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von Markus Schär, 11.06.2019

Bohren nach dem Rätsel

Bohren nach dem Rätsel
Echolot-Aufnahme der Oberfläche von Hügel 5 durch den Hydrocrawler des Fraunhofer-Instituts. | © Christian Degel

Jetzt wissen die Archäologen: Die 170 Hügel im Bodensee zwischen Bottighofen und Romanshorn wurden von Menschen aufgeschüttet, wohl von Pfahlbauern in der Bronzezeit. Das grosse Rätsel aber bleibt: Wozu?

Die «Hügeli» im See schafften es sogar in die «Tagesschau» der ARD. Zwar liegen die Steinhaufen, von denen die Forscher bisher 170 fanden, am Schweizer Ufer des Bodensees, aufgereiht zwischen Bottighofen und Romanshorn. Aber die sensationelle Entdeckung machten Wissenschafter der Landesanstalt für Umwelt, Messungen und Naturschutz Baden-Württemberg, als sie vor vier Jahren mit hochpräzisen Instrumenten die Tiefe des Sees vermassen. Und die «Hügeli» faszinieren die Experten wie das Publikum weit über die Landesgrenze hinaus, denn sie geben uns Rätsel auf.

Wie kamen die Steinhaufen vier Meter unter dem Seespiegel zustande?, lautete die erste Frage, die sich die Forscher stellten. Durch Naturkräfte? Oder durch Menschenhand? Wenn der Gletscher, der in der letzten Eiszeit den heutigen Bodensee aushobelte, eine zufällig so regelmässig geformte Moräne hinterliess, müssten sie die Geologen untersuchen. Die Archäologen wollten ihnen dieses Problem gerne überlassen, denn sie wissen nach ihren zahlreichen Ausgrabungen von Pfahlbauersiedlungen nicht, dass der See je so tief lag. Selbst im Dürresommer 2018 fehlten immer noch zwei Meter, dass die Hügel am Ufer gelegen hätten. Urs Leuzinger vom kantonalen Amt für Archäologie scherzt deshalb: «Es muss irgendwo im See einen geheimen Stöpsel geben.»

Weltweit einzigartiger Prototyp eines Unterwasser-Georadar-Geräts der Technischen Universität Darmstadt, links der Sedimentologe Jens Hornung. Bild: Amt für Archäologie Thurgau, Urs Leuzinger

Steinhaufen liegen auf dicken Sedimentschichten

Dieses Rätsel zumindest kann jetzt als gelöst gelten. Denn letzte Woche forschte Professor Flavio Anselmetti vom Geologischen Institut der Uni Bern mit einem Team vor Ort: Am Ufer bei Uttwil bohrte es von einer schwimmenden Plattform aus und holte so mit fünf Bohrungen einen insgesamt fünfzehn Meter langen Kern heraus. «Das ist unser Geschichtsbuch», sagt der Geologe. Nach dem Höhepunkt der Eiszeit vor 22’000 Jahren zog sich der damals 600 Meter dicke Gletscher zurück; dabei hinterliess er die Moräne. Im flachen Uferbereich lagerten sich darauf Sedimente ab. Wer sie durchbohrt, kann also bis auf 18’000 Jahre zurück die Entwicklung des Sees und damit des Klimas herauslesen.

Die Frage, ob die Hügel durch Naturkräfte oder von Menschenhand entstanden, können die Wissenschafter jetzt zweifelsfrei beantworten: Die Steinhaufen liegen auf dicken Sedimentschichten; sie kamen also erst lange nach dem Rückzug des Gletschers zustande. Wann, kann Flavio Anselmetti derzeit noch nicht sagen. Dafür müssen die Forscher das Alter der Schichten unter und über den Hügeln bestimmen, indem sie mit der Radiokarbonmethode organische Rückstände in den Proben untersuchen. Erste Ergebnisse sollen im Herbst vorliegen; der Geologe verspricht dann eine Datierung «in einem Zeitfenster von 200 bis 300 Jahren».

