechte der Landesherren nahm ein Stellvertreter wahr, der auch für den Aargau sorgte und deshalb in Baden sass. Und über «Blutfragen» urteilten die Landrichter in Winterthur: «Rechtlich gesehen, war es die Hauptstadt des Thurgaus.»
Das änderte sich 1415, als der Habsburger Friedrich IV. mit König Sigmund stritt und zusammen mit Papst Johannes XXIII. vom Konzil in Konstanz floh. Der König lud deshalb die Eidgenossen ein, in die Aargauer Stammlande der Habsburger einzufallen. Im Thurgau kaufte 1417 die Stadt Konstanz das Landgericht von Winterthur. 1424 dehnte die Stadt Zürich ihr Gebiet bis zur Kyburg und nach Andelfingen aus; deshalb wurde 1432 erstmals eine Grenze zwischen Zürich und Thurgau gezogen. Und 1460 fielen die Eidgenossen «in einer ungeplanten Eroberung» auch im Thurgau ein. Die Stadt Winterthur ergab sich nicht – «sonst», meinte der Winterthurer Niederhäuser, «wäre sie heute die Hauptstadt des Thurgaus.»
Auch als Untertanen der angeblich freiheitsdurstigen Eidgenossen litten die Thurgauer aber nicht unter einem schweren Joch. Über das alltägliche Zusammenleben wachten die Gerichtsherren in einem «Flickenteppich» von 132 Herrschaften, die Geistlichen wie dem Fürstabt von St. Gallen und dem Bischof von Konstanz, Städten wie Zürich (Weinfelden) und St. Gallen (Amriswil, Sulgen), Familien aus diesen Städten oder niederen Adligen wie den Herren von Arenenberg oder Bachtobel gehörten. Über den Gerichtsherrenstand liegen zwar die Dissertationen von Alt-Regierungsrat Hermann Lei und von Bruno Giger vor – aber eben: Vor allem für die Sozialhistoriker gäbe es in der Landvogtei Thurgau mit ihren besonderen Verhältnissen noch viel Spannendes zu entdecken.
Wie die Thurgauer zu ihrem zweifelhaften Ruf kamen
Geklärt ist immerhin die Frage, wie die Thurgauer zu ihrem zweifelhaften Ruf kamen. Die Landesherrschaft übte für die Eidgenossen der Landvogt aus, der im Schloss Frauenfeld sass. Dafür schickten die sieben Orte, die den Thurgau 1460 erobert hatten – Bern kam erst 1712 dazu –, im Zwei-Jahres-Turnus einen Vertreter nach Frauenfeld. Die Bewerber mussten dafür «kostbare Gastereien» für ihre Wähler halten oder ihnen gar «Entschädigungen» zahlen: Was wir heute als Bestechung sehen, galt damals als völlig normal. Immerhin lehnte die Tagsatzung 1655 die Wahl eines Glarner Landvogts ab, weil aufgrund des überrissenen «Promotionsgelds» für Landsleute und Staatssäckel zu erwarten sei, dass «dieses Geld wieder von den Unterthanen erpresst werde».
Denn die Landvögte mussten ihre Investition in nur zwei Jahren im Thurgau wieder hereinholen. Dafür dienten ihnen vor allem Bussen, etwa für Fluchen, Schwören oder Gotteslästern, denn zwanzig Prozent davon gingen als Einkommen an die Vögte. Diese rafften also zusammen, was ihnen in die langen Finger kam – und den Thurgauer Untertanen blieb nur ihr schlechter Ruf.
Termin: Eine besonderes Schlossführung zum Thema „Landvögte“ gibt es am Sonntag, 19. Mai, 15 Uhr, im Schloss Frauenfeld. Unter dem Titel „Kampf um das Landgericht in Frauenfeld“ beleuchtet Historikerin Claudia Sutter das Gerangel um die Macht im Thurgau ab 1460. Eine Anmeldung ist nicht nötig.
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