von Inka Grabowsky, 09.09.2020
Heim-Lesung statt Homeoffice
Das zwölfte Literaturwochenende am Untersee findet statt. Am 19. und 20. September lesen wieder AutorInnen in historischen Häusern von Tägerwilen bis Steckborn.
Das Leitungsteam des kleinen Festivals, Barbara und Felix Müller und Irene von Ballmoos, wagt es. Mitte Juli haben sie endgültig entschieden, das Literaturwochenende wie geplant durchzuführen. „Uns ist wichtig, dass es kontinuierlich stattfindet“, sagt Felix Müller. „Das Programm stand schon seit Februar. Die Autoren hatten zugesagt, und waren auf Nachfrage immer noch bereit, zu kommen. Unser Stammpublikum hat uns gebeten, die Lesungen zu machen. Also haben wir ein Sicherheitskonzept aufgestellt und freuen uns nun auf den 19. und 20. September.“
Dazu zählt: Niemand darf spontan kommen, sondern jeder muss sich telefonisch oder per Mail anmelden. Das Geld für den Eintritt muss man abgezählt mitbringen. Beim Apéro gibt es einzeln abgefüllte Portionsschälchen, damit alles hygienisch abläuft. Mit einem Drittel weniger Zuschauer rechnen die Organisatoren, weil sie jedem Einzelnen mehr Platz einräumen. Die Mindereinnahmen, die entstehen dürften, werden aus Reserven oder aus Spenden wenigstens zum grössten Teil gedeckt.
Gastgeber mit Verantwortungsbewusstsein
Tabea Steiner liest am 19. September, am Samstagnachmittag, im „Haus zur Glocke“ in Steckborn bei Judit Villiger aus ihrem Debütroman „Balg“, der vergangenes Jahr erschien und für den Schweizer Buchpreis nominiert wurde. Der Stoff ist ernst: Sie beschreibt das Scheitern einer Beziehung, das Platzen des Traums vom Familienidyll auf dem Land, die Nöte eines vernachlässigten Jungen und die Ausgrenzung aus dörflicher Gemeinschaft.
Judit Villiger ist überaus glücklich mit der ihr zugeteilten Autorin. „Ich habe ja nichts mit der Programmierung zu tun, aber ich habe mir eine junge Literatin gewünscht, die Dinge ausprobiert und die Sprache als Material begreift, um sich auszudrücken. Das passt zum Konzept des Hauses zur Glocke und macht es mir leicht, hinter der Veranstaltung zu stehen.“
Die Einschränkungen, die die Corona-Pandemie mit sich bringt, trägt Villiger bereitwillig mit. „Ich finde es positiv, dass das Literaturwochenende durchgeführt wird. Angst habe ich keine, aber ich fühle mich verantwortlich. Unser Schutzkonzept ist so gut durchdacht, dass wir es verantworten können.“
Reinhören: Eine Geschichte von Tabea Steiner
Viel Platz auf „Breitenstein“
Jens Koemeda pflichtet ihr bei. Er hatte mit seiner Frau das Literatur-Wochenende zehn Jahre geleitet und steht nach seinem Rückzug immer noch als Gastgeber zur Verfügung. „Felix Müller hat zur Vorbereitung alles genau ausgemessen, so dass zwischen den Stühlen und zwischen den Reihen ein ausreichender Abstand eingehalten werden kann. Ich bin froh, dass wir so engagierte Nachfolger mit guten organisatorischen Fähigkeiten gefunden haben.“
Sollten sich sehr viele Menschen für die Lesung am Samstagabend anmelden, könnte man immer noch vom Kaminzimmer auf „Breitenstein“ ins grosse Kellertheater ausweichen. „Wir müssten nur die eingelagerten Gartenmöbel herausräumen und ein wenig putzen.“ Auf seinen berühmten Gast Lukas Hartmann freut sich Jens Koemeda besonders: „Ich schätze Lukas Hartmann als guten Autor mit historischen Themen und freue mich, ihn jetzt auch persönlich kennenzulernen.“ Hartmann liest aus seinem Roman „Der Sänger“, der die Flucht eines jüdischen Tenors vor den Nazis beschreibt. Der kranke und verängstigte Mann lässt im Wagen eines Schleppers sein Leben Revue passieren.
