von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter, 15.06.2021
Die Vermessung des Thurgau
Wo steht der Kanton bei gesellschaftlichen Megatrends wie Individualisierung, Globalisierung, Ökologie und Geschlechtergerechtigkeit? Ein neues interdisziplinäres Festival will das im nächsten Jahr herausfinden. Mit dieser Idee bewerben sich Christine Müller Stalder und Thomas Studer um die Ratartouille-Gelder der Kulturstiftung. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)
Als der Architekt Richard Saul Wurman 1984 in Kalifornien die TED-Konferenz gründete, ging es ihm vor allem darum die Felder „Technology, Entertainment, Design“ (TED) zusammen zu bringen, innovative Ideen zu kreieren und konstruktive Vorschläge zur Verbesserung der Welt zu erarbeiten. Die Konferenz wurde zum Welterfolg, die auch heute noch regelmässig Denkanstösse für gesellschaftliche Entwicklungen gibt.
Jetzt, 37 Jahre später, könnte diese Idee auch im Thurgau ankommen. Allerdings etwas spielerischer, künstlerischer und weniger elitär als das grosse Vorbild aus den USA. „Thurgau fix“ heisst das Projekt mit dem sich die KunstvermittlerInnen Christine Müller Stalder und Thomas Studer um Gelder aus dem Ratartouille-Wettbewerb der Kulturstiftung bewerben. Das Gewinnerprojekt erhält 100’000 Franken.
Was die 12 Megatrends für den Thurgau bedeuten
Ziel bei „Thurgau fix“ ist es, die grossen gesellschaftlichen Fragen konkret am Beispiel des Thurgau zu beantworten. „Leitfaden sind für uns dabei die 12 Megatrends, die das Zukunftsinstitut definiert hat“, erklärt die im Thurgau aufgewachsene Müller Stalder die Idee hinter dem Projekt.
Das Zukunftsinstitut, ein Frankfurter Unternehmen, erkennt als Megatrends unter anderem Individualisierung, Globalisierung, Ökologie, New Work, Gesundheit, Mobilität und Geschlechtergerechtigkeit. „Unsere Idee ist, dass jede Festivalausgabe einen Themenschwerpunkt nach diesen Megatrends bekommt und wir dann die Situation im Thurgau darauf hin gemeinsam mit den Menschen vor Ort untersuchen“, sagt Thomas Studer.
Mitmachen, sich einbringen, gemeinsam etwas entwickeln
Kunst und Kultur sollen dabei als Seismographen dieser Entwicklung dienen. Denn, so heisst es in dem Dossier des Festivals, das Kunst- und Kulturschaffen im Kanton Thurgau werde reflektiert und vermittelt. Und: „Vermittlung wird dabei als integrierter Begriff und somit als kollaborative, künstlerisch und partizipative Praxis verstanden, die von Anfang an mitgedacht wird, organisch miteinfliesst und in den unterschiedlichsten Formaten zum Tragen kommt.“ So soll eine transdisziplinäre Auseinandersetzung in und mit der Gesellschaft gelingen.
„Wir wollen dabei nichts von oben aufpfropfen, sondern wir wollen die Fragen behandeln, die im Thurgau wirklich relevant und drängend sind“, sagt Christine Müller Stalder, die heute als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Kunstmuseum Basel arbeitet.
Es solle auch keine rein akademische Angelegenheit werden, vielmehr sollen die einzelnen im Festival geplanten Formate spielerisch die Themen angehen und auch Spass machen dürfen. Führungen, performative Formate und Workshops sollen sich zudem auch direkt an Kinder und Familien richten. „Die Ausgangslage ist extrem offen, es soll sehr vielseitig sein, keine Disziplin wollen wir ausschliessen“, ergänzt Thomas Studer.
Den Wandel begreifbar machen
Es klingt wie das perfekte Festival zum perfekten Zeitpunkt: Gerade jetzt nach der Pandemie gibt es das grosse Bedürfnis nach einer Standortbestimmung: Wo stehen wir? Wie leben wir miteinander? Wie wirtschaften wir? Wie gehen wir miteinander um? Und wollen wir nach den Erfahrungen der Pandemie daran vielleicht etwas ändern?
Gelänge es einem solchen Festival auf diese Weise, schon jetzt gesellschaftliche Trends der Zukunft zu erkennen und zu prägen, wäre das ein Coup. „Oberstes Ziel ist es, den Wandel begreifbar zu machen und Zukunft als Chance zu verstehen“, heisst es auf der Website des Zukunftsinstituts. Genau das ist die Grundhaltung des Festivals „Thurgau fix“.
Dem verheissungsvollen Ansatz stehen aber auch noch praktische Hürden gegenüber: Wie kann es gelingen, die hehre Idee in die Fläche zu tragen und gleichzeitig über die Dauer mehrerer Monate die Aufmerksamkeit für das Thema hochzuhalten?