«Ein grosses Rätsel ist das Beste, was Archäologen passieren kann.»

Urs Leuzinger, Archäologe 

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Bis dahin müssen die Archäologen weiter mutmassen, wer die 170 Hügel mit einem Durchmesser von 15 bis 30 Metern aufschüttete. Urs Leuzinger schliesst aus, dass es sich um eine Befestigung aus der Römerzeit handelt, weil es damals nichts zu befestigen gab: Die Grenze lag weiter nördlich an der Donau; der Bodensee war friedliches Hinterland. Der Archäologe glaubt, dass Pfahlbauer in der Bronzezeit vor rund 3000 Jahren das Werk schufen, und zwar an Land: «Ein solcher Hügel mit 500 Kubikmeter Steinen liess sich auch damals in einer Woche aufschütten – aber nicht von einem Einbaum aus. Und es ist undenkbar, dass sich die Menschen mit 170 Hügeln so abrackerten, obwohl man nachher gar nichts davon sah.»

Für die «naturwissenschaftliche Sensation, dass der Seespiegel einmal deutlich tiefer lag» gibt es denn auch eine überzeugende Erklärung. Der Bodensee samt Untersee wird von seinem Auslauf bei Stein am Rhein reguliert. Als der See nach der Eiszeit entstand, staute ihn die Moräne bei Hemishofen, vier Kilometer weiter westlich; er lag damals zwölf Meter höher. Dann durchbrach aber der Rhein die Moräne, und der Seespiegel sank deutlich ab. Er stieg erst wieder auf sein heutiges Niveau, als auf der Höhe von Eschenz zwei Bäche von Norden und von Süden eine neue Sperre aufschütteten.

Lage der regelmässig verteilten Steinstrukturen im Bereich Uttwil. Karte: swisstopo

War es eine Erinnerungsstätte zwischen Erde und Wasser?

Einige Probleme lassen sich also lösen, aber noch nicht das grosse Rätsel: Warum häuften Menschen in der Bronzezeit auf 170 Hügeln insgesamt 85’000 Kubikmeter, also rund 110’000 Tonnen Steine an? «Stonehenge am Bodensee» nannten die Medien die Hügelikette gleich nach ihrer Entdeckung. Aber Urs Leuzinger schliesst ein bronzezeitliches Observatorium wie in Südengland aus, weil sich kein Bezug zu einem Himmelskörper erkennen lässt. «Wenn Menschen etwas machen, was keinen Sinn hat, muss es eine kultische Bedeutung haben», meint der Archäologe. Er glaubt deshalb an eine Erinnerungsstätte, am Übergang zwischen Erde und Wasser.

Diese Vermutung lässt sich erhärten, wenn sich bei Grabungen in einem Hügel im Herbst Menschenknochen oder auch Holzkohlereste finden. Aber bis dahin «geht das Märchen weiter», wie Urs Leuzinger sagt. Ein grosses Rätsel, freute er sich im Interview für die ARD, «ist das Beste, was Archäologen passieren kann».

Weiterlesen: Mehr zur Archäologie im Kanton Thurgau gibt es auch in diesen beiden Texten:

Das Wertvollste aus dem Thurgauer Boden: Seit 150 Jahren kommen im Kanton Schätze ans Tageslicht, die bei den Forschern weltweit Aufmerksamkeit finden. Mit diesen Erfolgen spielen die fussball-verliebten Thurgauer Archäologen in der Champions League. Wir stellen die wichtigsten Funde vor und erklären, weshalb sie so wertvoll sind. 

Die Jäger der Thurgauer Schätze: Nach den Sommerferien bezogen sie schöne neue Büros. Die Thurgauer Archäologen geniessen im Kanton und auch weltweit eine hohe Wertschätzung – das verdienen sie sich seit einem Vierteljahrhundert. 

 

 

 

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