Ranisch freut sich über das Engagement
Am Sonntagvormittag, 20. September, gibt Volker Ranisch im „Alten Debrunner-Haus“ in Ermatingen einmal mehr seinen „Felix Krull“ von Thomas Mann. „Das war ein gegenseitiger Wunsch von den Veranstaltern und von mir“, sagt der Schauspieler „Wir wollten etwas anbieten, mit dem man für kurze Zeit einmal an etwas anders denken kann als nur an Corona. Ausserdem freue ich mich immer, den Menschen grossartige Stoffe in Erinnerung zu bringen. Der Auftritt bietet mir eine wunderbare Gelegenheit, den Felix Krull im Repertoire zu behalten.“
Fast 100 Tage habe er nicht auftreten können und müsse nun alle verschobenen Termine nach und nach aufarbeiten. „Ich geniesse jede Möglichkeit, wieder unter die Leute zu kommen. Im Oktober gibt es deshalb einem Romantikabend in ‚Breitenstein‘ und im November einen Auftritt mit ‚Via Mala‘ im Phönix-Theater.“
Zum Literaturwochenende am Untersee, dass er einige Male selbst mitprogrammiert hat, kommt er mit besonderem Vergnügen: „Es ist eine dieser wunderbaren Einrichtungen, die auf privatem Engagement von Bürgern beruht, die selbst etwas organisieren. Das ist eine grossartige Eigenart in der Schweiz, bei der ich gerne mitmache.“
Helle und Seglitz am Sonntag
Nachmittags können sich Literaturfans von Heinz Helle „Die Überwindung der Schwerkraft“ im „Haus zum Gries“ in Berlingen vorlesen lassen. Zwei Brüder diskutieren auf einer Kneipentour über Leben und Sterben, was sich einige Monate später als überaus prophetisch erweist. „Die Überwindung der Schwerkraft“ ist der dritte Roman des 41-Jährigen, mit dem er 2018 auf die Shortlist des Schweizer Buchpreises kam und für den er den Förder-Literaturpreis der Stadt Bremen bekam.
Abends schliesslich kommt Katrin Seglitz nach Tägerwilen ins „Alte Primarschulhaus“. Sie präsentiert ihren Roman „Schweigenberg“, in dem das Unrecht der DDR-Justiz thematisiert wird. Ein Böttcher, der wegen versuchter Republikflucht zu drei Jahren Gefängnis verurteilt wurde, trifft zufällig seinen Richter wieder und rächt sich.
Eine Mail von Katrin Seglitz
„Seit fünfundzwanzig Jahren lebe ich in Ravensburg, einen Katzensprung vom Bodensee entfernt“, schreibt Seglitz in einem Mail an die Redaktion. „Und wenn ich springe, dann meistens ins Lindenhof Strandbad bei Bad Schachen (...). Am schönsten ist der Blick auf die Berge, die österreichischen und die Schweizer Berge. Das ist meine Horizontlinie, gewellt, gebirgig und vielversprechend. Eine Fahrt auf die andere Seite des Sees ist eine Reise in eine andere Welt, auch wenn sie nicht lange dauert. In Tägerwilen fühlt sich das Leben anders an. Der See ist anders, der Blick, die Sprache, die Menschen. Ich habe das Gefühl, hier kann man sich mehr Zeit nehmen. Hier ist man nicht ganz so unter Druck wie in Deutschland. Hier kann man seinen Gefühlen und Gedanken in Ruhe nachgehen. In der Schweiz zu sein, schmeckt nach Schokobirrenuss. Ich freue mich, dass die Lesungen stattfinden können. Ich mag das dreidimensionale, sinnliche Leben lieber als das Leben online, zu dem wir während des Lockdowns verdammt waren.
Was ist ein Buch ohne eine Leserin, einen Leser? Nichts. Ich freue mich schon auf die Gespräche, die nach den Lesungen stattfinden. Und bin den Gastgeberinnen und Gastgebern dankbar, dass sie diese Tage der Begegnung und des Austausches möglich machen.“
Von Inka Grabowsky
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