Kooperationen sollen das Projekt tragen
Das Projekt setzt dafür stark auf Kooperationen: Über den gesamten Kanton verteilte PartnerInnen sollen dem jeweiligen Kernthema entsprechende Programmpunkte entwickeln. Ein Festivalzentrum wird es nicht geben, stattdessen wollen die InitiantInnen auf die Dezentralität des Kantons reagieren, in dem sie an verschiedenen Orten mit ihrem Festival auftauchen. Die Bündelung der verschiedenen Aktivitäten ist vor allem über eine Website als digitales Festivalzentrum geplant.
Die Frage ist: Kann das rein digital gelingen oder bräuchte es dafür nicht doch ein konkretes, begehbares Festivalzentrum? Fast noch schwieriger durchzusetzen: Die Aufmerksamkeit für ein Festival hochzuhalten, das nicht an zusammenhängenden Tagen, sondern an einzelnen Tagen über mehrere Monate verteilt stattfinden soll. „Wir sehen das auch als einen Knackpunkt, sind aber überzeugt, dass wir das lösen können. Regelmässige Kommunikation und digitale Formate wie Podcasts sollen das Projekt in den Zwischenräumen begleiten und Aufmerksamkeit schaffen“, sagt Christine Müller Stalder.
Ob das Projekt tatsächlich realisiert wird, darüber entscheidet am Freitag, 2. Juli, das Publikum im Theaterhaus Thurgau. Jeder, der dabei sein will, kann sich noch bis zum 25. Juni anmelden - per Mail an ratartouille@kulturstiftung.ch
Der Wettbewerb Ratartouille und die drei Finalisten
Mit der Ausschreibung des Wettbewerbs «Ratartouille» will die Kulturstiftung des Kantons Thurgau ein neues Festival initiieren.
Ziel des neuen Formats ist es unter anderem, verschiedene Sparten wie Kunst, Musik, Theater, Tanz, Literatur, Fotografie miteinander zu verbinden und Kulturschaffende im und aus dem Thurgau mit weiteren AkteurInnen zu vernetzen. Für Stefan Wagner, Beauftragter der Kulturstiftung, ist das Modell auch ein Versuch, neue Wege in der Kulturförderung zu gehen. Denn: Erstmals wird auch das Publikum in den Entscheidungsprozess eingebunden. Nach einer Vorauswahl einer Fachjury soll das Publikum an einer Abendveranstaltung im Juli 2021 das letztliche Sieger-Projekt küren. „Mit diesem Ansatz wollen wir auch eine Diskussion über Kulturförderung insgesamt anstossen“, erklärt Stefan Wagner.
Nach einer ersten Vorauswahl hat sich die Jury im März für drei Projekte entschieden, die im Finale am 2. Juli gegeneinander antreten. Bei einer öffentlichen Veranstaltung im Theaterhaus Thurgau können die ZuschauerInnen über das Gewinnerprojekt entscheiden. Der Poetry-Slamer und Kulturvermittler Richi Küttel führt durch den Abend. Details zum Wahlverfahren sollen erst an der Publikumsveranstaltung bekannt gegeben werden.
Anmeldung fürs Finale: Wer dabei sein will: Interessierte können sich noch bis zum 25. Juni per E-Mail mit Angabe des Vornamens und Namens auf ratartouille@kulturstiftung.ch für eine Teilnahme anmelden. Übersteigt die Anzahl Anmeldungen die Platzzahl, werden die Plätze ausgelost. Die Kulturstiftung will rechtzeitig über die definitive Anmeldung informieren.
Neben dem oben beschriebenen Vorhaben „Thurgau fix“ sind die weiteren Bewerber:
In Egnach ist unter dem Namen „Kultur im Tankkeller“ ein grosses interdisziplinäres Festival in der alten Mosterei Egnach geplant. Von März bis Ende Mai 2022 soll es jeweils von Donnerstag bis Sonntag Auftrittmöglichkeiten für lokale Bands, Kleinkunst und familienfreundliche Unterhaltung ebenso geben wie Installationen, Performances, Lesungen und Konzerte internationaler KünstlerInnen. Mehr zum Projekt gibt es hier.
Unter dem Titel „Promenaden“ haben Kunstraum-Kurator Richard Tisserand und der Künstler Reto Müller ihr Projekt eingereicht. Sie planen „in wechselnder Konstellation Formate, Veranstaltungen, Ausflüge und Besuche durch den kulturellen Thurgau für ein generationendurchmischtes Publikum“, beschreibt die Kulturstiftung diese Idee. Eine ausführliche Vorstellung folgt in den nächsten Tagen.
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